E-Book, Deutsch, Band 1428, 64 Seiten
Reihe: Notärztin Andrea Bergen
Anders Notärztin Andrea Bergen 1428
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7517-1345-0
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Späte Versöhnung
E-Book, Deutsch, Band 1428, 64 Seiten
Reihe: Notärztin Andrea Bergen
ISBN: 978-3-7517-1345-0
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit schmerzhaft pochendem Herzen tritt Mildred näher an die Hecke. Stimmen dringen zu ihr, und sie sieht zwei Menschen auf der Terrasse des großen Hauses sitzen. Die junge Frau mit dem dunklen Pferdeschwanz muss ihre geliebte Tochter sein. Julia!
Mit brennenden Augen blickt Mildred auf das Paar am Tisch. Kein Zweifel - es ist Julia, ihre Tochter, die sie als Achtjährige bei Nacht und Nebel zurückgelassen hat! Zwanzig Jahre lang hat Mildred sie schmerzlich vermisst - bis sie es nicht mehr ausgehalten hat. Doch nun, da sie ihre geliebte Tochter endlich vor sich sieht, wird sie von schlimmsten Schuldgefühlen geradezu zerrissen.
Abrupt dreht sie sich deshalb um und läuft davon, ohne nach rechts und links zu blicken. Autohupen zerreißt die Stille, Bremsen quietschen - und Mildreds letzter Gedanke ist: Jetzt wird es nie mehr eine Versöhnung mit meinem geliebten Kind geben ...
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Späte Versöhnung
Zwanzig lange Jahre hat Mildred Späth darauf gewartet, ihre Tochter Julia endlich wiederzusehen und ihr die drei entscheidenden Worten sagen zu können: »Bitte verzeih mir!« Doch bei dem unerwarteten Wiedersehen der beiden Frauen auf der stark befahrenen Straße ist es zu einem tragischen Unfall gekommen! Vor den Augen ihrer Tochter ist Mildred von einem Kleintransporter erfasst und lebensgefährlich verletzt worden. Nun ringt sie auf der Intensivstation mit dem Tod – und nur ein Wunder kann sie retten!
Für mich ist es sehr schwer, Julias tiefe Verzweiflung mit ansehen zu müssen, denn ich weiß, wie schmerzlich sie ihre Mutter von frühster Kindheit an vermisst hat! Und ich möchte, dass sich Mildreds innigster Wunsch erfüllt: dass sie Julia für ihre alte Schuld um Verzeihung bitten kann und dass sie vielleicht wieder zueinanderfinden ...
Es war das Klappen der Haustür gewesen, das Julia geweckt hatte. War jemand gekommen? Oder gegangen? Aber es war doch mitten in der Nacht!
Julia lauschte in die Dunkelheit. Erst blieb alles still, dann hörte man ein Auto wegfahren. Es war also jemand aus dem Haus gegangen.
Mama? Papa?
Ängstlich stieg sie aus dem Bett. Etwas stimmte nicht. Der Streit der Eltern fiel ihr wieder ein. Es war am Abend gewesen, als Julia schon im Bett gewesen war. Nicht, dass die Stimmen sehr laut gewesen wären. Doch Julia hatte gleich gemerkt, dass sie sich nicht nur unterhielten oder über einen Film im Fernsehen anderer Meinung waren. Die Stimme ihres Vaters hatte böse geklungen, und es hatte sich so angehört, als hätte ihre Mama geweint.
Eine schreckliche Angst überkam Julia. War es Mama gewesen, die aus dem Haus gegangen war? Und wo wollte sie in der Nacht noch hin?
Auf bloßen Füßen tappte Julia zur Tür und öffnete sie. Schon im Flur konnte sie ihren Vater schnarchen hören. Er war also zu Hause. Dann konnte es nur Mama gewesen sein, die fortgegangen war. Oder hatte sie das Klappen der Haustür bloß geträumt?
Ganz leise und vorsichtig öffnete Julia die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Im schwachen Schein der Flurbeleuchtung konnte sie erkennen, dass nur ihr Vater in dem Doppelbett lag. Auf der Seite ihrer Mutter war die Bettdecke zurückgeschlagen.
Julias Lippen begannen zu beben. Mama war fort. Mitten in der Nacht!
Ebenso leise und vorsichtig schloss Julia die Tür wieder. Vielleicht war Mama nur ins Bad gegangen? Aber es gab keinen Lichtschein, der darauf hindeutete. Trotzdem sah sie überall nach. Im Bad, im Gästezimmer und in den anderen beiden Zimmern, die so gut wie nie benutzt wurden. Es war ein großes altes Haus, in dem Julia sich manchmal nachts fürchtete, weil alles so düster und verwinkelt war. Nur am Tag machte es einen hellen, freundlichen Eindruck.
»Mama?«, rief Julia voller Angst. »Mama!« Doch nur das gedämpfte Schnarchen ihres Vaters antwortete ihr.
Julia ging die Treppe hinunter. Sie schaute in die Küche und in alle anderen Räume, doch überall war es dunkel und nirgendwo eine Spur von ihrer Mutter.
Mama war fort. War sie gegangen, weil sie und Papa sich wieder gestritten hatten, wie so oft in letzter Zeit? Würde sie wiederkommen, und wann?
Neue Angst überkam Julia. Was war, wenn Mama nie mehr zurückkam?
Die Vorstellung versetzte sie in Panik.
»Mama!«, rief sie wild. »Mama! Mama! Mama!«
***
Julia Späth wachte von ihrem eigenen Schrei auf. Zitternd setzte sie sich im Bett auf. Wie oft hatte sie diesen Traum schon gehabt?
In den letzten zwanzig Jahren, seit ihre Mutter sie und ihren Vater verlassen hatte, war sie immer wieder von diesem Traum heimgesucht worden und schweißgebadet hochgeschreckt.
Julia sah auf den Wecker. Es war kurz vor fünf Uhr. Draußen graute der Morgen, auf der Straße fuhren die ersten Autos.
Julia seufzte. Es würde keinen Sinn haben, sich noch einmal umzudrehen. Sie würde in der einen Stunde, bis der Wecker klingelte, nicht mehr einschlafen können. Besonders nicht nach diesem Traum, der ihr diese schreckliche Nacht von damals wieder auf schmerzliche Weise nahegebracht hatte.
Ihr war, als wäre es erst gestern gewesen, dass ihre Mutter auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, und nicht vor langer Zeit, als sie gerade acht Jahre alt gewesen war.
Julia stand auf und ging ins Bad. Die warme Dusche tat ihr gut und vertrieb die Schrecken der Nacht. Doch die Erinnerungen an damals ließen sich nicht ganz vertreiben, auch nicht, als sie später in der gemütlichen Wohnküche saß und ihre erste Tasse Kaffee trank.
Julia ging hinunter ins Kellergeschoss, wo sie sich neben dem Hobbyraum ihres Vaters einen Fitnessraum eingerichtet hatte. Sie machte ihre Morgengymnastik, die hauptsächlich aus einer Reihe von Yoga-Übungen bestand.
Sie genoss es, heute ein wenig länger trainieren zu können. Denn oft blieb ihr am Morgen nicht viel Zeit, bevor sie sich auf den Weg zu den verschiedenen Hebammenpraxen machte, mit denen sie zusammenarbeitete. Julia war Yoga-Lehrerin und hatte sich auf Schwangerschafts-Yoga spezialisiert.
Sie machte sich daran, den Frühstückstisch zu decken und Eier zu kochen. Im ersten Stock hörte sie eine Tür gehen. Ihr Vater war also aufgestanden.
Kurz darauf kam er in die Küche. Er murmelte einen Morgengruß und ging zur Kaffeemaschine, um sich seine Lieblingstasse voll zu schenken, die Julia für ihn bereitgestellt hatte.
»Guten Morgen, Papa. Gut geschlafen?«, fragte sie gewohnheitsmäßig.
Brummig ließ sich Udo Späth mit seinem dampfenden Kaffeebecher auf der Eckbank nieder und nahm sich die Zeitung her. Er war ein ausgesprochener Morgenmuffel, und seit er Rentner war, spielte sich jeden Morgen die gleiche Szene ab.
Julia setzte sich an ihren Platz und schnitt sich ein Brötchen auf.
»Greif zu, Papa«, forderte sie ihren Vater auf, dessen Gesicht hinter der Zeitung verborgen war.
Er ignorierte es und las weiter. Julia köpfte ihr Ei.
»Ich hatte wieder diesen Traum«, begann sie. Es drängte sie danach, darüber zu sprechen.
Udo ließ die Zeitung sinken. Er faltete sie zusammen und legte sie neben sich auf die Eckbank. »Welchen Traum?«
»Du weißt schon. Der Traum, als Mama gegangen ist und ich sie nirgends finden konnte. Er verfolgt mich immer noch.«
»Hör mir mit deiner Mutter auf!«, versetzte Udo unwirsch. »Hast du sie noch immer nicht vergessen?«
Julia schluckte. Jetzt wünschte sie, nicht davon angefangen zu haben. Sie wusste doch, wie ihr Vater reagierte, wenn sie ihre Mutter erwähnte.
»Welches Kind kann seine Mutter vergessen?«, fragte sie leise.
»Welche Mutter lässt ihr Kind im Stich und haut mit einem anderen Kerl ab?«, hielt ihr Vater dagegen.
»Schon gut, Papa.« Julia nahm einen Löffel voll von ihrem Ei, auch wenn sie keinen Appetit mehr hatte.
Das Frühstück verlief schweigend. Udo hatte sich wieder hinter seiner Zeitung verschanzt und biss ab und zu in sein Brötchen.
Julia war froh, als es an der Zeit war, sich für den Arbeitstag fertig zu machen. Sie stellte ihr leeres Gedeck neben der Spüle ab. Ihr Vater würde sich wie gewohnt um den Rest kümmern, bevor er sich in seinen Hobbyraum zurückzog und den Tag mit seiner Modelleisenbahn, dem Dartboard oder den Modellbauschiffen verbrachte.
Wenig später saß sie im Auto und fuhr zu ihrem ersten Termin. Es war die Hebammenpraxis am Stadttor. Sechs schwangere Frauen hatten ihren Schwangerschafts-Yoga-Kurs belegt und warteten dort auf sie.
Julia begrüßte sie und erkundigte sich bei jeder Einzelnen, wie es ihr an diesem Morgen ging. Alle fühlten sich prächtig und freuten sich auf die Yoga-Stunde. Nur eine der werdenden Mütter klagte über Rückenschmerzen. Julia trainierte nach Ende der Stunde noch gesondert mit ihr.
Ihr letzter Termin vor der Mittagspause war in der Hebammenpraxis von Christiane Stellmacher, mit der sie auch privat befreundet war. Oft gingen sie dann anschließend zusammen zum Mittagessen. Das wollten sie auch heute wieder tun.
Allerdings kam es erst zu einem Zwischenfall. Bei einer Kursteilnehmerin, deren Geburt nächste Woche bevorstand, platzte plötzlich die Fruchtblase. Entgeistert blickten sie und die anderen Frauen auf den nassen Fleck, der sich auf ihrer Matte ausbreitete.
»Oh nein!« Panik stand im Blick der werdenden Mutter. »Ich glaube, es geht los!«
Auch Julia hatte einen Schrecken bekommen. Rasch lief sie nach nebenan, um Christiane zu holen. Sie hatte gerade eine Patientin, doch diese musste sich nun ein paar Minuten gedulden.
Die Hebamme untersuchte die schwangere Frau und stellte fest, dass der Muttermund bereits geöffnet war.
»Das wird nicht mehr allzu lange dauern«, meinte sie. »Bald werden die Eröffnungswehen einsetzen. Ich lasse Sie ins Krankenhaus bringen, Frau Stadler.«
Die werdende Mutter zitterte vor Aufregung am ganzen Leib. Christiane verabreichte ihr ein leichtes Beruhigungsmittel und rief den Rettungswagen.
Es dauerte nicht lange, bis eine Sirene zu hören war. Dann verkündete Christiane Stellmachers Sprechstundenhilfe auch schon, dass der...




