al-Atawna | Keine Luft zum Atmen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 172 Seiten

Reihe: Lenos Babel

al-Atawna Keine Luft zum Atmen

Mein Weg in die Freiheit
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-85787-996-8
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mein Weg in die Freiheit

E-Book, Deutsch, 172 Seiten

Reihe: Lenos Babel

ISBN: 978-3-85787-996-8
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Asmaa ist die Tochter einer Beduinenfamilie, die seit Jahrzehnten im Flu¨chtlingslager in Gaza lebt. Das selbstbewusste, rebellische und bisweilen zornige Mädchen sucht stets Schlupflöcher, um der konservativen Gesellschaftsordnung zu entkommen und im Geheimen ein wenig frei zu sein. Als Achtzehnjährige beschließt sie, dieses patriarchalische und politische Gefängnis zu verlassen, und gelangt mit der Hilfe eines spanischen Fotografen nach Barcelona. Doch bald muss sie wieder ausbrechen, um nicht erneut in die Abhängigkeit von einem Mann zu geraten. Ihre Reise endet in Frankreich, wo sie sich langsam ein neues, eigenständiges Leben aufbaut.

Asmaa al-Atawna entzieht sich bewusst den Stereotypen des Nahostkonflikts, der den Hintergrund ihrer Geschichte bildet. Vielmehr erzählt sie in dieser mutigen Autofiktion mit erfrischender Vitalität, mit Humor und ohne Pathos von ihrem persönlichen Kampf fu¨r die Freiheit.

al-Atawna Keine Luft zum Atmen jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


I
Wenn ich meine Mutter zu Details meiner Geburt befrage, gibt sie stets zur Antwort: »Aaaach, was soll ich dir da schon erzählen? Als du auf die Welt gekommen bist, hat es aus Kübeln geregnet, und die Kanalisation im Quartier ist übergelaufen!« Dann hört sie auf zu sprechen, wie um sich den Schrecken jenes Moments zu vergegenwärtigen. Nie gelingt es mir, sie zum Weiterreden zu bringen und mehr zu erfahren. Wären da nicht unsere geschwätzigen Nachbarn, ich würde viele, teils widersprüchliche Details meiner Geburt nicht kennen. Alle Erzählungen stimmen trotz einiger Differenzen darin überein, dass ich im Schudschaîja-Viertel im Gazastreifen geboren und knapp vor dem Ertrinken gerettet worden bin, und zwar in einer Nacht des Unglücks. Mein Vater mietete ein Zimmer bei al-Sakakîni, nachdem all seine Kinder nach Amerika ausgewandert waren. An jenem Tag zogen die Leute des Viertels sich erst spät in ihre Höhlen zurück. Nur Abu Ibrahîms Esel stand noch auf der schlammigen Strasse, angebunden an der Türschwelle neben dem kleinen Fenster unseres Zimmers. Die Hebamme Umm Raschîd rannte in Begleitung von Abi Talhath los. Während sie damit beschäftigt war, mich herauszuziehen und meine Mutter von den Schmerzen zu erlösen, erhoben sich die klagenden Stimmen der Leute im Viertel, weil die Kanalisation nun auch noch in den Badezimmern übergelaufen war. Sie versammelten sich vor Abu Ibrahîms Haus, damit er ihnen bei der Reinigung half, während sie mit kleinen Laternen in den Händen die Strasse beleuchteten. Er verkaufte Clorox und Salpetersäure. Damit reinigten die Leute des Viertels nach Erledigung des Geschäfts den Abfluss ihrer Toiletten. Abu Ibrahîm befestigte den Esel am hölzernen Wagen und machte der Reihe nach die Runde bei den Häusern, um die Kanalisationsrohre zu säubern und zu putzen. Zur gleichen Zeit beeilte sich die Hebamme Umm Raschîd, mich zu retten, weil sie gesehen hatte, dass die Nabelschnur sich mir um den Hals gewickelt hatte und ich aus Sauerstoffmangel schon blau angelaufen war. Ein Klaps auf mein weiches Fleisch war es, der mich erlöste. Das Blau verwandelte sich in Rot. Ich schrie los, so dass der Esel, der während meiner ganzen Geburt nicht aufgehört hatte zu iahen, endlich verstummte. Vater stiess die Tür auf, als er meinen Schrei hörte. »Los, her mit der guten Nachricht!« »Lob sei Gott! Er hat dich mit einer vierten Braut beschenkt, möge sie gross werden in deiner Obhut!« Vater runzelte die Stirn, sein Blick verfinsterte sich. Er trat aus dem Zimmer, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und konnte das Unglück, das ihn getroffen hatte, nicht fassen. Er hatte eine Frau geheiratet, die nichts als Mädchen zur Welt brachte. An jenem Tag war Mutter bereit, etwas mehr über meine Geburt preiszugeben, doch Grossvater Harb bin Abi Dhijâb lachte über alles, was sie sagte, und fiel ihr ins Wort: »Bei Gott, das Unglück hat uns seit dem Tag, an dem du zu uns gekommen bist, nicht mehr verlassen!« Er erzählte uns in allen Einzelheiten von jenem schicksalhaften Tag, an dem er, ein Beduine aus der Wüste Negev, im Namen seines einzigen Sohnes um die Hand meiner Mutter Hind, einer Bäuerin aus dem Dorf, angehalten hatte. Diese Geschichte erzählt er uns noch öfter als die Geschichte, wie er von seinen Ländereien vertrieben worden war und Grossmutter al-Qatawîja Hadbâ auf dem Fussmarsch vom Negev nach Gaza den Verstand verloren hatte. Grossvater stellte eine kupferne Teekanne auf den Ofen, der im Wohnzimmer brannte, wo er mit Grossmutter schlief. Er liess den Tee kochen, bis er dunkel und bitter wurde. Wir hörten das Holz knistern und wie er den Deckel der Kanne hob und Tee in ein kleines Glas goss. Er goss den Tee zurück in die Kanne und wiederholte den Vorgang, bis er sich eingedickt und am Boden des Glases abgesetzt hatte. Dann trank er ihn und nahm die Geschichte wieder auf. Er erzählte von seinem Entschluss, zu unserem anderen Grossvater Salâch Abu Schanab zu gehen und um die Hand einer seiner Töchter anzuhalten. Grossvater Abu Schanab sah in der Verheiratung meiner Mutter – und sei es mit einem Sabaawi-Beduinen aus Beerscheewa – die ideale Lösung, einen weiteren hungrigen Magen loszuwerden, der ihm täglich seine Armut und seine Misere vor Augen führte. Grossvater Harb bin Dhijâb seinerseits bestand darauf, meinen Vater so schnell wie möglich unter die Haube zu bringen, und sei es mit einer Bäuerin aus dem Dorf. Er hatte nämlich Verdacht geschöpft, dass er den Frauen des Dorfes nachspionierte, wenn sie badeten. Grossvater verfluchte den Tag, an dem er sich auf dem Weg zu Abu Schanabs Haus verlaufen hatte und auf al-Bilbaisi, den Ladenbesitzer, getroffen war. »Du nimmst den Sandweg rechts vom Laden und gehst geradeaus«, sagte dieser, »von dort aus siehst du die Busse, die zur Grenze fahren. Sie sind mit dem Ziel Abu Ailba angeschrieben. Du gehst etwa 200 Meter, und sobald du die Rosen riechst, die in al-Dschûris Garten stehen, gehst du noch ein Haus weiter, und schon stehst du vor der Tür.« Grossvater hielt einen Moment inne, um etwas Tee zu schlürfen, und erhob seine Augen und seinen Zeigefinger zum Blechdach. Er stellte die Tasse auf das Aluminiumtablett. Ich und meine Schwestern hüllten uns in Schweigen. Wir starrten in sein ausgezehrtes braunes Gesicht mit den grossen honigfarbenen Augen und auf seinen hervorstehenden Kehlkopf. Gebannt lauschten wir jeder Einzelheit und lachten über seine Art, sich über Mutter und ihre Familie lustig zu machen und seinen Spott mit ihnen zu treiben. Grossvater hatte mit der Hand an das grosse Eisentor geklopft. Zehn Minuten wartete er vergeblich, dass jemand aus der Familie meiner Mutter kommen und ihn begrüssen würde. Wieder klopfte er an das Tor, diesmal noch fester, damit Abu Schanab ihn hören musste. Bald darauf hörte er seine schweren Schritte, die sich dem Tor näherten. Die grünen Blätter der Hecke beiseitebiegend, die die Löcher im Tor verdeckten und Besucher von verstohlenen Blicken abhielten, schauten seine zwei Augen hinter dem Eisenzaun hervor, um sich das Gesicht des Ankömmlings genau anzusehen. »Wer ist da?«, fragte er. »Gibt es ein Problem?« »Alles in Ordnung, Gott sei Dank. Ich bin Nachbar Harb bin Dhijâb. Möge Ihnen nur Gutes widerfahren.« Abu Schanab steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn hin und her und zog das Tor schliesslich auf. Ausführlich prüfte er, was für ein fremder Mann hier auf der Türschwelle stand. Er betrachtete den mageren Körper, die graue Dschallabija und die feine schwarze Kordel, die die weisse Kufija zusammenhielt. »Bitte, herzlich willkommen«, sagte er. »Sehr gütig.« Abu Schanab hatte die Angewohnheit, seine Gäste auf dem Sitzplatz vor dem Haus zu empfangen. Dort löste er Probleme und ordnete schwierige Angelegenheiten. Der Sitzplatz überblickte einen kleinen Garten und war mit getrockneten Palmblättern bedeckt. An den Holzpfählen rankten Damaszener Jasminrosen. Er bat den Gast, auf einem handgefertigten Bambusstuhl Platz zu nehmen. Alle Skepsis in Abu Schanabs Zügen angesichts des rätselhaften Besuchs verflüchtigte sich, als Grossvater Abu Dhijâb seine Bitte vorbrachte: »Lieber Bürgermeister, ich komme gleich zur Sache. Ich bin hier, um im Namen meines Sohnes um die Hand einer Ihrer Töchter anzuhalten.« Grossvater Abu Schanab war entzückt. Sogleich aber setzte er wieder ein möglichst strenges Gesicht auf, runzelte die Stirn und hob die Augenbrauen: »Woher kommt Ihr ursprünglich?« »Wir gehören zu den Bani Atîja vom Stamm der Tijâha aus der Sabaa-Ebene.« »Herzlich willkommen! Gottes Segen und alles Gute!« Grossvater Abu Schanab dachte bei sich, was für eine Erleichterung es für seine anderen Kinder wäre, wenn er eine seiner Töchter loswürde und jemand anderes die Verantwortung für sie übernehmen und für ihren Schutz sorgen müsste. Grossvater Abu Dhijâb seinerseits hoffte bei sich, dass die bäuerliche Abkunft seine Verwandten im Tijâha-Stamm nicht erzürnte. Immerhin hatte er selbst mit seiner Frau eine echte Sinai-Beduinin geheiratet. Er rang mit dem Gedanken, dass ein Mann weder seinem Stamm noch seiner Familie absolute Rechenschaft schuldete und dass es immer noch besser war, den einzigen Sohn an eine Bäuerin zu verheiraten, als ständig in Sorge um seinen guten Ruf leben zu müssen. Abu Schanabs Wahl fiel auf meine Mutter Hind, weil sie die Prüfungen nicht bestanden und die Grundschule nicht abgeschlossen hatte. Sie war in Panik und fürchtete, vom selben Schicksal ereilt zu werden wie ihre ältere Schwester Suhâna. Deren Jungferntum war so berühmt geworden, dass...


Asmaa al-Atawna, geboren 1978 in einem Flu¨chtlingslager in Gaza, ist weltweit eine der wenigen schreibenden Frauen aus einer Beduinenfamilie. Mit 18 Jahren floh sie nach Frankreich. Studium der Politikwissenschaft und des Experimentellen Films. al-Atawna arbeitete als Kriegsreporterin in Gaza und als Journalistin und Kolumnistin fu¨r die Zeitung "al-Quds al-arabi" in London, außerdem beim Undergroundfilm und als Filmkritikerin. Sie engagiert sich fu¨r Gleichstellung im französischen Kultursektor und lebt in Toulouse.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.