Amiel / Ingold | Tag für Tag | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Amiel / Ingold Tag für Tag

Intime Aufzeichnungen. Ausgewählt von Leo Tolstoi
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-97999-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Intime Aufzeichnungen. Ausgewählt von Leo Tolstoi

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-492-97999-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Klassiker der Weltliteratur: »Sein Tagebuch wird immer eines jener besten Bücher bleiben, die uns unverhofft hinterlassen wurden.« Leo TolstoiNietzsche, Hofmannsthal und viele andere haben das Tagebuch von Henri-Frédéric Amiel gelesen, bewundert und diskutiert. Erst nach dem Tod des Genfer Philosophieprofessors sind Auszüge aus dem fast 17000 Seiten umfassenden und über 30 Jahre geführten Tagebuch publiziert worden. Es ist das Zeugnis einer bewegten Epoche und ihres Zeitgeistes. Und es ist eines der wichtigsten Werke der europäischen Literatur. Tolstoi war so begeistert, dass er eine Auswahl getroffen und sie auf Russisch herausgebracht hat, übersetzt von seiner Tochter.
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Henri-Frédéric Amiel


Tag für Tag – Journal intime

Berlin, 16. Juli 1848. –– Es gibt nur eines, das notwendig ist: Gott besitzen. – Alle Sinne, alle Kräfte der Seele und des Geistes, alle äußeren Hilfsmittel sind nichts anderes als Lücken, die sich auf die Gottheit hin öffnen: verschiedene Arten, Gott zu kosten und zu verehren. Man muß sich lösen können von allem, was man verlieren kann, sich an nichts anderes absolut binden als an das Ewige und Absolute, und den Rest als Leihgabe, als Nutznießung betrachten … Verehren, verstehen, empfangen, fühlen, geben, handeln: das ist dein Gesetz, deine Pflicht, dein Glück, dein Himmel. Komme, was da will, sogar der Tod. Bring dich in Einklang mit dir selber, mach, daß du dir nichts vorzuwerfen hast, lebe in der Gegenwart und im Gespräch mit Gott, und überlasse die Herrschaft über deine Existenz den allgemeinen Mächten, gegen die du nichts vermagst. Wenn der Tod dir Zeit läßt, um so besser. Wenn er dich dahinrafft, ist es noch besser. Wenn er dich nur zur Hälfte tötet, noch viel besser, er verwehrt dir den Weg zum Erfolg und öffnet dir dafür den zum Heldentum, zum Verzicht und zur moralischen Größe. Jedes Leben hat seine Größe, und da es dir nicht möglich ist, aus Gott herauszutreten, ist es das beste, wenn du ihn bewußt zu deinem Wohnsitz machst.

20. Juli 1848 (Berlin). –– Unsere Epoche auf dem Hintergrund der Universalgeschichte zu beurteilen, die Geschichte vor dem der geologischen Perioden und die Geologie vor dem der Astronomie, ist eine Befreiung für das Denken. Wenn einem die Lebensdauer eines Menschen oder eines Volkes so mikroskopisch vorkommt wie die einer Mücke und, im Gegensatz dazu, die einer Eintagsfliege so unendlich wie die eines Himmelskörpers mit all seinem Staub von Nationen, fühlt man sich sehr klein und sehr groß, und man überragt um die volle Höhe der Sphären seine eigene Existenz und all die kleinen Wirbel, die unser kleines Europa aufregen.

Eigentlich gibt es nur einen Forschungsgegenstand: die Formen und die Verwandlungen des Geistes. Alle anderen Gegenstände führen auf diesen zurück, alle anderen Forschungen führen zurück zu dieser einen.

3. Mai 1849 [1]. –– Du hast nie die innere Sicherheit des Genies verspürt, weder das Vorgefühl des Ruhms noch des Glücks. Du hast dich nie als groß, als berühmt gesehen, nicht einmal als Ehemann, Vater oder als einflußreichen Bürger. Diese Gleichgültigkeit der Zukunft gegenüber, dieses umfassende Mißtrauen sind ohne Zweifel als Zeichen zu nehmen. Was du träumst, ist unbestimmt, unbestimmt; du darfst nicht leben, weil du im Augenblick dazu kaum imstande bist. – Halte dich in Ordnung; laß die Lebenden leben und nimm deine Ideen wieder auf, mach das Testament deines Denkens und deines Herzens: das ist das Nützlichste, was du tun kannst. Verzichte auf dich selbst und nimm deinen Kelch an, mit seinem Honig und seiner Galle, wie immer. Laß Gott in dich hinabsteigen, hülle dich im voraus in seinen Wohlgeruch, mach aus deiner Brust einen Tempel für den Heiligen Geist; tue gute Taten, mach die andern glücklich und besser.

Laß den persönlichen Ehrgeiz, und du wirst dich damit versöhnen, zu leben und zu sterben, wie es sich gibt.

27. Mai 1849. –– Verkannt sein sogar von denen, die man liebt, das ist der bittere Kelch und das wahre Kreuz des Lebens; das ist es, was zu unserer Verwunderung dieses schmerzliche und traurige Lächeln auf die Lippen hervorragender Männer bringt; das ist die grausamste Prüfung, die den Männern bestimmt ist, die sich aufopfern; es ist das, was wohl am häufigsten das Herz des Menschensohns zusammenzog, und wenn Gott leiden könnte, wäre das der Kummer, den wir ihm antun würden, und das Tag für Tag. Auch er, er vor allem ist der große Verkannte, der in höchstem Maß Unverstandene. Ach! Ach! Nicht ermüden, nicht sich abkühlen, geduldig sein, mitfühlend, wohlwollend; auf die Blume achten, die aufblüht, und auf das Herz, das sich öffnet; immer hoffen, wie Gott; immer lieben, das ist die Pflicht.

Die Pflicht hat die Eigenart, uns die Realität der wirklichen Welt fühlen zu machen und zugleich uns von ihr loszureißen.

30. Dezember 1850. –– [Die Beziehung zwischen dem Denken und dem Handeln hat mich oft beschäftigt, gleich nach dem Aufwachen, lange, bevor ich aufstand, und diese seltsame, halb nächtliche Formulierung hat es mir angetan: Die Tätigkeit ist nichts als das verdichtete Denken, das konkret, dunkel, unbewußt geworden ist. Mir schien, daß bereits unsere geringsten Tätigkeiten wie Essen, Gehen, Schlafen der Niederschlag einer Vielfalt von Wahrheiten und Gedanken seien und daß der Reichtum der darin enthaltenen Ideen zur Gewöhnlichkeit der Tätigkeit in einem direkten Verhältnis stehe (so wie der Traum um so lebendiger ist, je tiefer man schläft). Das Geheimnis umgibt uns, und der größte Teil des Geheimnisses liegt in dem, was man jeden Tag sieht und tut. Aus eigenem Antrieb leisten wir demnach eine Arbeit, die der der Schöpfung entspricht: unbewußt in der einfachen Tätigkeit; bewußt in der intelligenten, moralischen Tätigkeit. Im Grund ist das der Satz von Hegel[2], aber noch nie ist er mir so einleuchtend, so faßbar erschienen. Alles, was ist, ist Denken, aber nicht ein bewußtes und individuelles Denken. Die menschliche Intelligenz ist nichts als das Bewußtsein des Seins. Das habe ich früher so formuliert: Alles ist Symbol eines Symbols, und Symbol wovon? Des Geistes.

… Ich habe eben die gesammelten Werke von Montesquieu durchgeblättert und kann mich noch nicht sehr gut über den Eindruck äußern, den dieser eigenartige Stil in seiner kokettierenden Ernsthaftigkeit, seinem gefaßten Sichgehenlassen, seiner überfeinen Kraft, seiner schlauen Kälte auf mich macht; ein Stil, der gleichzeitig so distanziert und so seltsam, zerhackt ist, holprig wie zufällig hingeworfene Notizen, und dennoch gewollt. Mir scheint, es sei hier eine naturgemäß ernsthafte und strenge Intelligenz am Werk, die sich in konventioneller Weise geistvoll gibt. Der Autor will ebensosehr aufreizen wie lehren. Der Denker ist auch ein Schöngeist, der Rechtskonsulent gibt sich den Anschein eines Kleinmeisters, und dem Gericht von Minos hat sich eine Spur der Wohlgerüche von Knidos beigemengt. Es ist die Strenge, wie sie in dem Jahrhundert in der Philosophie und in der Religion üblich war. Bei Montesquieu liegt die Forschung, wenn es denn eine solche gibt, nicht in den Worten, sie liegt in den Gegenständen. Die Sätze eilen ungehemmt und formlos dahin, aber der Gedanke läßt aufhorchen.]

Jede Knospe kommt nur einmal zur Blüte, und jede Blüte kennt nur einen Augenblick vollkommener Schönheit, und so hat auch im Seelengarten jedes Gefühl gewissermaßen seine Hochblüte, das heißt einen einzigen Augenblick zauberhafter Entfaltung und königlichen Glanzes.

Jeder Stern überquert nur einmal des Nachts den Meridian über unseren Köpfen und erstrahlt dort auch nur für einen Augenblick; und so gibt es auch im Himmel der Vernunft für jeglichen Gedanken, wenn man das so ausdrücken darf, einen einzigen Augenblick im Zenit, während dessen er seinen Glanz und seine königliche Majestät entfaltet. Ob Künstler, Dichter oder Denker – erhasche deine Gedanken und Gefühle in diesem bestimmten, wenn auch flüchtigen Augenblick, um sie festzuhalten, sie zu verewigen, denn dies eben ist ihr Höhepunkt. Vor diesem Augenblick gab es für dich lediglich wirre Andeutungen oder dunkle Vorahnungen davon; danach werden bloß abgeschwächte Erinnerungen und ohnmächtige Zerknirschung übrigbleiben. Jener Augenblick ist der Augenblick des Ideals.

Je mehr du dein Kreuz von dir weist, desto schwerer wird dessen Last für dich sein.

Nichts ist dem Hochmut so ähnlich wie die Mutlosigkeit.

Verdruß ist Bosheit, die fürchtet, entdeckt zu werden: ein ohnmächtiges Wüten, das sich seiner Ohnmacht bewußt ist.

Für die Lebensführung bedeuten die Gewohnheiten mehr als die Grundsätze, weil die Gewohnheit ein lebendiger Grundsatz ist, der in Fleisch und Blut übergegangen ist. Seine Grundsätze ändern bedeutet nichts, heißt nur den Titel des Buches ändern. Neue Gewohnheiten annehmen ist alles, denn das trifft das Leben in seiner Substanz. Das Leben ist nur ein Gewebe von Gewohnheiten.

6. April 1851. –– [Wie verletzlich ich doch bin? Wenn ich Vater wäre, wieviel Kummer könnte mir ein Kind machen! Als Ehemann gäbe es für mich tausend Arten zu leiden, weil es tausend Bedingungen für mein Glück gäbe. Die Haut meines Herzens ist zu dünn, die Vorstellungskraft unruhig, ich verzweifle leicht, und dafür halten sich meine Empfindungen um so länger. – Was sein könnte, verdirbt mir das, was ist, die Trauer über das, was sein müßte, nagt an mir. Auch stoßen mich die Wirklichkeit, die Gegenwart, das Unwiderrufliche, das Nötige ab, oder sie erschrecken mich sogar. Ich habe zuviel Phantasie, zuviel Gewissen und Scharfblick und zuwenig Charakter. Nur in der Theorie ist das Leben hinreichend dehnbar, unendlich, wiederherstellbar; vor dem praktischen Leben schrecke ich zurück.

Und trotzdem zieht es mich an, brauche ich es. Das Familienleben vor allem, in seinem Zauber, in seiner zutiefst moralischen Haltung, stellt seine Forderung an...


Ingold, Felix
Felix Philipp Ingold, geboren 1942 in Basel. Professor für Kultur- und Sozialgeschichte Rußlands an der Universität St. Gallen. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den kulturellen Wechselbeziehungen zwischen Rußland und Westeuropa; literarische Übersetzungen aus dem Russischen und Tschechischen.

Amiel, Henri-Frederic
Henri-Frédéric Amiel, 1821-1881 in Genf. Nach mehrjährigen Aufenthalten an den Universitäten Heidelberg und Berlin erhielt er 1849 eine Professur an der Genfer Akademie für Ästhetik, dann für Philosophie, die er bis zu seinem Tod innehatte.



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