Anderl | Das Universum und ich | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Anderl Das Universum und ich

Die Philosophie der Astrophysik
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25740-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Philosophie der Astrophysik

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-446-25740-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Astrophysiker wissen verdammt viel: dass das All zu 26 Prozent aus dunkler Materie besteht und das Schwarze Loch im Zentrum der Galaxie M87 so viel wiegt wie 6,6 Milliarden Sonnen. Doch wie kommen sie eigentlich zu diesem Wissen? Könnte das Universum in Wahrheit nicht ganz anders aussehen? Die Philosophin und Astrophysikerin Sibylle Anderl erzählt mitreißend von der Arbeit der Astronomen, die aus kleinsten Indizien wie dem Lichtspektrum oder der Bewegung der Sterne darauf schließen, woraus Planeten bestehen und über welche Masse Schwarze Löcher verfügen. Ihr Buch ist eine Liebeserklärung an die Erforschung des Weltalls. Und eine faszinierende philosophische Reise zu den Grenzen unseres Wissens.

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Weitere Infos & Material


1.
Wie real ist das Universum? Alles nur ausgedacht?
Die narzisstische Kränkung, die ich in der Uckermark erfahren hatte, hing mir noch einige Zeit nach. Dann entdeckte ich Ian Hacking. Ian Hacking ist ein kanadischer Philosoph, geboren 1936, der ein ziemlich bekanntes Einführungsbuch in die Wissenschaftsphilosophie geschrieben hat. Der Clou an diesem Buch ist, dass es eines der ersten ist, das sich sehr ausführlich mit wissenschaftlichem Experimentieren beschäftigt. Lange Zeit hatte die Philosophie so getan, als würde es in der Wissenschaft vor allem darum gehen, Theorien zu prüfen: Man denkt sich eine wissenschaftliche Hypothese aus und schaut dann, ob sie wirklich stimmt. Wie man das genau macht und machen sollte, das wurde philosophisch im Detail untersucht. Am bekanntesten ist dabei wohl Karl Popper mit seinem berühmten Falsifikationskriterium und der Forderung, Theorien immer wieder auf die Probe zu stellen, da es erheblich einfacher ist, zu zeigen, dass eine Hypothese nicht stimmt, als dass sie wahr ist. Wenn ich beweisen will, dass alle Fische Kiemen haben, kann ich mein ganzes Leben lang Fische mit Kiemen fangen und habe trotzdem keinen abschließenden Beweis. Aber wenn ich nur einen einzigen Fisch ohne Kiemen fangen würde, könnte ich mich etwas anderem widmen, denn ich hätte gezeigt, dass meine Hypothese falsch ist. Poppers Forderung entspricht der hypothetisch-deduktiven Methode: Man schließt von einem der Hypothese widersprechenden Einzelfall (dem Fisch ohne Kiemen) auf die Falschheit der Hypothese. Das Experiment war in dieser traditionellen philosophischen Sicht nur eine Art Hilfsmittel für die Entwicklung, Überprüfung und Verbesserung wissenschaftlicher Theorien. Ian Hacking war Mitte der 1980er-Jahre einer der ersten Philosophen, die die Eigenständigkeit von Experimenten betonten. Experimente führen laut Hacking ein Eigenleben: Die wissenschaftliche Praxis läuft keinesfalls so geordnet ab, dass zuerst die Theorie kommt und dann experimentell geprüft wird, ob sie stimmt. Oft werden Experimente auch »einfach so« gemacht, aus reiner Neugierde, weil man sehen will, was passiert. Nicht selten folgt die Theorie auch erst aus den Experimenten, nämlich dann, wenn man etwas Unerwartetes beobachtet, für das es noch keine Erklärung gibt. Manchmal kommt es vor, dass Theoretiker schon eine Erklärung entwickelt haben, von der die Experimentatoren gar nichts wussten. Das war zum Beispiel der Fall, als die berühmte kosmische Hintergrundstrahlung, das »Babyfoto des Universums«, entdeckt wurde. Die beiden Radioastronomen Arno Penzias und Robert Woodrow Wilson testeten eigentlich ein neues, besonders empfindliches Radioteleskop für die Kommunikation mit Satelliten. Als sie auf eine schwache Strahlung stießen, die gleichmäßig aus allen Richtungen kam, glaubten sie zuerst an einen Fehler ihrer Messung und vertrieben sogar Tauben, um die Tiere als potenzielle Signalquelle ausschließen zu können. Letztendlich stellte sich aber heraus, dass sie zufällig diejenige vom Urknall stammende Strahlung entdeckt hatten, die von Theoretikern fast zeitgleich vorhergesagt worden war. Für diese Entdeckung bekamen Penzias und Wilson sogar den Nobelpreis, obwohl sie bei ihrer Messung von der Theorie, die sie mit ihrem Experiment bestätigten, überhaupt keine Ahnung gehabt hatten. Ian Hacking ist also ein großer Fan wissenschaftlichen Experimentierens und Verfechter des von Theorien unabhängigen, hohen Stellenwertes wissenschaftlicher Experimente. Das geht bei ihm sogar so weit, dass er in seinem Buch behauptet, wir wüssten nur aufgrund von Experimenten, dass die Dinge, die von der Wissenschaft vorhergesagt werden, wirklich existieren. Nur wenn wir Dinge manipulieren, wenn wir mit Dingen interagieren könnten, seien wir sicher, dass es sie auch gibt. Wir kennen das aus dem Alltag: Mein Kollege zum Beispiel kann mir viel von seinem neuen Volvo erzählen und mir gerne auch Fotos zeigen, aber wenn ich gerade in einer skeptischen Phase bin (weil ich weiß, dass mein Kollege auch gern mal Quatsch erzählt), dann glaube ich erst, dass es die Familienkutsche auch wirklich gibt, wenn ich sie anfassen kann und am besten selbst einmal Probe gefahren bin. So in etwa denkt sich Ian Hacking das auch für die Wissenschaft. Das heißt natürlich auch, dass Ian Hacking kein besonders großer Fan der Astrophysik ist, denn mit Probefahrten sieht es hier schwierig aus: Spätestens jenseits des Sonnensystems ist für uns Schluss. Kein Mensch wird sich aller Voraussicht nach jemals ein supermassereiches Schwarzes Loch aus der Nähe ansehen können. Wir werden nie einen Roten Riesen mit einer Rakete beschießen können und gucken, was passiert. Wir werden nie auf einem Braunen Zwerg stehen und ausprobieren, wie hoch wir springen können. Langer Rede kurzer Sinn: An jenem Tag, einige Monate nach meiner Uckermark-Erfahrung, stieß ich auf einen philosophischen Aufsatz, den Ian Hacking sechs Jahre nach Veröffentlichung seines Einführungsbuches geschrieben hatte. In ihm vertritt er die Auffassung, dass die Astrophysik etwas ganz Besonderes ist (Yeah!!). So weit, so erfreulich. Der Teufel steckt aber im Detail. Denn der Grund, warum die Astrophysik etwas ganz Besonderes ist, ist laut Hacking, dass wir nicht ohne Weiteres behaupten können, dass es all das, wovon Astrophysiker reden, auch wirklich gibt. Vielleicht existieren Schwarze Löcher, elliptische Galaxien, Molekülwolken, Galaxienhaufen und Supernovae gar nicht. Vielleicht haben sich Astrophysiker all das nur ausgedacht. Vielleicht lachen wir bald alle darüber. Bitter. Da will man gerne besonders sein und findet endlich jemanden, der einem das auch bestätigt. Und dann stellt sich heraus, dass diese Besonderheit darin besteht, dass man keine ordentliche Wissenschaft betreibt. Um meine Ehre als Astrophysikerin zu retten, blieb daher nichts anderes übrig, als Hackings These des »Antirealismus« in der Astrophysik genauer nachzugehen. Gibt es Tische?
Realismus, ausgerechnet. Meine schulische Philosophiekarriere war genau am Realismus gescheitert. In der ersten Stunde der Philosophie-AG hatte sich der Lehrer vor uns hingesetzt, auf den Tisch vor sich gedeutet und gefragt: »Existiert dieser Tisch wirklich?« Dann hatte er bedeutungsschwer in die Runde geblickt. Mit diesem Satz hatte sich damals für mich entschieden, dass Philosophie nichts für mich ist. Schließlich gibt es wirklich Wichtigeres, über das man nachdenken kann, als Fragen, die offensichtlich sinnlos sind. Ich hatte mein ganzes bisheriges Leben lang Tische recht erfolgreich benutzt (normalerweise sogar mehrmals am Tag) und dabei nie irgendwelche Probleme mit ihren Existenzeigenschaften gehabt. Schön, dass es Leute gab, die offenbar ein komplexeres Verhältnis zu Tischen pflegten, aber zu denen wollte ich definitiv nicht gehören. Meine Teilnahme an der Philosophie-AG hatte sich damit schnell erledigt. Nachdem es mich über Umwege später im Studium dann doch wieder zu den Menschen verschlug, die gerne über Möbel und die Frage ihrer Existenz reden, kam ich allerdings doch nicht umhin, mich etwas genauer mit deren Argumenten auseinanderzusetzen. Das Grundproblem ist offenbar Folgendes: Das meiste, wenn nicht sogar alles, was wir von der Welt wissen, wissen wir durch unsere Sinneserfahrungen. Wir sehen, fühlen, riechen und schmecken die Welt. Aber gleichzeitig wissen wir, dass wir dabei keine hundertprozentige Erfolgsquote aufweisen. Wir können uns jederzeit irren und tun das auch oft. Damit nicht genug, manchmal ist noch nicht einmal klar, ob das, was wir sehen, fühlen, riechen und schmecken, Eigenschaften der Dinge sind, oder ob wir nicht vielmehr der Welt unsere Wahrnehmungseigenschaften aufprägen. Die Wahrnehmung von Farben unterscheidet sich zum Beispiel stark zwischen Menschen und verschiedenen Tierarten. Wenn wir einen roten Ball sehen, ist dieser Ball dann wirklich rot? Wir haben hier offenbar ein grundsätzliches Handicap: Zwischen uns und der Welt stehen immer unsere Sinne, und die sind sehr spezifisch menschlich. Wie die Welt ist, ohne dass irgendjemand sie beobachtet, ohne dass ich sie beobachte, kann ich so ohne Weiteres nicht sagen. Ich nehme an, dass meine Wahrnehmung ziemlich nah dran ist an der Wirklichkeit. Aber wie kann ich sicher sein? Vielleicht würde ich die Welt völlig anders wahrnehmen, wenn ich 200 Jahre früher geboren worden wäre. Mit Sicherheit nähme ich sie anders wahr, wenn ich eine Fledermaus wäre. Aber wie ist die Welt denn nun wirklich? Mit diesem Gedankengang sind wir dann ziemlich schnell bei Filmen wie Matrix, wo unsere Welt eine computergenerierte Scheinwelt ist, die von bösen Intelligenzen künstlich in unseren Gehirnen generiert wird. Vielleicht sind wir alle nur eingelegte Gehirne, die durch neurologische Impulse davon überzeugt werden, sie würden in einer realen Welt existieren und handeln. Wer weiß das schon? Wenn wir ehrlich sind, niemand. Aber wenn das so wäre, dann hätte mein alter Philosophielehrer die Frage nach der Existenz des Tisches zu Recht gestellt, so viel ist klar. Gleichzeitig muss man aber sagen: Davon auszugehen, dass es so ist, bringt einen auch nicht so richtig weiter. Neulich habe ich eine Freundin zum Teetrinken besucht. Wir saßen in ihrer wunderschönen Altbauwohnung in Berlin-Mitte auf einem alten Plüschsofa. Auf dem massiven, alten Holztisch vor uns dampfte der Kräutertee, während auf meinem Schoß die Langhaarkatze schnurrte und mich und das Sofa langsam mit den Haaren bedeckte, die ich aus ihrem Fellwust streichelte. In diese gemütliche Atmosphäre...


Anderl, Sibylle
Sibylle Anderl,
Jahrgang 1981, hat im Fach Astrophysik über Stoßwellen im interstellaren Medium promoviert und in Philosophie ein Magisterstudium abgeschlossen. Zurzeit forscht sie als Gastwissenschaftlerin zu den Themen Sternenentstehung und Astrochemie am Institut de Planétologie et d’Astrophysique de Grenoble. Seit Januar 2017 ist sie Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und schreibt für das Feuilleton sowie das Wissenschaftsressort.



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