Alikavazovic | Das Fortschreiten der Nacht | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Alikavazovic Das Fortschreiten der Nacht

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96054-099-1
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-96054-099-1
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Roman über eine asymmetrische Liebe in Zeiten zunehmender Angst Paul, Sohn eines Maurers aus der Pariser Banlieue, und Amélia, Tochter eines reichen Vaters und einer Mutter, die verschwand, als sie einen Krieg verhindern wollte, tanzen über dreißig Jahre einen Walzer voller Ausweichschritte umeinander. Beide studieren Architektur - er verdient seinen Unterhalt mit Nachtschichten an der Rezeption eines Hotels, das Amélias Familie gehört und in dem sie lebt. Paul ist fasziniert von ihr. Alles an ihr ist ein Rätsel, ihr Kommen und Gehen, ihr wilder Intellekt, ihre Schönheit sowie die Gerüchte, die sie umgeben. Zunächst konkurrieren sie um die Gunst der Professorin Albers, doch bald entsteht ein nächtliches Liebesverhältnis. Nachts können sich die Parallelen ihrer beider Leben schneiden, nachts kann der Raum zu ihren Gunsten neu vermessen werden. Doch Amélia verschwindet, unbegreiflich für Paul. Die Stadt und das Leben darin werden indessen zunehmend von Angst geformt. Paul wird reich im Geschäft mit schusssicheren Fenstern, geheimen Räumen und Überwachungstechnik, und die Angst wird auch vor seinem eigenen Leben nicht halt machen. Schließlich erfährt er, dass Amélia damals nach Sarajevo gegangen ist, um ihre Mutter zu suchen. Zehn Jahre später kehrt sie zurück, und eine Tochter wird geboren. Doch niemand entkommt den Phantomen der eigenen Geschichte, die immer von Neuem beginnt. Elegant, evokativ und mit großem literarischen Feingefühl erzählt Jakuta Alikavazovic von dem, was unwiederbringlich verloren ist. Und von dem, was vielleicht noch gerettet werden kann. 'Jakuta Alikavazovic streift tausend Themen auf einmal, in einer Erzählung auf der Rasierklinge, Funken schlagend, waghalsig, fesselnd und voller Geheimnis.' Télérama 'Jakuta Alikavazovic ist ein seltenes, kraftvolles und einzigartiges Talent.' Le Monde

Jakuta Alikavazovic wurde 1979 in Paris geboren, ihre Eltern kamen in den 1970er Jahren aus Bosnien und Montenegro nach Frankreich. Sie unterrichtet an der Sorbonne und übersetzt u.a. Ben Lerner ins Französische. Ihr Debütroman 'Corps volatils' (2007) wurde mit dem Prix Goncourt du premier roman ausgezeichnet. 'Das Fortschreiten der Nacht' ist ihr vierter Roman. Er erhielt den Prix du Zorba und den Prix Castel du Roman de la nuit und war nominiert für den Prix Médicis und den Prix Femina.
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2.


In der Tiefgarage wartete Paul nun immer darauf, das deutsche Auto wiederzusehen. Als es dann wieder auftauchte, hatte er das Gefühl, dass dies einzig durch seinen Willen, sein Begehren geschehen war, was ihn selbst ausgesprochen überraschte. Nachdem sie eingeparkt hatte, blieb Amélia Dehr lange drinnen sitzen, zu lange, der Kamerawinkel ließ ihn nicht viel erkennen, aber es schien ihm, als ob sie weinte. Es schien ihm, als ob sie auf das Lenkrad einschlug, es schien ihm, als ob sie kämpfte, als ob sie versuchte, einer Sache zu entkommen, der man unmöglich entkommen kann. Vor seinem kleinen Bildschirm, vor diesem Auto, aus dem niemand ausstieg, verspürte Paul eine Angst, gegen die er sich gewappnet, gegen die er sich immun geglaubt hatte. Die Angst eines Kindes, die wie eine Flüssigkeit in ihm aufstieg, der Schrecken, der von allem Möglichen und dem Unmöglichen hervorgerufen wird, die Welt war so groß wie dieses Rechteck, in dem Amélia Dehr nicht aus dem Auto stieg, nicht damit aufhörte, nicht auszusteigen, die Welt bestand aus diesem Bild, das nicht vorüberging, und dem Schrecken, der ihn wie ein Fieber erfasst hatte. Als sich die Tür öffnete, halb öffnete, glaubte er, er würde das nicht überleben, er wusste, dass er niemals sehen würde, was aus dem Auto aussteigen würde und es würde und würde nicht Amélia Dehr, würde ein anderer Zustand von Amélia Dehr sein; und er wusste auch, dass er den Blick nie würde abwenden können, und so hatte er keine andere Wahl, als gleichzeitig hinzusehen und nicht hinzusehen. Mein Herz wird explodieren, dachte Paul. Meine Augen werden explodieren. Sie stieg aus dem Auto, ein langes Bein nach dem anderen. Nichts geschah. Auf ihrem Gesicht war nichts zu erkennen, ein undurchsichtiger, missmutiger Ausdruck, der ihm später vertraut werden würde, den er aber in diesem Moment wenig sympathisch fand. Dieses Mal flüchtete er nicht, er blieb auf seinem Posten. Sie sah ihn nicht an und er sagte sich, dass sie sich Mühe gab, ihn nicht zu sehen, dass ihre Gleichgültigkeit nur gespielt war. Er tat es ihr gleich. Aber als er sie im Hotel wiedersah, war sie wieder sie selbst, oder die Version ihrer selbst, von der er fand, sie entspreche eher ihrer Natur (oder seinem eigenen Wunsch), und sie schauten gemeinsam die Kurznachrichten und aßen Popcorn, schauten so lange, bis die Sendung noch einmal wiederholt wurde, dann noch einmal, bis sie sie auswendig kannten und mitsprechen konnten. Die Tiefgarage erwähnte sie nicht, und er stellte keine Fragen.

An der Uni führte Albers ihre Exkurse weiter – die Exkurse der Kurs, wie das Motiv der Teppich , würde Paul später mit geröteten Augen bei ihrer Beerdigung sagen, die keine wirkliche Beerdigung, sondern eine Zeremonie war, die Worte, der Wortleib, den man ihr gab, er und Andere (aber nicht Amélia), ersetzte das Fleisch, das nicht mehr war. Die Stadt von morgen: Auf den komplizierten Wegen, denen ihre Gedanken folgten, wurde schließlich folgende Idee erkennbar: Der Raum ist nicht unendlich erweiterbar, aber die Nacht dehnt die Stadt aus, verdoppelt und vervielfacht sie, indem sie ihre Nutzungsarten vervielfacht. Paul war euphorisch. Paul war ein Anhänger, ein Apostel Albers’, und im Alter von achtzehn Jahren sah er ganz klar und deutlich die kommenden dreißig, vierzig, fünfzig Jahre vor sich: Er würde an Albers’ Seite sein. Er würde der Architekt der Nächte werden, ihres Lichts. Sein Lebenswerk wäre eine Fußnote, ein Anhang zu der nichtvorhandenen Doktorarbeit seiner Professorin: Die Beleuchtung, das wäre er. Er glaubte an die Nächte und die Nächte, so entdeckte er, glaubten an ihn.

Während der Vorlesungen schnappte jeder etwas auf, das nur für sie oder ihn bestimmt war, das an seine oder ihre innersten Urängste appellierte, für Paul war es die Stadt in der Dunkelheit, einer Dunkelheit, die in der Stadt eben nur noch als Konzept, als Abschreckung existierte. Er war besonders auf Albers’ Exkurse über die Nacht versessen, und als er ein Referat halten musste, er, der noch nie vor Publikum gesprochen hatte, redete er darüber, über Stadtbeleuchtung. Das Aufkommen der Straßenlaterne, ein entscheidendes Instrument zur Verbrechensbekämpfung, mit Gas betrieben oder später mit Strom. Indessen, sagte er, bestanden die Ungleichheiten in diesem Bereich aber weiterhin fort. Die Vereinigung des Landes im Licht werde vielleicht nie stattfinden. In der Stadt, aus der er kam, hatte man in den 1990er Jahren blaue Straßenlaternen aufgestellt, die das nächste Jahrhundert, die Zukunft heraufbeschwören sollten, aber eine vergangene Zukunft, schon veraltet, überholt, eine verpasste Möglichkeit von Zeit und Fortschritt, die sich – wie alles in jener Stadt, einem ehemaligen Industriezentrum, das versuchte, sich wieder aufzurappeln und stets scheiterte – als Sackgasse herausgestellt hatte; und die Legende besagte, und daran erinnerte er sich gut, er erinnerte sich perfekt daran, und das war wahrscheinlich sogar der Grund für sein Interesse an diesen Fragen, die Legende besagte, dass das blaue Licht im Stadtzentrum Drogenabhängige daran hinderte, ihre Venen zu finden, sie krempelten die Ärmel hoch, um sich einen Schuss zu setzen; und nichts: gleichmäßig bläuliche Haut; so saniert man ein Viertel, so säubert man es. Licht war eine Sprache ohne Worte, die der Körper verstand, es gibt so viele Neuronen im menschlichen Magen wie im Kortex einer Katze, sagte Paul, zweifellos wollte er auf diese Weise jene Bauchgefühl-Intelligenz beschreiben, die ein Gemeinplatz war und die die Wissenschaft gerade erst zu bestätigen begann, als ob die abgegriffensten Klischees in Wirklichkeit dazu dienten, zu dem vorzudringen, was sich hinter dem Schein verbirgt, in das geheime Herz der Dinge vorzustoßen. Es gab Gelächter, aber er fühlte Albers’ wohlwollenden Blick auf sich, er wusste, dass ihn verstand, und es war wie eine Art Rausch. Amélia Dehr, am Rand der ersten Reihe, lachte ebenfalls nicht. Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, als wolle sie ihre jeweiligen Chancen im Nahkampf einschätzen.

Amélia war zurückhaltender oder ihre Leidenschaft manifestierte sich auf eine schwierigere, schmerzhaftere Weise, sie verpasste keine einzige Vorlesung, keinen einzigen Satz, ließ sich aber nicht mitreißen, weigerte sich, sich mitreißen zu lassen: Ihre Leidenschaft für Albers war die einer Schwimmerin für die Strömung, gegen die sie anschwimmt. Ihr Widerstand ein Zeichen, dass sie verstand. Und so viel hatte sie verstanden: Angst dehnt die Stadt aus. Vervielfacht sie. Die Stadt wird gegen die Angst gebaut, aber die Angst dringt ein, und die Stadt wird zum Ort dessen, was sie fernhalten, von den Mauern weghalten sollte. In der Stadt von morgen wird es keine Angst geben, erwiderte Paul, die Angst wird ausgerottet werden, so wie man die Nachtschwärze ausgerottet hat. Dunkelheit existiert seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr. Amélia sagte: Die Angst passt sich an. Sie hat diesen Satz einmal und sehr deutlich ausgesprochen, dann aber nie wieder gesagt. Entweder weigerte sie sich aus Stolz, sich zu wiederholen; oder aber sie war nicht so selbstsicher, wie sie vorgab. Oftmals, hatte Paul bemerkt, wünschte sich Amélia trotz ihrer Vehemenz insgeheim, eines Besseren belehrt zu werden. Oft bedauerte Amélia, Recht zu haben.

Bald, augenscheinlich ohne Absprache, saßen sie in der Vorlesung nebeneinander, sahen sich nicht an, schoben sich Papierbögen und Stifte zu; Paul kaufte aus Geldmangel nicht alle Bücher und las bei ihr mit, blätterte die Seiten um, wie er es für eine Musikerin getan hätte, wusste instinktiv, wann sie fertig war. Es war fast unsichtbar, aber es war schön. Am Anfang war es das: fast nichts. Eines Tages, unter den kollektiv staunenden Augen von Pauls Freunden, den Freunden, die er bald fallen lassen würde, legte Amélia, ohne den Kopf zu drehen, ohne ein Anzeichen gesteigerter, geschweige denn romantischer Aufmerksamkeit, ihren Mantel um seine Schultern, wie einen Umhang, der zu klein für seinen breiten Rücken war – ohne ihn anzusehen, hatte sie anscheinend gewusst, dass ihm kalt war – und er, ohne ein Wort oder einen Blick, begnügte sich damit, die Ärmel um seinen Hals zu wickeln und bestätigte so diese Intuition, bedankte sich noch nicht einmal bei ihr – diese eiskalte, blinde Fürsorglichkeit hatte eine Erotik an sich, die gerade erst erfunden wurde. In der Öffentlichkeit berührten sie einander nie, aber diese trockene Fürsorglichkeit inmitten dieser jungen Leute, die einander spielerisch streiften, sich aneinander rieben, hatte eine fast obszöne, fast pornografische Wirkungskraft, die ihnen selbst nicht bewusst war. Sie selbst erlebten es natürlich auf die genau entgegengesetzte Weise: vor Schüchternheit gelähmt. Aber für jemanden mit mehr Erfahrung als sie, sagen wir Albers – auch wenn Albers nie gezeigt hatte, dass sie dazu eine Meinung hatte –, war es offensichtlich, dass sie ein perfektes Liebespaar abgeben würden. Und dieser erfahrenere Mensch, Albers oder jemand Anderes, hätte etwas Beunruhigendes vorausahnen können, die fast mechanische Unvermeidlichkeit einer Leidenschaft, die manchmal für beide oder zumindest für einen von ihnen ein...


Jakuta Alikavazovic wurde 1979 in Paris geboren, ihre Eltern kamen in den 1970er Jahren aus Bosnien und Montenegro nach Frankreich. Sie unterrichtet an der Sorbonne und übersetzt u.a. Ben Lerner ins Französische. Ihr Debütroman "Corps volatils" (2007) wurde mit dem Prix Goncourt du premier roman ausgezeichnet. "Das Fortschreiten der Nacht" ist ihr vierter Roman. Er erhielt den Prix du Zorba und den Prix Castel du Roman de la nuit und war nominiert für den Prix Médicis und den Prix Femina.



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