E-Book, Deutsch, 96 Seiten
ISBN: 978-3-9879100-7-4
Verlag: Westend Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Autoren/Hrsg.
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Kapitel II Der widersprüchliche Umgang des Westens mit dem Völker(straf)recht
1.Historische Schuld …
Ein wichtiger Grund, warum Staaten des Globalen Südens eine kritische Haltung gegenüber der vorbehaltlosen westlichen Unterstützung der Ukraine im Namen einer regelbasierten Völkerrechtsordnung einnehmen, ist zunächst einmal, dass diese Ordnung von einer zunehmend kritischen und eigenständigen Völkerrechtswissenschaft – der sogenannten »Third World Approaches in International Law« (TWAIL) – als hegemoniales und damit illegitimes Projekt an sich in Frage gestellt wird.81 Nach Makau Mutua, Professor an der University at Buffalo in den USA und einer der Vordenker dieser Bewegung, ist TWAIL »eine Antwort auf die Dekolonialisierung und das Ende der direkten europäischen Kolonialherrschaft über Nicht-Europäer«. TWAIL reagiere auf Völkerrecht als »imperiales Projekt« und versuche »proaktiv«, die Bedingungen in der Dritten Welt zu verändern. Dabei verfolge TWAIL drei grundlegende und zusammenhängende Ziele: Erstens gehe es um die Dekonstruktion des gegenwärtigen Völkerrechts als Mittel der »rassistischen Hierarchie« (»racialized hierarchy«) völkerrechtlicher Normen und Institutionen zur europäischen Beherrschung von Nicht-Europäern. Zweitens solle ein alternativer Rechtsrahmen internationaler »governance« geschaffen werden. Drittens versuche TWAIL durch wissenschaftlichen Diskurs (»scholarship«) und Politik (»policy, and politics«), »die Bedingungen der Unterentwicklung in der Dritten Welt auszumerzen«.82 Daran ist sicher richtig, dass das Völkerrecht in seinem Ursprung ein Produkt der Kolonialmächte gewesen ist und insbesondere auch zur Rechtfertigung der Kolonialherrschaft eingesetzt wurde. So wurden etwa die Kolonialgebiete als »herrenlos« (terra nullius) bezeichnet, um sie durch friedliche (!) »Occupation« erwerben zu können;83 die dort lebenden Ureinwohner galten als »unzivilisiert« und mussten im Wege christlicher Missionierung »zivilisiert« werden (mission civilisatrice).84 Weniger radikale Ansätze betonen ebenfalls die Rolle und Funktion des (europäischen) Völkerrechts als Instrument imperialer Beherrschung und Hegemonie in den Regionen des Globalen Südens. So argumentiert etwa der argentinische Rechtswissenschaftler Juan Pablo Scarfi, dass das (US-)amerikanische Völkerrecht von einem imperialen US-Bestreben geprägt war, Lateinamerika durch Förderung der Rechtsstaatlichkeit (rule of law) zu zivilisieren.85 Fest steht jedenfalls: Dieselben Kolonialmächte haben – seit dem Zweiten Weltkrieg allerdings unter der Führung der (selbst einmal kolonisierten) USA – die hegemoniale Völkerrechtsordnung weitgehend zu ihren Gunsten bis zum postkolonialen Ende der unipolaren Weltordnung eingesetzt, unter anderem um die Fortsetzung direkter oder indirekter Interventionen in den (früheren) Kolonien zu rechtfertigen.86 Ein Nebeneffekt dieser westlichen Hegemonie ist eine bis heute anhaltende westliche Dominanz auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe; Letztere wurde erst kürzlich von einem erfahrenen Kenner als »[L]argely elite western international system« und »imperial system of humanitarian aid« bezeichnet.87 In unserer heutigen multipolaren – von mehreren globalen und regionalen Großmächten beherrschten – Weltordnung verschafft sich jedoch mehr und mehr ein posthegemoniales Völkerrecht Geltung, in dem nicht mehr der bisherige Hegemon (»der Westen«) ein Auslegungsmonopol beanspruchen kann, sondern völkerrechtliche Regeln multilateral ausgehandelt werden müssen.88 Vor diesem völkerrechthistorischen und -politischen Hintergrund muss der westliche Anspruch in den Ohren der Vertreter/innen des Globalen Südens hohl klingen, hat der Westen doch selbst in seiner Geschichte genau die Regeln des Völkerrechts – insbesondere auch das in unserem Zusammenhang besonders relevante Gewaltverbot – gebrochen, die er nun zu verteidigen vorgibt, oder vielmehr: die Ukraine in seinem Namen verteidigen lässt. So wird dem Westen vorgeworfen, mit zweierlei Maß zu messen und eine Doppelmoral zu predigen.89 Liegen die rassistische Unterdrückung und Ausbeutung des Globalen Südens durch die großen Kolonialmächte,90 die alle Teil des Pro-Ukraine-Bündnisses sind, auch schon einige Zeit zurück, so verfolgen sie unsere westlichen Gesellschaften doch bis heute,91 wie nicht zuletzt etwa die aktuelle Debatte um die Rückgabe gestohlenen Kulturguts zeigt.92 Wenn noch heute von Vertretern des Globalen Südens, vor allem aus Afrika südlich der Sahara, beklagt wird, dass Europa Afrika »nie verstanden« habe, immer noch »bevormunden« wolle, nur »Herrschaft über andere« kenne und endlich »lerne[n]« müsse »zu schweigen«,93 so zeigt dies, wie tief die kolonialen Verletzungen reichen. Jedenfalls erklärt das historische Vermächtnis der Kolonialzeit, zumindest bis zu einem gewissen Grad, die Skepsis des Globalen Südens gegenüber der Ukraine-Politik des Westens.94 Wird aber dem Westen, repräsentiert durch die ehemaligen Kolonialmächte und die USA als postkoloniale Imperialmacht, im Globalen Süden wenig bis kaum Vertrauen entgegengebracht, so ist es nicht verwunderlich oder doch zumindest verständlich, dass das russische Narrativ einer Bedrohung durch eine neo-nationalsozialistisch kontaminierte Ukraine, zudem unterwandert und militärisch aufgerüstet durch die NATO, so abwegig dieses Narrativ aus unserer Sicht auch sein mag, durchaus auf offenen Ohren stößt. Statt das westliche Täter-Opfer-Narrativ – Russland als brutaler Aggressor und die Ukraine als unschuldiges Opfer – zu übernehmen, sieht man sich im Globalen Süden häufig mit der These eines legitimen russischen Verteidigungskriegs, sei es zur Entnazifizierung der Ukraine oder zur Zurückdrängung der NATO, konfrontiert.95 Dabei ist die seit dem Zerfall der Sowjetunion vorangetriebene und auf dem Bukarester Gipfeltreffen im Jahre 2008 auch die Ukraine und Georgien einbeziehende NATO-Ost-Erweiterung96 eine historische Tatsache, über deren Bedeutung – im Sinne eines relevanten Kausalfaktors – für den aktuellen Ukraine-Krieg man allerdings trefflich streiten kann.97 Zu berücksichtigen ist dabei auch die weitere historische (und völkerrechtlich sehr bedeutsame) Tatsache, dass Russland die ukrainische Souveränität gegen deren Atomwaffenverzicht im Budapester Memorandum von 1994 anerkannt hat.98 Fest steht, dass Russland, inspiriert von einem – an den berühmt-berüchtigten Verfassungsjuristen Carl Schmitt99 erinnernden100 – euroasiatischen Großraumdenken,101 die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken sowie Staaten des ehemals sowjetischen Einflussbereichs seit Jahren destabilisiert. Und dies zeigt, dass eine regionale oder gar globale Sicherheitsarchitektur nachhaltig nur auf der Grundlage des Rechts – einer regelbasierten Völkerrechtsordnung eben – und nicht auf militärische Stärke alleine gebaut werden kann.102 So gesehen erweist sich die russische Invasion in der Ukraine als bittere Lektion für den von den USA geführten Westen, als Schlag gegen die seit dem Zerfall der Sowjetunion anhaltende, auf militärischer Stärke beruhende Hybris – keineswegs nur republikanischer Präsidenten.103 2.… und heutige Brüche des Völkerrechts
Vergangenes koloniales Unrecht kann wohl – zumindest langfristig – durch eine respektvolle, durch Demut und ehrliche Reue geprägte postkoloniale Politik der Anerkennung, Aufarbeitung und Wiedergutmachung überwunden werden,104 möglicherweise sogar unter Rückgriff auf die zunehmend populär gewordenen Instrumente der sogenannten Transitionsjustiz, die eine Reihe von (auch nicht-strafrechtlichen) Reaktionsmöglichkeiten und Aufarbeitungsoptionen für einen angemessenen Umgang mit dem vergangenen Unrecht bereitstellen.105 Doch die Liste der jüngeren Verletzungen des Völkerrechts durch den Westen, angeführt von den USA, ist einfach zu lang, um einfach zur Tagesordnung übergehen zu können. In Bezug auf das Recht zur Kriegsführung, das sogenannte ius ad bellum, das heute maßgeblich vom schon erwähnten Gewaltverbot eingehegt wird,106 ist etwa – aus jüngerer Zeit107– die rechtswidrige Irak-Invasion unter George W. Bush jun., die nicht einmal von allen NATO-Mitgliedern unterstützt wurde,108 in Erinnerung zu rufen.109 In Bezug auf das im bewaffneten Konflikt geltende Recht, das sogenannte humanitäre Völkerrecht oder ius in bello,110 und allgemeine Verletzungen der Menschenrechte111 ist das...