Antoon | Irakische Rhapsodie | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 133 Seiten

Reihe: Lenos Babel

Antoon Irakische Rhapsodie

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-85787-970-8
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 133 Seiten

Reihe: Lenos Babel

ISBN: 978-3-85787-970-8
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In der Direktion der Staatssicherheit wird ein Manuskript gefunden, das ein Gefangener in einer Art Geheimschrift verfasst hat. Ein Parteigenosse erhält den Auftrag, den verdächtigen Text lesbar zu machen. Sein Urheber ist Furât, Anglistikstudent und angehender Schriftsteller. Lange hatte er gezögert, bevor er die weißen Blätter zu füllen begann, die ihm ein Mitinsasse heimlich zugesteckt hatte. Ein gefährliches Unterfangen. Das Land befindet sich im Krieg, das totalitäre Regime duldet keinerlei Abweichung.
In faszinierendem Wechsel zwischen Erinnerung und Gegenwart, Reflexion, Angst- und Wunschträumen schildert Furât das Leben der Studenten mit seinen abstrusen Verordnungen und Verboten, den aufgezwungenen Massenveranstaltungen, aber auch die glücklichen Momente mit seiner Geliebten Arîdsch und seiner Großmutter – zwei nicht konformen Frauen, die ganz entscheidend zu seinem Durchhalten beitragen.
Schreiben als Widerstand: Mit der "Irakischen Rhapsodie" ist Sinan Antoon ein eindrucksvolles, poetisches Debüt gelungen.

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Ich betrachtete zwei Wolken, die schweigend am Himmel von Bagdad dahinjagten. Sie flohen nach Westen – vielleicht schämten sie sich – und liessen mich auf einer Bank unter der »französischen Palme« zurück, wo ich wie allmorgendlich auf Arîdsch wartete. Französisch nannten wir die Palme, weil sie die einzige vor der Abteilung für französische Sprache war. Ich suchte nach etwas Lesenswertem in der Republik. Auf der Kulturseite war eine schöne Übersetzung eines Gedichts von Pablo Neruda abgedruckt, umzingelt von anderen Texten, die für die Partei und die Revolution kläfften und grunzten. Die Palmwedel über mir applaudierten freundlich dem Monat April, der gerade begann, dem »Monat der Gabe: der Geburt der Partei und des Gröfaz«, des Grössten Führers aller Zeiten, wie ein Plakat an der Wand des Fakultätsgebäudes hervorhob. »Guten Morgen.« Es war nicht Arîdschs milchwarme Stimme, die ich erhofft hatte, sondern diejenige Abu Omars, seines Zeichens Sicherheitsoffizier an der Englischabteilung, zu deren Studenten ich zählte. Er trug graue Hosen und ein weisses Hemd mit offenem Kragen. In seiner Begleitung befand sich einer von der gleichen Gattung, ein etwas kurz geratener Mann mit eckigem Gesicht und solidem Schnurrbart. Er war in einen blauen Safarianzug gekleidet, wie ihn die Sicherheits- und Geheimdienstleute mit Vorliebe tragen, und zwar zu jeder Gelegenheit und zu jeder Jahreszeit. »Genosse Salâch«, stellte ihn Abu Omar in seinem Samarra-Dialekt vor, den er sich krampfhaft dem Dialekt von Tikrît anzunähern bemühte, der Heimatstadt des Gröfaz. Salâch streckte seine Hand aus und schüttelte die meine. Abu Omars leicht rötlicher Schnurrbart erinnerte mich immer an die Kakerlaken, die bei Nacht unser Haus übernahmen und alle Chlorattacken überlebten, die wir gegen sie führten. Und wie die meisten seiner Kollegen unternahm Abu Omar keinerlei Anstrengung, die Seite zu verbergen, mit der und für die er tätig war. Sein völlig unregelmässiger und wirklich nur sporadischer Unterrichtsbesuch war ebenso wie sein vorgerücktes Alter (er hatte die dreissig schon überschritten) klares Indiz dafür, dass er kein gewöhnlicher Student mehr war. Während des Krieges wurden Schüler unmittelbar nach ihrem Schulabschluss in die Armee eingezogen. Ausgenommen waren nur jene, die höhere Studien in Angriff nahmen oder Dispens erhielten, um ein Universitätsdiplom zu erwerben. Doch niemandem war es gestattet, die Zeit an der Universität über Gebühr zu verlängern oder mehr als ein Diplom zu erweben. Abu Omar hatte es jedoch mit höherer Hilfe geschafft, nach dem dritten Jahr in der Arabischabteilung im vergangenen Jahr, in der Englischabteilung neu zu beginnen! »Genosse Salâch möchte dir ein paar Fragen stellen.« Mir wurde ein wenig unbehaglich, und ich antwortete vage: »Nur zu.« »Könntest du uns begleiten?«, fragte Salâch mit einem boshaften Lächeln. »Wohin?« »Aufs Amt. Nur für eine halbe, drei viertel Stunde.« Das war der Augenblick, an dessen mögliches Eintreten ich schon oft gedacht hatte, jedoch ohne das hinreichende Quantum an Vorsicht walten zu lassen, um ihn zu verhindern. Abu Omar nahm meine Bücher, die auf der Bank neben mir lagen, und reichte sie mir. Ich stellte keine weiteren Fragen, und gemeinsam gingen wir zum Haupttor. Immer hatte ich genörgelt, wie lang die Strecke zwischen dem Tor und den Unterrichtsräumen war. Diesmal jedoch schien der Weg über den frühmorgendlichen Platz ausgesprochen kurz. Ich kam gern schon etwas früher, um dem grossen Gedränge zu entkommen. Auch an diesem Tag waren noch nicht viele Studierende da. Ich suchte nach einem bekannten Gesicht, in der Hoffnung, es werde mein Verschwinden registrieren. Auch an Arîdsch dachte ich und an ihre ständigen Warnungen, ebenso an meine Oma, an ihre inständigen Gebete und die Kerzen, die sie täglich in der Kirche für mein Wohlergehen entzündete. Wir überquerten den Platz, der die Englischabteilung von der Geographie- und Geschichtsabteilung trennt, vorbei am Zimmer des Dekans und am Büro der Nationalen Studentenunion. Dann bogen wir nach links ab zum Haupteingang. Durch das Eisentor hindurch sah ich einen Mitsubishi mit getönten Fenstern. Er stand vor der Tür des Fakultätsgebäudes, an dessen Wand eine Gedenktafel prangte, die vor Jahresfrist angebracht worden war, nachdem der erleuchtete Gröfaz dort den Schwärendoktor1 der Rechte erhalten hatte. Er trug darauf Doktorhut und -umhang und hielt die Urkunde in der Hand. »Feder und Finte2 haben dieselbe Mündung«, hiess es darunter. Um nicht wahnsinnig zu werden bei den Gesängen, den Slogans und den Gedichten, mit denen uns das Kultur- und Informationsministerium täglich bombardierte, hatte ich mir angewöhnt, mit ihren Wörtern und Bildern zu spielen und sie nach Lust und Laune neu zu ordnen. Ich begann mit politischen Gesängen, die durch geringe Retuschen da und dort viel realistischer wurden. Im Namen des Volkes und der Nation zielte ich mit der Mündung meiner unsichtbaren Feder und brachte die Dinge wieder ins Lot. Haus um Haus, des Führers Besuch – Haus um Haus, der Bürger Fluch oder Seine Blicke uns betören – seine Hände uns zerstören oder Aus seiner leuchtenden Visage duftet’s wie aus meinem Aasche. Als wir bei dem Auto ankamen, sprang an der Fahrerseite ein Mann heraus und riss die beiden hinteren Türen auf. Salâch machte mir ein Zeichen einzusteigen. Ich starrte Abu Omar, der keinerlei Anstalten traf mitzukommen, hasserfüllt an, stieg ein und setzte mich auf den rechten Hintersitz. Salâch schloss die Tür, ging ums Auto und richtete sich neben mir ein, nicht ohne sich zuvor, mit Handschlag und Kuss, von Abu Omar zu verabschieden. Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, kehrte auf den Fahrersitz zurück. Neben ihm nahm ein weiterer Platz, der eine Sonnenbrille trug. Das Auto verliess die Uni Richtung Wasirîja, vorbei an der Buchhandlung, wo ich allemal Bücher kaufte. Gleich dahinter bogen wir nach rechts in die Muhammad-al-Kâssim-Schnellstrasse ein und folgten dieser nach Süden Richtung Volksstadion. Im Radio wurden die Morgennachrichten verlesen. Von meiner Stirn fiel ein Schweisstropfen auf mein rechtes Brillenglas – ein Hohn auf meinen Versuch, wie ein Fels zu erscheinen. Es war das erste Mal seit der ersten Kriegswoche, als iranische Flugzeuge Bagdad angegriffen und Dutzende von Bomben abgeworfen hatten, dass ich echte Panik verspürte und an den Tod dachte. Die Muhammad-al-Kâssim-Schnellstrasse führte über einen alten Friedhof, auf dem das Grab der Sajjida Subaida liegen soll, der Ehefrau des Kalifen Harûn al-Raschîd, vielleicht auch einer anderen Subaida aus späterer Zeit; ausserdem dasjenige von Nâsim al-Ghasâli. Das Bild der syrischen Schauspielerin, die in der Harûn-al-Raschîd-Serie die Rolle der Subaida gespielt hatte, vermischte sich mit Nâsim al-Ghasâlis Stimme, die klagend sang: Die mir das Leben bitter gemacht, die mich in Folterverliese gebracht – oben auf der Musajjib-Brück liessen sie mich allein zurück. Was sie wohl mit mir vorhatten? Sarmad hatte recht! Hatte wirklich jemand einen Bericht über mich verfasst? Hatten sie vielleicht etwas von mir aufgenommen? Einen dieser Witze, die ich immer wieder erzählte, oder meine Stimme, wie ich den Tikrîter Dialekt des Führers nachäffte. Hätte ich doch auf meine Oma hören sollen? »Halt draussen den Mund, mein Junge«, sagte sie immer. »Was soll ich denn tun, wenn du nicht mehr da bist? Dann kann ich doch nur noch vor Kummer sterben. Hüte deine Zunge, sonst schneiden sie sie dir ab. Die da fürchten Gott nicht.« Salâch unterbrach die grossmütterliche Stimme und antwortete spöttisch auf die Fragen, die ich mir gestellt hatte. Er schien zu wissen, was mir durch den Sinn ging. »Uns gefallen deine Ansichten und deine Gedanken. Wir möchten sie aus deinem eigenen Mund hören.« Dann, mit einem Blick auf den Friedhof, der sich hinter uns entfernte, fügte er hinzu: »Auch den Esprit, den du besitzt.« »Und was ist die Absicht dabei?« Ich tat, als wüsste ich nicht, worum es ihm ging. »Du weisst doch genau, was die Absicht ist. Pass ja auf! Wir wissen so manches über dich.« Er grinste boshaft. Bei der Nidâlstrasse bog das Auto ab. Ich war überzeugt, es gehe zur Staatssicherheit. Die Schweisstropfen auf meiner Stirn mehrten sich. Mein Herz wurde zu einem Stamm von Trommeln, die einander jagten. Das Auto durchquerte die Nebenstrassen in dem Wohngebiet, das an den Komplex der Staatssicherheit angrenzte. Wir fuhren an einem kleinen Mädchen vorbei, das auf einer Kreuzung in der Nähe des staatlichen Symphonieorchesters mit dem Fahrrad fuhr. Wie oft hatte ich nicht darüber...


Sinan Antoon, geboren 1967 in Bagdad als Sohn eines irakischen Vaters und einer US-amerikanischen Mutter, studierte englische und arabische Literatur sowie Arabistik. Lebt seit 1991 in den USA. Er veröffentlichte Romane, Gedichte und Essays. Daneben ist er als Übersetzer und Dokumentarfilmer ("About Baghdad") sowie als Assistenzprofessor an der New York University tätig. www.sinanantoon.com.



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