E-Book, Deutsch, Band 4, 416 Seiten
Reihe: Die Casteel-Saga
Andrews Nacht über Eden
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95530-788-2
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 4, 416 Seiten
Reihe: Die Casteel-Saga
ISBN: 978-3-95530-788-2
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Heaven Leigh Casteel erlebt mit Logan Stonewall und den Kindern Annie und Luke wunderbare Jahre des Familienglücks. Dann geschieht das Schreckliche: Heaven und Logan kommen bei einem Autounfall ums Leben, Annie überlebt, ist aber an den Rollstuhl gefesselt; und dies ist erst der Anfang von Annies Leidensweg...
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1. KAPITEL
FAMILIENGEHEIMNISSE
»O nein!« rief Drake, der plötzlich hinter mir stand. Ich war so in meine Malerei vertieft, daß ich ihn nicht hatte kommen hören. »Nicht schon wieder ein Bild von Farthinggale Manor mit Luke, der am Fenster steht und in die Wolken starrt!« Drake verdrehte die Augen.
Luke setzte sich rasch auf und strich eine Haarsträhne aus der Stirn. Immer wenn ihn etwas ärgerte oder aufregte, spielte er an seinem Haar herum. Ich wandte mich langsam zu Drake um und versuchte, ihn ebenso mißbilligend anzusehen, wie meine Englischlehrerin Miß Marbleton es tat, wenn sich jemand schlecht benahm oder eine unpassende Bemerkung machte. Doch Drake lachte spitzbübisch, und seine schwarzen Augen glänzten wie zwei funkelnde Edelsteine. Er konnte sich rasieren, so oft er wollte, immer lag auf seinen Wangen und seinem Kinn ein dunkler Schatten. Meine Mutter fuhr ihm oft liebevoll mit der Hand über die Wange und meinte, er solle die Stachelschweinborsten abrasieren.
»Drake«, sagte ich mit einem sanften Vorwurf in der Stimme.
»Nun, ist doch wahr, Annie, oder?« Drake war hartnäckig.
»Du hast jetzt schon mindestens ein halbes Dutzend Bilder gemalt, auf denen Luke durch den Park von Farthy spaziert. Dabei ist er niemals dort gewesen.« Er hob die Stimme, um uns daran zu erinnern, daß er selbst sehr wohl in Farthinggale Manor gewesen war. Ich wandte den Kopf zur Seite, wie es meine Mutter tat, wenn ihr plötzlich etwas einfiel. Sollte Drake etwa eifersüchtig sein, weil ich immer nur Luke bat, mir Modell zu sitzen? Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, Drake zu malen, denn er hatte nicht die Geduld, lange stillzusitzen.
»Meine Bilder von Farthy sind immer anders«, rief ich verletzt. »Wie könnte es auch anders sein? Ich richte mich nur nach meiner Phantasie und dem wenigen, was ich von Mammi und Daddy erfahren habe.«
»Du glaubst doch nicht, daß irgend jemand das bemerken würde?« warf Luke ein und sah von seinem Englischbuch auf. Drake grinste.
»Was hat der große Buddha gesagt?« Seine Augen funkelten boshaft. Er war immer glücklich, wenn er Luke mit einer spöttischen Bemerkung ärgern konnte.
»Drake, bitte, du verdirbst mir die Stimmung«, rief ich. »Ein Künstler muß den Augenblick einfangen und ihn festhalten wie einen kleinen Vogel . . . sanft und doch entschlossen.« Ich haßte es, wenn Luke und Drake sich stritten. Meine flehenden Blicke und Bitten waren erfolgreich. Drakes Gesicht wurde sanfter, seine Haltung entspannte sich. »Es tut mir leid. Ich dachte nur, ich könnte unseren Platon für einen Moment von hier entführen. Wir brauchen drüben in der Schule einen neunten Mann zum Baseballspielen«, fügte er hinzu.
Luke sah von seinem Englischbuch auf und schien völlig überrascht über diese Einladung. Seit Drake in diesem Frühjahr für die Semesterferien nach Hause gekommen war, hatte er fast die gesamte Zeit mit seinen älteren Freunden verbracht.
»Nun, ich . . .«, Luke sah mich an. »Ich muß für die Prüfung lernen, und ich dachte, während Annie mich malt . . .«
»Schon gut, Einstein«, unterbrach ihn Drake, und seine Stimme triefte vor Sarkasmus. »Weißt du, Bücher sind nicht alles im Leben«, fügte er altklug hinzu. »Es ist nämlich auch wichtig, daß man die Menschen kennt, daß sie einen mögen und respektieren. Das ist das Geheimnis des Erfolgs. Die Leute, die heute leitende Positionen innehaben, haben oft mehr auf dem Sportplatz als im Klassenzimmer gelernt«, meinte er belehrend und schwang dabei den schlanken Zeigefinger der rechten Hand in der Luft. Luke antwortete nicht. Er strich sich mit den Händen das Haar zurück und betrachtete Drake mit einem stoischen, durchdringenden Blick, den dieser nicht ertragen konnte. »Ach, ich weiß, ich verschwende nur meine Zeit.«
Damit wandte sich Drake wieder meinem Bild zu:
»Ich habe dir doch schon gesagt, daß Farthy grau und nicht blau ist«, wies er mich zurecht.
»Du warst doch erst fünf Jahre alt, als du dort gewohnt hast. Wie kannst du dir da so sicher sein?« warf Luke ein.
»So ein riesiges Haus vergißt man nicht«, sagte Drake und kräuselte die Lippen.
»Aber du hast auch gesagt, daß es draußen zwei Swimmingpools gäbe! Und Logan hat dir widersprochen und erzählt, daß einer draußen und einer im Haus ist«, fuhr Luke fort. Wenn es um Farthy ging, nahmen Luke und ich beide alles sehr genau und klammerten uns an jede Kleinigkeit, die wir erfahren hatten. Man hatte uns so wenig erzählt.
»Ach tatsächlich, Sherlock Holmes?« antwortete Drake, und seine Augen wurden schmal. Er ließ sich nicht gerne zurechtweisen, vor allem nicht von Luke. »Nun, ich habe nie behauptet, daß beide Schwimmbecken draußen waren; ich habe nur gesagt, daß es zwei gab. Du hörst eben nicht zu, wenn ich etwas sage. Es wundert mich, daß du in der Schule so gut bist. Wie machst du das nur?«
»Drake, bitte!« rief ich.
»Es stimmt doch, er hört nicht zu! Außer wenn du ihm etwas sagst«, fügte er hinzu und lächelte befriedigt, da er einen wunden Punkt getroffen zu haben glaubte. Luke errötete, und ein trauriger Blick aus seinen blauen Augen streifte mich.
Ich sah über ihn hinweg, hinüber zu den Willies, die im Licht der ersten Sonnenstrahlen glänzten. Der Wind trieb jetzt einen Wolkenfetzen vor sich her, der die Form einer Träne hatte. Plötzlich verspürte ich das Bedürfnis zu weinen. Es war nicht nur der Streit zwischen Luke und Drake, der mich bedrückte. Immer wieder überkam mich diese Melancholie wie eine dunkle Wolke, die sich vor die Sonne schob. Dann verspürte ich oft das Bedürfnis zu malen; denn wenn ich vor meiner Leinwand saß, schwand die Traurigkeit, und ein tiefer Frieden erfüllte mich. Auf der Leinwand erschuf ich die Welt meiner Träume und Wünsche. Ich konnte es für immer Frühling werden lassen oder einen strahlenden, wunderbaren Winter herbeizaubern. Ich fühlte mich, als hätte ich magische Kräfte; ich konnte in meinen Gedanken ein Bild heraufbeschwören und es dann auf der leeren Leinwand erstehen lassen. Während ich an meinem letzten Bild von Farthy gearbeitet hatte, hatte ich gespürt, wie mein Herz leichter und die Welt um mich herum immer heiterer geworden war, als sei ein dunkler Schatten, der auf meiner Seele gelastet hatte, gewichen. Jetzt, da Drake mir die Stimmung verdorben hatte, fühlte ich, wie mich erneut eine Welle der Trauer überspülte.
Plötzlich wurde mir bewußt, daß Luke und Drake mich anstarrten. Beide schienen bestürzt über mein betrübtes Gesicht. Hastig schluckte ich meine Tränen hinunter und lächelte ihnen durch den Schleier vor meinen Augen zu.
»Vielleicht ist jedes meiner Bilder von Farthinggale Manor anders, weil sich das Haus selbst verändert«, sagte ich schließlich mit leiser Stimme. Lukes Augen leuchteten freudig auf, und ein Lächeln spielte um seine weichen Lippen. Er wußte, was dieser Ton in meiner Stimme verhieß. Wir würden unser Märchenspiel spielen und unsere Phantasie unbekümmert schweifen lassen. Ohne Scheu würden wir Dinge sagen, die anderen siebzehn- oder achtzehnjährigen Teenagern kindisch vorkommen würden.
Aber dieses Spiel hatte noch eine andere Bedeutung für uns. Hier konnten wir Dinge aussprechen, die wir sonst nicht zu sagen gewagt hätten. Ich konnte seine Prinzessin sein und er mein Prinz. Indem wir uns hinter Phantasiegestalten verbargen, konnten wir zum Ausdruck bringen, was wir im Innersten unserer Herzen füreinander empfanden.
Drake schüttelte den Kopf. Auch er wußte, was nun kommen würde.
»O nein«, rief er, »ihr werdet doch nicht schon wieder anfangen.« Auf seinem Gesicht lag gespielte Verzweiflung.
»Vielleicht ist Farthy nur im Winter grau und düster und im Sommer hell, blau und freundlich«, begann ich und blickte zu dem strahlend blauen Himmel empor. Dann wandte ich meinen Blick Luke zu.
»Vielleicht ist es immer so, wie du es dir gerade wünschst«, sagte Luke und spann den Faden weiter. »Wenn ich mir wünsche, daß es aus Zucker und Ahornsirup besteht, dann wird es so sein.«
»Zucker und Ahornsirup?« feixte Drake.
»Und wenn ich will, daß es ein wunderbares Schloß ist, mit Hofmarschall, Hofdamen und einem traurigen Prinzen, der sich nach seiner Prinzessin sehnt, dann wird es so sein«, antwortete ich mit erhobener Stimme, um ihn zu übertönen.
»Darf ich der Prinz sein?«, fragte Luke rasch und stand auf. Unsere Blicke sanken ineinander, und mein Herz begann heftig zu pochen, als er auf mich zukam.
Er ergriff meine Hand; seine Finger waren warm und weich. Nun war sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt . . .
»Meine Prinzessin Annie«, flüsterte er. Mein Herz klopfte stürmisch. Gleich würde er mich küssen.
»Nicht so schnell, ihr Turteltäubchen«, mischte sich Drake plötzlich ein und humpelte mit gekrümmtem Rücken auf mich zu, als sei er alt und bucklig. »Ich bin Tony Tatterton«, raunte er mit drohender Stimme, »und ich komme, um Eure Prinzessin zu entführen, Sir Luke. Ich lebe im tiefsten, dunkelsten Teil des Schlosses Farthy, und sie wird mit mir kommen und für immer in meiner Welt gefangen sein. Sie wird die Prinzessin der Finsternis werden«, stieß er mit einem boshaften Lachen hervor.
Luke und ich starrten ihn an. Der überraschte Ausdruck auf unseren Gesichtern schien ihn zu verunsichern, und sein Körper straffte sich wieder. »Was für ein Blödsinn«, meinte er. »Jetzt habe ich mich selbst hinreißen lassen.« Er lachte.
»Es ist kein Blödsinn. Unsere Phantasien und Träume...