E-Book, Deutsch, 162 Seiten
Ansari Die Spur vom Trappenküken
5. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8197-2786-3
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 162 Seiten
ISBN: 978-3-8197-2786-3
Verlag: epubli
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Salman Ansari (* 1941 in Badaun, Indien) musste 1947 mit seiner Familie nach Lahore in Pakistan fliehen und kam 1958 nach Deutschland. Ab 1962 studierte er in Karlsruhe und an der TU Darmstadt Chemie (Promotion 1974). Von 1974 bis 2005 war er Lehrer an der Odenwaldschule. Seine Pädagogik liegt im Formulieren eines einfachen, kindorientierten Konzepts des Lernens, vor allem für das Begreifen von Naturphänomenen. Neben seinem Chemiestudium wandte sich Ansari auch der deutschen Literatur zu. Er veröffentlichte Besprechungen und Texte u.a. in der Frankfurter Rundschau und der FAZ und gestaltete Hörfunkbeiträge für den Süddeutschen Rundfunk. In dieser Zeit lernte er auch den Büchnerpreisträger Wolfgang Hildesheimer kennen. 1996 gab er Hildesheimers Schule des Sehens heraus.
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Ankunft
Ende August kommt Usman in Deutschland an. Es ist früh am Morgen. Jörn ist schon auf. Er hat sein Bett gemacht. Hier ist Jörns Bett, hier sind seine Hausschuhe, und hier ist sein Pyjama und das Nachthemd. Hier ist sein Geigenkasten, seine Hefte mit den Noten. Usman hört, wie er in der Küche einen Stuhl bewegt. Er hört Wasser aus dem Wasserhahn laufen, hört, wie das Wasser in einen metallischen Topf gefüllt wird. Wieder hört er wie ein Stuhl auf dem Steinboden bewegt wird. Er hört das Geräusch von Seiten, die umgeblättert werden, hört, wie Jörn summt. Sekundenlang hört er den Dampf, der durch eine enge Öffnung strömt, gefolgt von einem unmittelbar pfeifenden Alarm. Er hört eilig zur Seite geschobene Stühle. Und sehr bald dringt der Duft von Kaffee in seine Nase, der ihn einlädt, zu Jörn herüber zu kommen. Er bleibt jedoch im Bett liegen. Er hört Jörns Mutter. Sie sagt, dass sie jetzt bereit ist. Jörn öffnet leise die Zimmertür, greift eilig nach seiner Geige und dem Metronom. Er hat jetzt sein Zimmer verlassen und die Tür wieder hinter sich geschlossen. Usman hört, wie Jörn die Geige stimmt. Während seine Mutter die Tasten des Klaviers drückt, räuspert sich Jörn, als würde er sich aufs Singen vorbereiten. Ein paar Sekunden lang herrscht Stille, dann die geschmeidige erste Berührung des Bogens auf den Saiten. Das Klavier, anscheinend fragend und antwortend, begleitet die klingenden Saiten ermutigend, oder reagiert es vielmehr auf Jörns inneres Singen?
Die Moleküle der Luft beginnen im Gefolge der Melodien zu schwingen und zu rotieren, Usman meint, sie körperlich zu spüren und er sehnt sich nach einem Platz auf dem Bett seiner Eltern, genau zwischen seiner Mutter und dem Vater. Aber wie sehen diese Moleküle aus? Vielleicht sind sie rund und gefüllt mit bangem Verlangen. Möglicherweise hat Usman das Gefühl, dass sie rund sind, weil sie jetzt so offensichtlich in die Mikrokosmen vordringen, die er von zu Hause mitgebracht hat und ihn nun erzittern lassen, während er in diesem weichen und warmen Bett liegt.
Hier ist Usmans Vater; hier ist das Grammophon auf seinem Nachttisch, hier die kleine Metallschachtel mit den Nadeln, hier die Schallplatten, hier das gelbe Stück Stoff, um den Staub abzuwischen. Usman sieht seinen Vater, wie er eine Schallplattenhülle betrachtet. Er studiert die Buchstaben. Der deutsche Titel auf der Hülle bleibt für ihn bedeutungslos. Er weiß, dass Franz Schubert die Musik komponiert hat. Usman hält den Atem an. Eine Baritonstimme, begleitet von Klavier, ertönt aus dem Trichter, lässt Vaters Musik erklingen: „Schöne Welt, wo bist du.“ Usmans Vater versteht die gesungenen Wörter nicht, doch Usman hört ihn ab und zu seufzen.
Der Klang dieses Seufzen liegt noch immer in der Luft, obwohl weiterhin Tausende von Kilometern zwischen dem Schlafzimmer seiner Eltern und seinem Bett liegen. Manchmal, wenn er sich in einer dieser hier so seltenen warmen und dunklen Nächten nach seinem Vater sehnt, schlüpft er aus seinem Bett und schleicht sich in die untere Etage des Hauses, wo es einen Zugang zum Balkon gibt. Eingehüllt in schwarzer Nacht hört er in die West- und Ostwinde hinein. Hin und wieder vermeint er, Vaters Seufzen zu hören.
Jetzt herrscht Stille. Jörn hat sein Spiel vorläufig beendet, das Pianoforte schweigt. „Schöne Welt, wo bist du?“
Es ist das Jahr 1958. Seit September lebt er in Deutschland. Noch vor wenigen Tagen stand er im Bahnhof von Genua. Der Zug hatte Verspätung. Die Lautsprecheransagen wurden auf Italienisch durchgegeben. Er war sich nicht sicher, ob er auf dem richtigen Bahnsteig stand. Doch dann fuhr ein Zug ein. An den Waggons wurden die Zielorte angezeigt. Er stieg ein. Unbegreiflich, wie gut Abba für ihn die Reise geplant hatte. Alles stimmte vollkommen mit seinen Reisepapieren überein.
Bisher hatte er nicht einmal ein Foto von irgendeinem Ort in Deutschland gesehen. Die Sitze im Zug waren genau so bequem wie die Sessel in der Bibliothek des Schiffes, das ihn von Karachi nach Genua Heimat gewesen war. Die Fahrgeschwindigkeit des Zuges war so schnell, dass ihm bange wurde. Usman weiß, dass er den Zug in Köln verlassen muss.
„Wenn du dort angekommen bist, suche das Studentenwerk der Universität auf, stand auf einem Zettel in Abbas Handschrift.
Er sieht immer noch die freundlichen Gesichter junger Menschen, die sich über sein Erscheinen sichtlich freuen. Usman erhält einige Adressen; übernachtet erst einmal in einem Hotel. Innerhalb von zwei Tagen findet er eine Bleibe bei Frau Schüler. Sie versteht Englisch im Gegensatz zu den Menschen, die er bisher angesprochen hat. „Ich möchte jungen Menschen helfen, und auch meine Wohnung nicht leer stehen lassen. Mein Sohn Jörn wird in zwei Wochen nach England verreisen, dort hat er als Geiger eine Stelle gefunden“, sagt sie. Ihr erklärt er, weshalb der Vater ihn ermutigt hat, nach Deutschland zu reisen.
Frau Schülers Wohnung hat mehrere Zimmer, die von einer geräumigen Diele aus betreten werden können. Eine Zimmertür wird von Frau Schüler geöffnet: „Das ist Ihr Zimmer, das Sie vorläufig mit Jörn teilen werden.“ Zwei Betten mit grauem Bettüberwurf stehen an den Wänden, der Raum dazwischen ist mit einem Wollteppich ausgestattet. Am Kopfende der Betten befinden sich jeweils eine Kommode, darauf je eine elektrische Lampe. Die Wand neben der Eingangstür sieht man kaum, davor steht ein Regal und daneben ein hölzerner Kleiderschrank. Das Zimmer ist hell erleuchtet, durch ein großes Fenster scheint die Sonne. Unterhalb des Fensters steht ein schmaler Schreibtisch und wirft das Tageslicht dunkelbraun zurück. Das Mobiliar kommt Usman bis auf die verzierten Kommoden nicht fremd vor.
„Das Badezimmer teilen wir. An der Wand neben dem Waschbecken habe ich für Sie zwei gelbe Waschlappen und ein Handtuch gehängt. Einmal die Woche können Sie die Badewanne nutzen“, erklärt ihm Frau Schüler. „Nun kommen Sie bitte mit in die Küche, es wird Zeit, dass Sie eine Kleinigkeit essen.“ Usman geht mit Frau Schüler weiter. “Hier ist die Küche“, zeigt ihm Frau Schüler. Der Raum sieht aber nicht wie die Küche von Ismail, dem Koch in Lahore aus. Sie ist versehen mit einem Holzschrank dessen Türen teilweise wie holzgerahmte Fenster aussehen. Auf dem Steinboden stehen ein großer Tisch und mehrere Stühle. An einer Wand erkennt er Wasserhähne, darunter ein graues Becken aus Stein. Er sieht keine Holzscheite, auch nicht einen Ofen aus Lehm. Unweit der Küchentür erhebt sich ein Objekt, es scheint mit Marmorstein ausgekleidet zu sein. Um dieses Objekt herum, befinden sich bodennah Holzbänke. „Das ist ein Kachelofen“, sagt Frau Schüler. Gegenüber steht ein Herd mit zwei Kochflächen.
Das Wohnzimmer erinnert ihn an zuhause. Auch dort steht ein Sofa gegenüber mehreren Sesseln und dazwischen ein ovaler Holztisch.
Frau Schüler merkt wohl, dass er einen großen, schwarzglänzenden Gegenstand bestaunt, der im Wohnzimmer steht. „Das ist ein Flügel“, sagt sie. „Ein Flügel?“
Einen länglichen Deckel hebt Frau Schüler hoch, ihre Finger gleiten über schwarze und weiße Tasten. In der Luft vibrieren Töne, deren Klang ihn an die Musik erinnern, die durch das Schlafzimmer des Vaters ungestört in sein Zimmer gelangten und ihn in Welten zu tragen schienen, wo niemand zuvor gewesen war.
„Vor vier Tagen wäre einer meiner Söhne 35 Jahre geworden“, sagt Frau Schüler. Usman versteht sie nicht, traut sich nicht, Fragen zu stellen. Bei der weiteren Führung durch die Wohnung öffnet Frau Schüler zwei Türen nicht.
Am nächsten Tag begleitet sie ihn zur Polizeibehörde. Sie spricht mit einem Mann in Uniform, und während sie mit ihm spricht, schaut der Mann Usman freundlich an. Als sie die Behörde verlassen, ist eine Seite seines Passes mit einem Stempel versehen: „Aufenthaltserlaubnis.“
Bald findet Frau Schüler heraus, dass es für ihn besser wäre, auf einem Abendgymnasium das Abitur abzulegen. „Tagsüber hätten Sie dann Zeit, die Sprache zu erlernen. Ich werde Ihnen dabei helfen.“
Frau Schüler findet es selbstverständlich, dem jungen Mann aus einem fernen Land zu helfen. Seit er bei ihr wohnt, ist die Atmosphäre in ihrer Wohnung für sie etwas behaglicher. Merkwürdigerweise erinnern sie all die Möbelstücke nicht mehr ständig an die Aura, die diese ausstrahlten, als sie den Alltag mit ihrem Mann und den beiden Söhnen teilte, auch seit der Abreise von Jörn, ist der Abschiedsschmerz nicht mehr so quälend.
Der Leiter des Abendgymnasiums begrüßt Usman herzlich. Er spricht Englisch. „Ich freue mich sehr, dass ein junger Mensch aus Indien die Reifeprüfung zu absolvieren gedenkt. Es gibt dabei eine Hürde, die werden wir aber überwinden. Englisch beherrschen Sie ja sicher bereits. Deutsch geht nicht als Fremdsprache. Eine zweite Fremdsprache muss aber Gegenstand der Prüfung sein. Wir haben jedoch Schüler deutscher Herkunft, die in Polen und Russland aufgewachsen sind. Ihnen wird Polnisch bzw. Russisch als zweite Fremdsprache zuerkannt. Nach dem Gleichheitsprinzip müsste man Ihnen erlauben, ihre Muttersprache als zweite Fremdsprache geltend zu machen. Ich werde mich darum bemühen. Seien Sie unbesorgt.“ Herr Benz, so heißt der Direktor, begleitet ihn bis zur Ausgangstür.
Was meinte er mit „Prinzipal of equality?“ Das Wort hört Usman zum ersten Mal.
An seinen Vater schreibt er: „Es ist unbegreiflich, wie ich hier von allen Menschen unterstützt werde.“ Dieses Gefühl war ihm all die Jahre in Pakistan fremd.
Tatsächlich...