E-Book, Deutsch, 290 Seiten
Albrecht / Encke / Richter Schwarz Gelb - der Tag, die Stadt, das Fieber
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-942672-74-0
Verlag: OCM
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 290 Seiten
ISBN: 978-3-942672-74-0
Verlag: OCM
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Seit dem Outing von Thomas Hitzelsperger hat es das Thema Homosexualität im Fußball endlich an die Öffentlichkeit geschafft. Die Autorengruppe 24 hat sich allerdings schon früher mit dem Thema beschäftigt. So ist ihr Buch 'Schwarz-Gelb: der Tag, die Stadt, das Fieber' unter anderem die Geschichte eines schwulen Mittelstürmers, der sich outet. 'Schwarz-Gelb: der Tag, die Stadt, das Fieber' - das sind 6 Autoren, jedem von ihnen gehören 4 Stunden des alles entscheidenden Tages in Dortmund, an dem Schwarz-Gelb Deutscher Meister werden kann. Die Sonne brütet, die Stadt kocht, die Menschen fiebern. An einem solchen Tag kann alles passieren. Es passiert auch ziemlich viel. Und das nicht nur auf dem Spielfeld. Denn 'Schwarz-Gelb' ist alles andere als ein typisches Fußballbuch. Neben schwulen Fußballern geht es um Väter und Söhne, zerrüttete Ehen, das Leben im Ruhrgebiet mit seinen mehr oder weniger alltäglichen Problemen und die Vorbereitung auf die wichtigsten 90 Minuten des Jahres. Nicht nur Fußballspieler und -fans besetzen hier die Hauptrollen, sondern auch Putzfrauen, Totengräber, Witwen, Rentner und Königspudel. Wen wundert es da noch, dass ständig ein schwarz-gelber Wellensittich auftaucht, der nur 'Schalke' rufen kann? Den Autoren Achim Albrecht, Eva Encke, Silvana Richter, Winfried Thamm, Markus Veith und Heike Wulf gelingt eine in sich verwobene Geschichte, die von ihren Überraschungen und ganz eigenen Charakteren lebt. Geeignet auch für Menschen ohne Kenntnisse der Abseitsregel!
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
01:00 – 02:00
Eingesperrt
Silvana Richter
Madame Tussaud lag auf dem Bett und lauschte, den Blick starr auf die Tür geheftet - festgetackert sozusagen. Sie wagte kaum zu blinzeln, aus Angst, den Moment zu verpassen, in dem sich die Klinke nach unten bewegt. „Die hypnotisiert wieder die Tür“, würde diese Frau sagen, bei der Dominik sie manchmal ablieferte und die er Tante Tilly nannte. Eine grässliche Alte, die immer wollte, dass sie sich zu ihr auf die Couch legte, sobald Dominik ihr einen Kuss auf die Schnauze gab und zur Tür hinaus verschwand. Widerwillig, aber ohne Knurren, ertrug Madame Tussaud dann die Umarmungen, die ihr fast die Luft abschnürten, oder das Gewuschel durch ihre Locken und das rhythmische Patschen auf den Kopf, als wäre der ein Tennisball. Wenn sie mal nach draußen gingen, dann immer nur einmal die Straße rauf und runter. Und sobald sie etwas Interessantes entdeckte und stehen blieb, zerrte Tante Tilly sie augenblicklich weiter. Sie hasste diese Tillytage. Lediglich die Schokodinger, die ihr die Frau vorsetzte, machten das ganze erträglich. Und Jacqueline natürlich, die nebenan wohnte und rüberkam, wenn sie durfte. Dann war schon mal ein längerer Spaziergang drin oder sie vergnügten sich mit einem Spiel. Mit ihr klappte auch die Verständigung besser als mit dieser Tante, die sich so komisch bewegte und nicht so recht zu durchschauen war. Wenn Dominik sie dorthin brachte, fragte sie sich, warum er sie so bestrafte und die Angst, dass er nicht mehr zurückkam, überfiel sie jedes Mal aufs Neue. Dann quälte sie die Erinnerung an die Tage, an denen sie sehnsüchtig jedem Zweibeiner ihre Schnauze durch die Gitterstäbe entgegenschoben hatte. Der, der jeden Tag das Futter brachte und mit einem Wasserstrahl den Boden säuberte, kümmerte sich nicht weiter um sie oder die anderen. Aber es kamen auch solche, die nur einmal, dann aber langsam, von Käfig zu Käfigen schritten. Die musste man beeindrucken. Allerdings war das Wie unklar und jeder um sie herum versuchte es auf eine andere Art. Was für ein Getöse! Was für ein Rennen, Springen und Hecheln. Was für eine Enttäuschung, wenn man wieder nicht zu denen gehörte, die rausgeholt wurden. Nein, nie wieder wollte sie dahin zurück! Madame Tussaud atmete einen Seufzer nach dem anderen aus. Schließlich senkte sie den Kopf aufs Kissen, beobachtete aber weiter die Tür. Manchmal ließ sie sich öffnen, wenn man dagegen drückte … ob sie es erneut probieren sollte? Oder sollte sie Krach machen? Damit hatte sie schon öfter Erfolg gehabt. Tante Tilly drohte dann zwar mit der zusammengerollten Zeitung und Dominik schimpfte. Aber immer noch besser als allein und eingesperrt zu sein. Sie startete einen halbherzigen Versuch. Das Wimmern versickerte nutzlos im Kissen - die Tür rührte sich nicht. Madame Tussaud musste all ihre Selbstbeherrschung zusammennehmen, um nicht vor Wut das Bettzeug zu zerfetzen, zumal plötzlich wieder diese schaurigen Geräusche aus dem Nebenraum kamen. Irgendetwas stimmte nicht. Und diese Hitze war auch nicht normal! Machte einen völlig schwindelig. Wie konnte Dominik sie hier einsperren? Sie würde verdursten, wenn er sich nicht bald um sie kümmerte. Dabei hatte der Tag so schön angefangen. Direkt nach dem Frühstück war er mit ihr im Auto losgefahren. Sie hatte vorne sitzen dürfen, wo die Fenster heruntergekurbelt waren, sodass sie den Kopf in den Fahrtwind recken konnte. Das liebte sie! Noch mehr als das allerdings liebte sie, was sie dann sah, als sie anhielten. Wasser, viel Wasser … ein See! Sie hatte vor Aufregung gar nicht stillhalten können, war aus dem Auto gesprungen, kaum dass er die Tür aufgemacht hatte. Wusch -hinein, dass es spritzte und die Menschen in der Nähe quiekten. Yippie-yi-yo-ki-yay … den Bauch kühlen, Stöckchen fischen, nach Steinen tauchen, planschen, toben, Tropfen aus dem Fell schütteln, sich im Ufersand wälzen und wusch … mit Anlauf alles wieder von vorn. Sie war ständig rein und raus, rein und raus, zuerst allein, dann mit Dominik, später mit Kindern, hin und her, rauf und runter, rein und raus. Pfützen, Bäche, Teiche, ganz egal, Hauptsache nass! Und wenn dann noch Vögel darin schwammen … wow! Das war das Beste überhaupt. Manchmal kam sie ganz nah an sie heran, wenn der Wind günstig stand oder Büsche Deckung boten. Aber Dominik erlaubte nicht, dass sie sich einen packte. Da konnte er richtig böse werden. Schimpfte, drohte. Einmal hatte er ihr sogar den Vogel abgenommen und sie geschlagen. Menschen … waren schwer zu verstehen. Und Manieren besaßen sie auch keine. Selbst die Kleinen oder ängstlichen starrten einem unverfroren in die Augen, und obwohl man sich nicht kannte, steuerten sie schnurstracks auf einen zu. Höflich den Blick abwenden oder im Bogen einer Begegnung ausweichen war ihnen völlig fremd. Man musste sie ständig im Auge behalten, um herauszufinden, was sie von einem wollten, was sie als nächstes vorhatten. Zum Beispiel der Mann, bei dem sie zuerst gelebt hatte, wollte, dass sie Vögel fing. Wenn er ihr das Kommando gab, musste sie loslaufen und die Beute aufscheuchen und holen. Das hatte Spaß gemacht, auch wenn das Fressen miserabel war. Bis zu dem Tag, an dem der Mann sie zu einem Baum führte, einen Strick über einen Ast warf und sie daran aufhängte. „Ende der Jagdsaison!“, hatte er gebrummt und war davon gestapft. Keine Ahnung, wie sie von dort in das Haus mit den vielen Käfigen und anderen Hunden gekommen war. Es hatte sie auch nicht interessiert. Wozu auch? Die Dinge waren geschehen, gestern war gestern, was zählte, war heute. Und an einem dieser Heute-Tage war ER aufgetaucht: Dominik – war von Käfig zu Käfig gegangen, hatte mal hier geguckt, mal dort, war zu ihrem Verschlag zurückgekehrt, stehen geblieben, in die Hocke gegangen. Im Nachbarkäfig hatte sich der Podencorüde gegen das Gitter geworfen und nicht mehr aufgehört zu bellen. Sie dagegen hatte sich manierlich hingesetzt und eine Pfote gehoben. „He, schau mal Marcus“, hatte er zu dem Mann gerufen, der am Ende des Gangs der englischen Bulldogge eine Grimasse schnitt. „Heute ist unser Jahrestag … der richtige Zeitpunkt, eine Familie zu gründen! Was hältst du von diesem Baby hier?“ Marcus war mit den Händen in den Hosentaschen herangeschlendert, hatte zuerst auf Madame Tussaud herab gestarrt, dann auf Dominik. „Ein Pudel? Ist nicht dein Ernst …!“ „Wieso? Die sind doch cool!“ „Man, das sind voll die typischen Seniorenhunde, langweilig, dumm, arrogant, hysterisch, verweichlicht - und obendrein noch blöd frisiert.“ „Von Frisur kann bei dem hier ja keine Rede sein … völlig verfilzt, das Fell. Außerdem hatten meine Großeltern in der Gaststätte auch einen Königspudel!“ „Sag ich doch, Seniorenhund.“ Madame Tussaud spürte, dass ihr jemand gegenüber hockte, dessen Interesse an ihr auf sehr fragilen Füßen stand. Jetzt konnte nur noch ein kluger Kopf und Kreativität helfen. Also warf sie sich auf den Rücken - mit einer Demutsgeste war man immer auf der sicheren Seite und man gewann Zeit. Und einer plötzlichen Eingebung folgend, sprang sie auf, suchte auf ihrem Lager nach dem einzigen Spielzeug, das sie besaß und warf es schwungvoll in die Luft. Der Lappen, ein ehemals blau-weiß-gestreiftes T-Shirt, landete genau auf dem Häufchen, das schon seit geraumer Zeit die Fliegen anzog und Ergebnis ihres kargen Reis- und Wassermahls war. Ende - die Trophäe war ruiniert! Enttäuscht schaute sie über die Schulter zu den beiden Männern. Doch die schienen sich prächtig zu amüsieren. „Jau“, brüllte Marcus und lachte, „Schalke ist mal wieder voll in der Scheiße gelandet!“ Was in einem Tierasyl ganz normal ist, zieht in einer Wohnung strafende Konsequenzen nach sich. Diese Lektion hatte Madame Tussaud schnell gelernt. Sie hüpfte vom Bett, versuchte erneut, die Tür aufzudrücken. Nun war es nicht nur der Durst, der sie quälte. Sie musste raus. Ganz raus. Ganz dringend! Sie schnüffelte den Spalt zwischen Tür und Boden ab. Aber die Geruchsmoleküle zeigten keinerlei Veränderung an. Sie trippelte zurück, entdeckte eine Unterhose unter dem Bett, deren kraftvoller, aber verblassender Duft darauf schließen ließ, dass sie schon eine Weile dort lag. Madame Tussaud packte sie und schüttelte sie tot. Doch statt mit dem Spiel fortzufahren, ließ sie den Stoff fallen. Mit gesenktem Kopf stand sie eine Weile da, die rosa Zunge aus dem Maul hängend, an der Spitze formte sich ein Tropfen Speichel. Sie hechelte. Es war einfach zu heiß, immer noch, obwohl es schon lange dunkel war. Gestern war es auch heiß gewesen. Trotzdem hatte Dominik sie nicht angebrüllt, noch nicht mal, als sie seine Hand ableckte, an der noch ein wenig Fleischsaft klebte. Warum also heute? Nein, also wirklich! Sie wollte jetzt da rein, sofort! Wollte runter auf die Straße. Wollte trinken. Wollte gestreichelt werden. Wollte spielen. Wollte dabei sein, wie immer, auf dem Sofa neben Dominik, neben Marcus. Den mochte sie. Der brachte ihr immer etwas mit. Und jetzt war er da nebenan und sie konnte nicht zu ihm. Seine Stimme war deutlich zu hören, wenn auch mit einem anderen Klang. Nicht so sanft, nicht so freundlich wie sonst. Sie horchte. Was war denn da bloß los? Sie spürte eine Spannung in der Luft, die sie nervös machte. Eine Spannung, die nichts Gutes versprach. Eine Spannung, die von gut nach schlecht gesprungen war in dem Augenblick, als Marcus in die Wohnung getreten war. Markustage erkannte sie, lange bevor er tatsächlich erschien. Wegen der feinen Veränderungen, die sie dann schon morgens registrieren konnte. Das waren die Tage, an denen Dominik kurz vor dem Aufstehen besonders gut roch …, männlich, glücklich. So wie heute, doch dann … Ein dumpfer Knall an der...