E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Amigorena Kein Ort ist fern genug
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8412-2576-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-8412-2576-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der internationale Bestseller über den Umgang mit Schuld und die unerschütterliche Kraft der Liebe Santiago Amigorena erzählt die bewegende Geschichte seines Großvaters: In den Zwanzigern flüchtet Vicente Rosenberg aus Warschau nach Buenos Aires. Dort verliebt er sich in Rosita, gründet mit ihr eine Familie und betreibt ein Möbelgeschäft. Fernab von dem, was in Europa geschieht. Doch mit jedem neuen Brief seiner Mutter aus dem Warschauer Ghetto wachsen Schuld und Ohnmacht. Bis Vicente verstummt und ins innere Exil geht. Rosita aber kämpft weiter - um ihre Liebe, um ihre Familie, um eine Zukunft. Ein ergreifender Roman von großer Dringlichkeit, plastisch und virtuos erzählt. 'Ein tragisches Schicksal, eine erschütternde Erzählung - überwältigend.' OLIVIER GUEZ 'Dieses wunderbare Buch erzählt die Geschichte eines Schweigens, das vielleicht die einzige Antwort auf das Undenkbare darstellt. Und die Geschichte der Worte, die ein Mann für dieses Schweigen findet: Jedes einzelne von ihnen ist treffend gewählt, direkt aus dem Kern des Wesens. Genau das vermag auf ebenso seltene wie kostbare Weise die Literatur.' EMMANUEL CARRERE 'Die ganz eigene Klangfarbe dieses sensationellen Romans hallt nach der Lektüre noch lange nach.' Le Figaro littéraire
Santiago Amigorena, 1962 in Buenos Aires geboren, lebt und arbeitet in Paris. Er ist Autor, Drehbuchautor und Filmemacher. 'A few Days in September' (2006) mit Juliette Binoche, die seine Partnerin war, und Nick Nolte wurde international gefeiert. Sein Roman 'Kein Ort ist fern genug' wurde in Frankreich zum Bestseller, war u. a. für den Prix Goncourt nominiert und erscheint in zwölf Ländern weltweit. Nicola Denis wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Sie übersetzte u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Olivier Guez und Anne Dufourmantelle. Nicola Denis lebt seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Frankreich.
Weitere Infos & Material
Am 13.September 1940 war der Nachmittag in Buenos Aires verregnet und der Krieg in Europa so fern, dass man sich noch in Friedenszeiten wähnen konnte. Die Avenida de Mayo, die von Jugendstilbauten gesäumte große Prachtstraße zwischen Präsidentenpalast und Nationalkongress, war fast menschenleer. Nur ein paar Herren, die mit einer Zeitung über dem Kopf als Tropfenschutz ihre Büros in der Innenstadt verließen, hasteten durch den Regen, um einen Bus oder ein Taxi nach Hause zu ergattern. Zwischen diesen flüchtigen Passanten ging Vicente Rosenberg, von seinem Hut geschützt, gemessenen, aber eiligen Schrittes auf die Tür des Tortoni zu, ein beliebtes Kaffeehaus, in dem man zu dieser Zeit sowohl Jorge Luis Borges und diverse Tangostars als auch europäische Flüchtlinge wie Ortega y Gasset, Roger Caillois oder Arthur Rubinstein treffen konnte. Vicente war ein junger Jude. Oder ein junger Pole. Oder ein junger Argentinier. Eigentlich wusste Vicente Rosenberg am 13.September 1940 noch nicht genau, was er war. Beim Betreten des Cafés erkannte er an einem der kleinen Bistrotische, die gegenüber der Theke an der Wand aufgereiht waren, sofort die massige Erscheinung von Ariel Edelsohn, seinem besten Freund. Die Ellbogen auf das Marmortischchen gestützt und einen Kaffee vor sich, wartete er unweit der Billardtische im Hinterzimmer auf Vicente und las Zeitung. Neben ihm, mit Blick in den Raum, um die Bahnen der Karambolagekugeln verfolgen zu können, saß, nervös wie immer, Sammy Grunfeld, ein junger Mann, der sich oft mit ihnen herumtrieb. Nachdem er den beiden die Hand gedrückt hatte, schüttelte Vicente die Tropfen, die in die dicke Wolle einzusickern drohten, aus seinem Überzieher und setzte sich mit schräg gelegtem Kopf zu seinen Freunden, um die Schlagzeilen in der Zeitung zu entziffern: In Europa tobte die Luftschlacht um England, und die Nazis begannen, die Juden in Ghettos zu sperren. Ariel, von seinen argentinischen Freunden »der Bär« genannt, faltete mit einem tiefen Seufzer die Zeitung zusammen.
»Die Juden nerven mich. Sie haben mich schon immer genervt. Und als ich begriffen habe, dass meine Mutter genauso jüdisch und anstrengend werden würde wie seine, hab ich beschlossen zu gehen.«
»Verglichen mit meiner, ist deine Mutter gar nicht so anstrengend«, erwiderte Sammy, nach wie vor ein Auge auf dem Billardtisch.
Ariel schaute ein bisschen verlegen zu Vicente, aber da dieser mit den Gedanken woanders schien, unterhielt er sich weiter mit Sammy, der ihnen halb den Rücken zukehrte:
»Das Schlimmste ist, dass sie mit zwanzig nur von einem geträumt hatte: das Schtetl zu verlassen und in der Stadt zu leben. Sie fand meine Großmutter anstrengend, aus denselben Gründen, aus denen ich sie heute anstrengend finde …«
»Trotzdem, anstrengend oder nicht, du hast sie dazu gebracht, den Atlantik zu überqueren. Und sie zu dir geholt!«
»Ja … sogar das Schlimmste kann uns manchmal fehlen.«
Belustigt über Ariels feierlichen Tonfall gab Sammy ein kurzes geräuschvolles Lachen von sich, das wie ein Fingerschnipsen klang. Vicente seinerseits schwieg etwas mürrisch. Schon seit Monaten hatte er nicht die geringste Lust, sich über die Ereignisse in Europa zu unterhalten.
»Was ist los, Wincenty? Bist du wegen des Wetters so schlecht gelaunt?«
Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte sich Vicente zu Ariel: Von allen Menschen, mit denen er in Buenos Aires verkehrte, nannte ihn nur Ariel, den er in Warschau kennengelernt hatte, als sie sich mit achtzehn der Armee angeschlossen hatten, immer noch Wincenty.
»Meine Mutter auch – sie ist mit uns aus Chelm weggegangen, als ich klein war, weil sie ihre Eltern nicht mehr ertragen konnte.«
Vicente hatte diese Worte eher unwillig hervorgebracht, und Sammy, dem Vicente und Ariel 1928 auf der Überfahrt von Bordeaux nach Buenos Aires begegnet waren und der sich in dieser undurchschaubaren Stadt damals an sie geklammert hatte wie an einen Rettungsring, versuchte, ein Fazit aus ihrem Wortgeplänkel zu ziehen:
»Das machen wir doch schon seit Urzeiten, oder? Erst lieben wir unsere Eltern, dann finden wir sie anstrengend, und schließlich ziehen wir weg. Vielleicht liegt das ja im Wesen der Juden!«
»Ja … oder der Menschen.«
Nach einer Pause, die viel länger war als angemessen für diese wie tote Vögel auf den Tisch geworfenen Lebensweisheiten, wandte Ariel sich erneut Vicente zu.
»Hast du Neuigkeiten?«
»Nein, der letzte Brief ist schon drei Monate alt. Ich weiß nicht mal, ob sie die zehn Dollar bekommen hat, die ich ihr im Juni geschickt habe.«
»Ich habe mit Jakob gesprochen, er hat ein Telegramm von seinem Cousin bekommen, der noch in die Vereinigten Staaten reisen konnte: Offenbar kriegt man in Warschau nicht mal mehr Briefmarken …«
Um seine Freunde nicht zu beunruhigen, deutete Vicente ein leises Lächeln an und erhob sich, um auf die Toilette zu gehen. Nicht weil er das Bedürfnis hatte, sondern weil es ihm seit einer Weile schwerfiel, sich an diesen endlosen Diskussionen zu beteiligen, die von ihrer Vergangenheit oder ihren Familien ausgingen und seine Freunde regelmäßig auf das abschüssige politische Terrain der Entwicklungen in Europa führten.
Während Sammy und Ariel weiter über den Krieg sprachen, wusch Vicente sich in den geräumigen Toiletten des Tortoni langsam die Hände, bevor er die Augen hob und einen kurzen Blick in den Spiegel warf. Er hatte feine, fast durchsichtige Gesichtszüge. Seine Lippen, seine Augenbrauen, seine zierliche Nase und sein schmaler Schnurrbart (den er sich ungeachtet seiner finanziellen Lage zweimal wöchentlich beim besten Barbier in Buenos Aires stutzen ließ) schienen von einem chinesischen Kalligraphen mit einem so dünnen Pinsel gezeichnet worden zu sein, dass sie fast schattenhaft wirkten. Wenn man an sein Gesicht dachte, fielen einem nicht seine breite Stirn oder die hohen Wangenknochen, auch nicht das Grün seiner Augen oder die rötliche Tönung seiner Haare ein: Es war eher ein unbestimmtes Gefühl, wie ein leichter Nebel, in dem ein scharfer Humor mit einer zärtlichen Melancholie wechselte.
Vicente trocknete sich die Hände und tauschte die frostige Welt der Toiletten aus Marmor und weißen Fliesen wieder gegen die ockerfarbene, gedämpfte Welt des großen Kaffeehaussaals. Er setzte sich zu seinen Freunden, und in seinem Blick lag Zuneigung, aber auch ein bisschen Eifersucht: Anders als Vicente, dessen Mutter und Bruder noch in Polen lebten, war Sammy mit seiner ganzen Familie von dem Alten Kontinent geflohen, und Ariel hatte drei Jahre zuvor, 1937, seine Eltern und seine Schwester überreden können, ihm nach Buenos Aires zu folgen.
»… trotz ihrer berühmten Maginot-Linie haben die Franzosen einen neuen Weltrekord in der schnellsten Niederlage aufgestellt.«
»Aber immerhin nach uns!«
»Bei euch ist das was anderes: Es weiß doch jeder, dass die Polen nie wirklich kämpfen wollten.«
»Stimmt, ihr Russen macht ja nichts lieber als das … vor allem untereinander!«
Sammy seufzte verärgert. Aber Ariel legte ihm wie ein großer Bruder eine Hand auf die Schulter, und der Streit war damit beendet.
»Jedenfalls hätte sich unsere Regierung besser woanders niedergelassen als in London. Angeblich hagelt es dort am laufenden Band Bomben … Was sagst denn du dazu, Wincenty?«
Da Vicente nicht sofort antwortete, kam Sammy ihm zu Hilfe:
»London … Paris … Warschau … Haben wir nicht trotz allem Glück, dass wir hier sind?«
Um seinen Kummer zu überspielen, warf Vicente einen Blick nach draußen, als wollte er prüfen, ob es noch regnete. Ariel nutzte die Sekunde und gab Sammy stumm zu verstehen, dass Vicentes Mutter noch in Polen war, und Sammy biss sich auf die Lippe, um zu signalisieren, dass er seinen Ausrutscher bemerkt hatte. Rings um den kleinen Tisch entstand eine verlegene Pause. Rasch versuchte Ariel, seinem Jugendfreund beizuspringen und dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, indem er sich nach dem Möbelgeschäft erkundigte, das Vicente gerade eröffnet hatte. Um wiederum Ariel zu beruhigen, versuchte Vicente, auf seine Frage einzugehen. Und Sammy bemühte sich, die drückende Stimmung endgültig zu entspannen, indem er einen Witz über das Faible der Argentinier für rustikale Möbel riss. Doch trotz der vereinten Anstrengungen überkam sie eine beklemmende, eisige Stille, die schon, lang bevor sie zu reden aufhörten, zwischen ihre Blicke und bemühten Mienen kroch.
Die drei Freunde tranken ihren Kaffee aus, gönnten sich einen Gin und noch einen zweiten, nahmen ihre Mäntel vom Haken, schlüpften hinein und verließen das Tortoni. Sie standen noch ein Weilchen auf dem Gehweg herum und wechselten unter dem schützenden Vordach ein paar belanglose Worte. Vicente zündete sich eine Commander an, während Sammy ungeduldig wartete und Ariel, »der Bär«, sich mit einem zufriedenen Grunzen streckte: Es waren finstere Tage, aber die Woche war vorbei, und er war wahrlich guter Laune.
»Also … kommst du jetzt mit? Immerhin ist heute Freitag, der 13.!«
Ariel, der seinen Jugendfreund mit seiner kribbelnden Vorfreude auf das Wochenendes anstecken wollte, schlug Vicente vor, sie auf die Pferderennbahn nach Palermo zu begleiten. Doch Vicente ging nicht auf das Angebot ein. Er wettete zwar gern, aber er war auch müde und wollte nach Hause. Ariel insistierte nicht weiter: Von den drei Freunden hatte Vicente als einziger Kinder, und sie mussten ihn manchmal einfach in Ruhe nach...