E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Amend / Bethke / Diehl Freitags von Zehn bis Zwölf
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7534-0074-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lebensbilder
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7534-0074-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
13 autobiografische Texte, die von Bildern inspiriert sind. In manchen Fällen gibt das Bild das Thema vor, in anderen dient es zur Illustration. Manche Texte bleiben eng am Foto, kommen immer wieder darauf zurück. Andere gehen kaum darauf ein, und dennoch bilden Text und Bild eine Einheit, ergänzen sich gegenseitig. Vom "Coming of Age" der 1960er-Jahre und sportlichen Gemeinschaftserlebnissen erzählen die Autorinnen, von familiärer Herkunft, von intensiven Freundschaften, Selbsterfahrung und persönlicher Entwicklung. Sie zeigen Vergangenes in neuer, oft überraschender Beleuchtung. Ihre Texte spiegeln die Themenvielfalt und die großen formalen Bandbreite des biografischen Schreibens wieder.
Autoren/Hrsg.
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Trainingsanzug und Hessenkittel Inge Bethke „Willst du hier ein Zuhause haben, dann musst du in einen Verein eintreten und Sport treiben“, sagte Anneliese, meine Arbeitskollegin. „Zum Beispiel in den Turnverein oder den Radfahrverein. Dann wirst du bekannt und du fühlst dich wohl bei uns." Anneliese war das Herz und die Seele des TV Stierstadt. Ohne sie ging nichts. Sie führte auch die Gymnastikgruppe. Ich folgte ihrem Rat - und sollte es nicht bereuen. In Ostpreußen und nach unserer Übersiedlung war Tanzen unsere Leidenschaft gewesen. Mein Mann und ich tanzten auf jedem Ball in Stierstadt und Umgebung. Oft nahmen wir nicht einmal einen Sitzplatz in Anspruch, denn wir tanzten den ganzen Abend. Zum Tanzen kam jetzt das Turnen, später auch Radfahren und Leichtathletik - im Sport machte ich alles mit, was angeboten wurde. 20 Mal erhielt ich das Sportabzeichen in Gold. In Annelieses Gymnastikgruppe trainierten wir immer montags. Manchmal einfach so, um uns fit zu halten. Doch von Zeit zu Zeit schlug uns Anneliese vor, an größeren Sportveranstaltungen teilzunehmen. Das motivierte uns zusätzlich. »So Mädels«, sagte sie etwa. »Jetzt müssen wir fürs Gauturnfest üben. Wir nehmen an einer Vorführung teil.« Es gab Übungen mit Bällen, Reifen, Schirmen und Bändern. In vielen Turnvereinen der Region studierten die Turnerinnen das gleiche Programm ein, so dass am Ende alle Schrittfolgen übereinstimmten und sich im Stadion ein Gesamtbild ergab, an dem wir und die Zuschauer Freude hatten. Ein halbes Jahr lang trainierten wir für eine solche Vorführung. So waren wir immer beschäftigt. Das Deutsche Turnfest in Berlin 1987 Im Jahr 1986 sagte Anneliese: »Ich möchte euch einen Vorschlag machen. Nächstes Jahr findet in Berlin die 750-Jahr-Feier statt. Darum ist auch das Deutsche Turnfest dort, Anfang Juni. Da möchte ich mitmachen. Alle Turner aus ganz Hessen sollen das gleiche Programm üben. Wollen wir mitmachen?« Natürlich sagten wir „Ja“. „Wer möchte, kann auch an Wettkämpfen teilnehmen. Wir müssen uns jetzt anmelden, dann bekommen wir einen Sportlerpass". Geübt wurde in der ganzen Region – auf eigene Kosten trafen wir uns in Weiskirchen, Rosbach, Oberursel, Ober-Eschbach und Ober-Erlenbach, in Darmstadt, Marburg, Bad Homburg, und einmal sogar in Kassel. Wir bekamen azurblaue Trainingsanzüge, dazu weiße Turnschuhe. Unser Gerät war ein orangefarbener Ball. Für den Umzug mussten wir blaue Hessenkittel nähen. Einige Frauen brachten Nähmaschinen in die Turnhalle, eine Mitturnerin arbeitete bei Hertie und besorgte den Stoff. So ging's an die Arbeit. Fahren wir mit dem Bus oder fliegen wir nach Berlin? Die Sportler aus Weiskirchen entschieden sich für den Bus, wir für den Flug, um die DDR-Kontrollen zu vermeiden. Die Sportler aus Weiskirchen übernachteten in einer Turnhalle, wir buchten eine Pension. Alle freuten sich auf die Reise. Doch das Jahr 1987 begann dramatisch für mich. Mein Mann Heinz war schon seit zehn Jahre krank. Seit acht Jahren benötigte er ein Sauerstoffgerät. Nun musste er wieder ins Krankenhaus! Seine Atemnot wurde immer schlimmer. Er hatte keine Chance. Am vierten Januar 1987 um 18 Uhr verstarb er in meinen Armen. Es schneite draußen. Erst zwei Wochen zuvor hatte ich meinen Führerschein gemacht und war noch unsicher am Steuer, als ich ins Krankenhaus fuhr. Nun saß ich bei meinem Schatz, die Glocken läuteten, er schlief ruhig ein. Ich war bei ihm, doch ich konnte nichts tun, nur noch seine Hand halten und seine Brust streicheln. Er musste nicht mehr leiden. Ich weinte nur noch. In dieser Situation, dachte ich, kann ich nicht nach Berlin fahren. Ich war nur noch traurig. Eines Tages, einige Wochen nach dem Tod meines Mannes, klingelte es an der Tür. Drei Mitturnerinnen standen davor. Ich erschrak: „Was ist los?“, fragte ich. „Inge“, antworteten sie, „du kannst das Turnfest nicht absagen. Heinz wollte, dass du mitmachst. Er bat deine Mutter, aus Hamburg zu kommen, um ihn zu versorgen. Weißt du noch?“ Schließlich überzeugten sie mich. Und Ende Mai war ich so weit, mitzufliegen. Der Flug war toll. Als wir in Berlin angekommen waren, behauptete ein Mitturner aus unserer Gruppe, dass er sich auskenne. Er wollte uns zeigen, wie wir zu unserer Pension kämen. Doch er war nicht auf dem neuesten Stand. Viel zu früh stiegen wir aus der UBahn aus und liefen viele Straßen ab, bis uns ein Einheimischer in die Trautenaustraße führte, zwischen Wilmersdorf und Schöneberg, wo unsere Pension lag. Das Haus war alt, hoch und schmal. Die Zimmer waren sauber, doch der Balkon voller Spinnweben. Auch die Wirtin war gewöhnungsbedürftig. Als ich ihre Hände sah, war ich froh, dass wir in der Pension nur Frühstück gebucht hatten. Die Ware war verpackt, die Brötchen kamen direkt aus der Tüte. Wir erforschten Berlin gründlich, jedenfalls den Westen der Stadt. In den S- und U-Bahnen ging es lustig zu. Im Stadion sollten 100 Turnerkapellen spielen, so dass die Stadt voller Musiker war. Manchmal reichte nur eine Trommel, eine Trompete, um Stimmung zu verbreiten. Die Frauen tanzten und schunkelten. Einmal hörten wir eine Durchsage: »Bitte verhalten Sie sich ruhig. Wenn Sie schunkeln, kann die Bahn aus den Schienen stürzen.« Alle erschraken und niemand bewegte sich mehr. Nur die Musik spielte weiter. Die ganze Woche waren wir ausgelastet. Wir nannten uns „Maulwürfe“, weil wir fast nur unterirdisch unterwegs waren. Auf dem Messegelände fanden die Wettkämpfe statt, auch viele Vorträge in Sachen Sport. Wir hatten die Sportlerpässe bekommen, von denen Anneliese gesprochen hatte. Nach jedem Wettbewerb, den wir mitmachten, bekamen wir einen Stempel in unsere Pässe. Weitsprung, Kugelstoßen. Neu war mir Seilspringen: Es wurde bewertet, wie oft wir pro Minute springen konnten. Beim 2000-Meter-Lauf hatten sich sonst nur Männer angemeldet. Ich erinnere mich daran, wie ich alleine auf der Bahn lief, die Herren waren viel schneller. Ich kam als Letzte ins Ziel – und hatte doch eine gute Zeit erreicht. Das Turnfest war für alle Sportler: Kinder, Jugendliche und Senioren waren dabei. Ich war nur ein wenig erschüttert, als ich hörte: „Jetzt kommen die Senioren", denn das waren alle Frauen über 35 Jahre. Nach den Wettkämpfen machten wir Berlin unsicher. Einmal gingen wir ins Jahn-Stadion, wo ein Konzert stattfand. Es war voll und jemand trat einem Turnfreund in die Sandalette, so dass er nur noch das obere Teil am Fuß hatte, die Sohle war fort. Er musste sich neue Schuhe kaufen. So ein Sportfest ist nur zu empfehlen. Am ersten Abend aßen wir beim Griechen. Was er auftrug, war bescheiden. Erst als der Wirt erfuhr, dass wir eine Woche blieben und häufiger kommen wollten, tischte er richtig auf. Einige in der Gruppe meckerten nach vier Tagen griechischer Küche. Sie wollten in ein deutsches Lokal. Gut, wir taten es. Doch es war ein Reinfall – danach ging's wieder zum Griechen und alle waren einverstanden. An einem Morgen mussten wir zur Generalprobe im Olympiastadion. Eine von uns packte den Rest des Frühstücks ein, auch die gekochten Eier. »Das brauchst du doch nicht«, sagte jemand. „Im Stadion gibt es doch zu essen.“ In der Bahn setzte sich eine Turnkollegin aus Versehen auf die Tasche und zerdrückte die Eier. Die Generalprobe dauerte sechs Stunden. Jedes Bundesland würde im Stadion ein anderes Bild präsentieren. Es regnete und wir jammerten: »Hoffentlich regnet es nicht bei der Abschlussveranstaltung.« Eine Mitreisende erzählte einen Witz. Wir lachten darüber. Da sagte eine: „Oh, die lustige Witwe." Sie meinte mich. Die Übrigen guckten schockiert. Das war nicht schön, und der Vereinskollegin, die es gesagt hatte, wurde das lange nicht verziehen. Zu essen gab es nichts. Wir waren glücklich, dass wir etwas dabei hatten. Sogar die zerdrückten Eier schmeckten. Auf einer Reklametafel überraschte mich die Aufschrift: „Aktiv erleben: KRAFT“. Das war meine Firma, Käse-Kraft in Eschborn, bei der ich seit einer Weile beschäftigt war. Sie unterstützte den Breitensport. Wieder in der Pension angekommen, ging's in die Dusche. Das war ein Trubel! Die Mädels liefen in kurzen Höschen über den Flur. Plötzlich stand ein Herr im dunklen Anzug, mit Hut und weißem Schal vor uns. Er guckte erstaunt und fragte nach der Wirtin. »Die ist in der Küche«, sagte ich und wartete neugierig vor der Tür, hinter der er verschwand. „Was ist hier los?", hörte ich ihn fragen. „Das sind Sportler. Gerade ist doch das Deutsche Turnfest in Berlin. Sie müssen jetzt wieder gehen. Nächste Woche haben wir wieder geöffnet." Oh je, dachte ich. Unsere Pension war eigentlich ein Bordell. Am vorletzten Tag des Turnfestes fand der Festumzug statt. Turnverbände aus vielen Nationen nahmen mit ihren Fahnen teil. Fünf Stunden lange liefen wir in unseren Hessenkitteln auf der dreieinhalb Kilometer langen Strecke, an der...