E-Book, Deutsch, 112 Seiten
Aitmatow Aug in Auge
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30744-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählung
E-Book, Deutsch, 112 Seiten
ISBN: 978-3-293-30744-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.
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Es dauert nicht mehr lange, der Frühling ist ja schon da! Ich habe viel erduldet, nun werde ich es noch ganz durchstehen!, dachte Sejde, während sie die Körner von einer Hand in die andere rieseln ließ. Wenn ich nur Ismail durchbringe! Gut, dass man im Ail erzählt, er verstecke sich nicht hier, sondern auf der kasachischen Seite, bei seinen Leuten. Mögen sie bei dem Glauben bleiben! Wir verkaufen das Kalb und verschwinden zur Nachtzeit aus dem Ail, gehen weg, ja, weg von hier. Die laue Frühlingsluft machte trunken. Und es war schön, zu träumen und zu vergessen, was einem das Herz schwer machte.
Am Abend, als Sejde Talkan mahlte, kam Assantai herüber. Der Junge war in der letzten Zeit merklich abgemagert. Er hatte Schatten unter den Augen, und aus den aufgekrempelten Ärmeln der väterlichen Jacke ragten dünne Ärmchen.
»Mama schickt mich, ich soll Feuer holen«, sagte er, verlegen von einem Fuß auf den anderen tretend, mit einem schrägen Blick auf das Häufchen Talkan neben dem Mühlstein.
Kinder sind Kinder. Wen rührt nicht der unschuldige Blick eines Kindes, der flehend verrät, dass es Hunger hat! Sejde füllte die kleine hohle Hand mit Talkan. Der Junge warf den Kopf zurück, schüttete alles auf einmal in den offenen Mund und schnaufte höchst zufrieden. Er wollte Sejde danken, ihr etwas Gutes sagen, und lächelte sie mit seinen talkanbeschmierten Lippen zutraulich an.
»Tante Sejde, wenn unsere Kuh kalbt und Mama uns Erstmilch kocht, dann bringe ich eurem Amantur ein bisschen. Er kann doch schon essen, nicht? Erstmilch schmeckt gut, wie Quark!«
»Du mein lieber Junge, mögen deine Wünsche in Erfüllung gehen!« Sejde zog ihn gerührt an sich und küsste ihn auf die Augen. »Gott wird es geben, dass ihr Erstmilch habt und auch Sahne, wenn nur erst die Kuh gekalbt hat. Und dann bringst du unserem Jungen was, er hat ja schon Zähne!«
Sie dachte daran, dass Totoi und ihre Kinder immer noch nichts vom Tod ihres Ernährers wussten, dass sie immer noch auf Briefe warteten. Ihr war, als könne der Junge ihre Gedanken erraten, und sie fragte beiläufig: »Geht es deiner Mutter besser? Ich glaube, sie ist gestern nach Wasser gegangen.«
»Heute liegt sie wieder, der Kopf tut ihr weh. Ich wollte zu Hause bleiben, um ihr zu helfen, aber sie hat es nicht erlaubt, sie sagt: ›Wenn du nicht in die zweite Klasse versetzt wirst, dann schimpft Vater, wenn er zurückkommt.‹«
»Na, und ob! Natürlich schimpft er. Stell dir vor, er kommt nach Hause, und du …«
Der Junge senkte seine langen Wimpern und ließ einen recht unkindlichen verzweifelten Seufzer hören.
»Was ist denn das? Wie kann man denn so seufzen!«, rief Sejde. »Euer Vater kommt wieder, du darfst nicht so seufzen, das ist nicht schön!«
Später, nachdem der Junge mit einem Stück Glut gegangen war, saß sie lange vor der Mühle, die Hände kraftlos im Schoß. Der Seufzer des Jungen hatte sie erschüttert. Er war noch klein, aber er verstand schon alles.
Armes Waisenkind!, dachte sie bedrückt. Und Totoi ahnt es natürlich auch, sie schweigt nur. Was soll sie auch tun, die Ärmste? Versuche mal einer, drei Kinder ohne Vater durchzubringen! Der Kolchos hilft ein bisschen, aber nur gerade so viel, dass sie nicht hungers sterben. Neulich hat Totoi vom Speicher einen halben Sack Hafer nach Hause gebracht, immerhin besser als gar nichts. Ihre einzige Hoffnung ist jetzt die Kuh. Sie muss bald kalben, aber es zieht sich immer noch hin, offenbar ist sie im vergangenen Sommer zu spät zugekommen. Totoi schimpft ja oft morgens auf dem Hof. »Du verdammtes Biest!«, schreit sie. »Wie lange sollen wir denn noch warten, wann willst du endlich kalben? Die Kinder sind schon ganz heruntergekommen, sie brauchen Milch, aber dich kümmert das nicht, du stehst nur herum und frisst!«
Es stimmt schon: Wenn sie erst mal Milch haben, dann ist es nicht mehr so schlimm. Aber wie wird das Leben bei ihnen jetzt weitergehen? Totoi kränkelt in letzter Zeit. Schade um Baidaly. Er hat sich selbst auf die Mine geworfen, er hat gewusst, dass es sein Tod sein würde, und es trotzdem getan. Das hat ihm sein gutes Herz eingegeben. Schicksal. Nun gut, irgendwie werden sie weiterleben, die Kinder werden heranwachsen. Natürlich ist es schwer. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, sie das ihre und wir das unsere. Wir gehen ja an den Tschatkal, vielleicht wird es dort leichter. Einmal hat Totoi mich so nebenbei gefragt: »Stimmt es, dass Ismail geflohen ist?« Was sollte ich ihr antworten? »Ich weiß nicht, vielleicht; hier bei uns war er jedenfalls nicht.« Ob sie es geglaubt hat? Hauptsache, er gerät Myrsakul nicht unter die Augen. Myrsakul kennt kein Mitleid, er ist ein Feind! Gott bewahre uns vor Myrsakul!
Lange saß Sejde noch so da, in schwere Gedanken versunken. Sie wurde von Minute zu Minute unruhiger. Der unkindliche Seufzer des Jungen und seine hungrigen, bittenden Augen gingen ihr nicht aus dem Kopf. Ein Vorgefühl kommenden Unheils quälte sie. Sie trat hinaus auf den Hof. Das Wetter hatte sich gegen Abend verschlechtert. Nasskalter Wind trieb vom Westen Wolken heran, die düster am Himmel dahinzogen. Die Berge waren schon nicht mehr zu sehen. Der Mond lief gegen den Wind an, doch er traf immer wieder auf Wolken, die ihn behinderten. Mal verschwand er ganz, dann wieder schimmerte er matt hinter einer dunklen Wolkenschicht hervor. Es wird bald wieder schneien. Was Ismail wohl jetzt macht?
Am nächsten Morgen ging Sejde nach Wasser. Die Wolken bedeckten schon den ganzen Himmel. In großen Flocken fiel nasser Frühjahrsschnee. Sie trat eben aus der Gartentür, da hörte sie in Totois Hof Geschrei und weinende Stimmen. Auf der Straße sprengten Reiter im Galopp durch den Schneematsch. Was mag dort geschehen sein?, dachte Sejde bestürzt. Sie warf die Eimer hin und lief hinüber. Die Totenklage für Baidaly sollte doch erst im Herbst sein! Hatte etwa jemand geplaudert?
Sie rannte um die Mauer herum und in den Hof. Erschüttert blieb sie stehen. Totoi löste sich aus der lärmenden Menge. Ihre Haare waren zerzaust, ihr Mantel, den sie nur halb angezogen hatte, schleifte auf der Erde. Sie lief zur Stalltür und schrie durchdringend, sich an die Brust schlagend: »Hier, liebe Leute, hier, seht her: Jemand hat das Schloss abgerissen und sie weggeführt! O dieses Unglück, Gott hat mich gestraft!«
Jemand schrie laut, um das Stimmengewirr zu übertönen: »Hast du sie gestern Abend selbst angebunden und die Tür zugeschlossen?«
»Aber natürlich, liebe Leute, mit meinen eigenen Händen! Ich habe sogar ihr Euter befühlt, es war schon was drin. Die Kinder sind nur noch Haut und Knochen, wir haben so sehnlichst auf die Milch gewartet! Wie sollte ich da nicht für unsere gute Kuh sorgen, obgleich ich krank war! Die Hände müssten mir doch verdorren!«
Als Sejde begriffen hatte, was geschehen war, erschrak sie zutiefst. Sie dachte daran, wie Assantai am Abend zuvor zu ihr gekommen war und wie er von der Erstmilch gesprochen hatte, auf die er gewartet hatte wie auf ein Wunder im Märchen. Noch jetzt sah sie ihn vor sich, abgemagert, mit dünnem Hals, in der Wattejacke seines Vaters, die zerlumpten Ärmel aufgekrempelt. So hatte er dagestanden und sie mit seinen talkanbeklebten Lippen zutraulich angelächelt.
Wer kann so etwas tun, welch niederträchtiger Schuft?, dachte Sejde empört. Nasse Schneeflocken fielen auf ihr Gesicht, rannen ihr den Hals herunter, doch sie stand wie angewurzelt. Sie sah, wie sich Totois Kinder heulend an den Mantel ihrer Mutter hängten. Der Kleinste war offenbar aus dem Bett auf den Hof gerannt. Er lief seiner Mutter in dem Schneematsch barfuß nach und schrie voller Angst: »Mama, Mama!«, doch Totoi schien ihn nicht zu bemerken; sie irrte wie besessen im Hof umher und schrie mit heiserer, überschnappender Stimme: »Wenn Baidaly zu Hause wäre, hätte es kein Dieb gewagt, in den Hof einzudringen! Verflucht sei ein Haus ohne Mann!«
Das Kind wird sich zu Tode erkälten, es ist ja schon ganz blau!, dachte Sejde. Sie wollte eben zu ihm eilen und es auf den Arm nehmen, doch da trat Kurman aus der Menge. Er hielt den Kleinen fest, warf schweigend einen Blick auf die roten, mit Schnee und Schmutz behafteten Kinderfüße und band rasch seinen Gürtel auf. Dann hüllte er den Jungen in seinen Mantel, wärmte ihn in seinen Armen und nahm ihn mit sich. Jemand hob den zur Erde gefallenen Gürtel auf und wischte ihn sorgsam mit dem Ärmel ab. Als Kurman an Sejde vorbeiging, sah sie, wie er das Kind an seine Brust drückte und es mit seinem Atem wärmte.
»Wir nehmen euch alle drei in unsere Häuser auf, wir ernähren euch und ziehen euch groß, ihr sollt nicht verlassen sein!«, sagte er vor sich hin. Sein nasser Bart zitterte, in seinen Augen standen Tränen.
Fast der ganze Ail war in Totois Hof versammelt. Eine unerhörte Tat! Zwar war es auch früher vorgekommen, dass man aus einem Hof Kühe oder Schafe gestohlen hatte. Doch diesmal waren die Leute nicht nur zusammengelaufen, weil ein Stück Vieh verschwunden war, sondern weil der Dieb an das Heiligste für jeden Ailbewohner gerührt hatte. Wer hatte es gewagt, sich an Baidalys verwaister Familie zu vergreifen?
Die Menschen auf dem Hof schwiegen bedrückt, doch im Herzen eines jeden klangen Verwünschungen auf. Myrsakul war schon mehrmals vor dem Hof hin und her geritten, hatte sich in den anderen Straßen umgesehen und kehrte schließlich mit dem Pferdehirten Barpy zurück. Wie ein...