E-Book, Deutsch, Band 440, 300 Seiten
Reihe: Die Andere Bibliothek
Appel Unser Rousseau
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8412-3256-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie ein Genfer Uhrmachersohn die Aufklärung überwand und sie damit vollendete
E-Book, Deutsch, Band 440, 300 Seiten
Reihe: Die Andere Bibliothek
ISBN: 978-3-8412-3256-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was haben die Globalisierungskritiker, die Ökologiebewegung mit ihrer Suche nach alternativen Lebensentwürfen, die Utopie von der Gleichheit der Menschen und die Dialektik der Aufklärung - die Verlustgeschichte des Fortschritts - mit dem berühmten Bürger von Genf zu tun? Er war ein maßgeblicher Stichwortgeber seiner Epoche, der Zivilisationskritiker seiner Tage. Bis heute treibt er uns um: Der Uhrmachersohn in den glänzenden Salons von Paris war vermutlich der Erste, der in kompromissloser Schärfe ein Unbehagen an der Aufklärungskultur artikulierte und sich der Gesellschaft verweigerte; der Erste, der darüber schrieb und damit den Zorn anderer Aufklärer wie Voltaire, Diderot und anderer Enzyklopädisten auf sich zog. Er erkannte, dass der Fortschritt einen enormen Preis hat, sprach von einer 'Selbstentfremdung' des modernen Menschen und beklagte die Anmaßungen der Moderne und der Vernunft. Er war Aufklärer über die Aufklärung, der mit seinen Gedanken von der Rückbesinnung auf den 'natürlichen Menschen' die Französische Revolution wie kaum ein anderer beeinflusst hat: modernes Demokratieverständnis, Staatstheorien und Verfassungsdebatten, die Berufung auf ein Naturrecht als Grundlage der Staatsgewalt und die Einforderung eines Gesellschaftsvertrages vor dem Hintergrund des französischen Feudalabsolutismus. Unser Rousseau ist das Porträt eines bahnbrechenden Repräsentanten der Spätaufklärung und dabei ein Epochenbild, in dem die europäischen Gesellschaftsverhältnisse, die Debatten seiner Zeit mit unserem heutigen Selbstverständnis in ein erhellendes Verhältnis gesetzt werden.
Sabine Appel, geboren 1967, ist freie Autorin mit Schwerpunkt Europäische Ideengeschichte. Studium der Germanistik und Philosophie in Mannheim und Heidelberg mit Promotion 1995. Zahlreiche geistesgeschichtliche Biographien u. a. über Goethe, Nietzsche und Schopenhauer, Luther und Heinrich den Achten, Katharina von Medici und Madame de Staël.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Träumereien eines einsamen Spaziergängers
Die Petersinsel im Bieler See im bernischen Drei-Seen-Land in der Schweiz ist eines von Rousseaus künstlichen Paradiesen. Er kultivierte sie, und er machte sie für die Nachwelt unsterblich; aber künstlich sind sie deshalb, weil zivilisatorisch kein Weg zurückführt. Das Paradies ist unwiederbringlich verloren. Das ist die Ausgangsthese seines wirkungsmächtigen Werkes – einer Verlustgeschichte, die ihresgleichen sucht in der Kulturgeschichte Europas.
Rousseau widmet dem Idyll dieser Insel in seinem letzten, postum erschienenen Werk »Träumereien eines einsamen Spaziergängers« ein ganzes Kapitel, und dieses steht weder am Anfang der Textsammlung noch am Ende – obgleich es ein Höhepunkt ist –, sondern genau in der Mitte. Der erzählende Autor, der in der Ich-Form schreibt, bezeichnet die zwei Monate, die er dort auf der Insel verbrachte (es waren sechs Wochen, um ganz genau zu sein), als die glücklichste Zeit seines Lebens. Er hätte, so schreibt er, ohne weiteres auch zwei Jahre, zwei Jahrhunderte oder eine ganze Ewigkeit dort verbringen können, ohne sich auch nur einen Augenblick zu langweilen. Der Augenblick wird hier zur Ewigkeit, die reine Gegenwart, die beschrieben wird im Zauber des vollkommenen Einklangs mit der Natur, wird zum »nunc stans«, zum stehenden Jetzt. Die Zeit scheint aufgehoben und das Ich mit der Welt versöhnt. Einen größeren Ausdruck von Harmonie kann es zum Lebensausklang nicht geben. Die Dissonanzen sind aufgelöst, das Ich ist heimgekehrt zu sich selbst. Da es eigentlich in der Entfremdung lebt, wie die Menschen aller Zeiten an allen Orten, mehr oder weniger, ist diese beschworene Harmonie eine Apotheose des authentisch gewordenen Ich, das sich sämtlicher Elemente gelebter Entfremdung durch verderbliche Einflüsse völlig entledigt hat. Das Ich jenseits der korrupten Gesellschaft, die es ja zugleich selbst ist, denn was sollte »die Gesellschaft« anderes sein als wir alle? Das Paradoxon, das daraus entsteht, kann offensichtlich nur in der Meditation aufgelöst werden, und das, aneinandergereihte Meditationen, sind diese Träumereien eines einsamen Spaziergängers, der dabei ist, sein Ich freizulegen von der Entfremdung, um eine letzte und gültige Heimkehr möglich zu machen, wie er sie sah.
Da der Aufenthalt eine Zuflucht war, hat es mit dem Inselidyll, topographisch gesehen, eine äußerst spezielle Bewandtnis. Um die schöne Insel herum ist gewissermaßen feindliches Land, und der glückliche Inselbewohner hegt überhaupt nicht die Absicht, von dieser schönen Insel jemals wieder zu weichen. Er hätte es damals vorgezogen, so seine Schilderungen im Rückblick, dass man ihm dieses Refugium als Gefängnis auf Lebenszeit bestimmt und zugleich jede Möglichkeit genommen hätte, sie jemals wieder verlassen zu können, indem ihm sogar jeglicher Kontakt mit dem Festland untersagt worden wäre. Was in der Welt geschah, wäre nicht mehr zu seiner Kenntnis gelangt, und nach einer Weile hätte er sie ebenso vergessen wie sie ihn. So beschreibt er es.
Weltflucht und kontemplative Betrachtung. Das Erdentreiben aus der Distanz, aber wie durch ein Vergrößerungsglas prismenartig gebrochen. Hier bewegt sich der Autor in einer langen Tradition, als er sich anschickt, seine »Träumereien« der Nachwelt zu übergeben, als letztes Vermächtnis vielleicht, in einer Schrift über die letzten Dinge. Der Römer Seneca schrieb über die Seelenruhe als Zeitgenosse und ehemaliger Erzieher des berüchtigten Kaisers Nero, auf dessen Befehl hin er schließlich seinem Leben ein Ende setzte. Petrarca, der Früh-Humanist, beschwor die produktive Einsamkeit in Verbindung mit einem intensiven Naturerleben, woraus er zugleich eine neue Rolle des Menschen entwarf, die Maßstäbe setzte. Montaigne floh vor der Pest und vor den Wirren der Religionskriege im Zeitalter der Katharina von Medici in seinen berühmten Turm, um Betrachtungen über die Unbeständigkeit des menschlichen Daseins anzustellen und damit aber zugleich jeden objektiven Wahrheitsanspruch zu relativieren. »La vida es sueño«, »Das Leben ein Traum«, würde ein spanischer Dichter einer ganz anderen Zeit, Calderón, diesen träumerischen Ich-Zustand einmal ins Wort fassen, in dem der Mensch auf nur halbbewusste Art zu Erkenntnissen über Welt und Leben gelangt. Auch Rousseau, der frühere Zeitgenosse, folgt dieser Spur.
Der Hintergrund für das sechswöchige Inseldasein auf der Petersinsel im Bieler See, das der Autor in der Erinnerung beschreibt, ist eine von vielen dramatischen Fluchtepisoden, zu denen Rousseau gezwungen war, um den Zensurbehörden und ihren Verfolgungen zu entkommen. Sowohl das katholische Frankreich als auch die Heimat des Autors, die calvinistische Schweiz, sahen in seinen Schriften eine Bedrohung der bestehenden Ordnung, die unterbunden werden musste, sodass ihm wiederholt nur die Flucht blieb. Es war die Zeit seiner berühmtesten Werke, die alle in schneller Folge und zum Teil parallel in den zurückliegenden Jahren entstanden waren. Anfang 1761 erschien der Briefroman »Julie oder: Die Neue Héloise«, im Folgejahr der Erziehungsroman »Émile« sowie die staatstheoretische Schrift »Der Gesellschaftsvertrag«. Mit Letzterem wird Rousseau bis heute identifiziert, aber der Liebes- und der Erziehungsroman bargen nicht weniger Zündstoff, und sie wurden auch nicht weniger zum Gegenstand von Zensur und Verfolgung. Von den diversen Revolutionen, die Rousseau auslöste, war der Sturm auf die Bastille elf Jahre nach seinem Tod wahrscheinlich die, die am wenigsten in seinem Sinne war und die er auch kaum gewollt hätte. Seine Umwälzungen reichten aber viel tiefer, und das zeigen auch die vermeintlich unpolitischen träumerischen Meditationen, in denen sich das Ich von der Welt emanzipiert.
»Julie oder: Die Neue Héloise« ist die unmögliche und tragische Liebesgeschichte der adeligen Julie d’Étange und ihres bürgerlichen Hauslehrers Saint-Preux. Der Roman hat die Herzen bewegt und unzählige literarische Nachahmungen ausgelöst. Goethes »Werther« war eine von ihnen, die aber weniger Standesdebatten und korrupte Gesellschaftsverhältnisse in den Mittelpunkt rückt als vielmehr die problematische Unbedingtheit des Individuums und seine am Ende fatalen psychologischen Grenzgängereien bis hin zum Selbstmord aus Liebe, denen das weibliche Gegenüber eine ordnungsstiftende Kraft gegenüberstellt, was diese Unbedingtheit des Protagonisten gleichsam delegitimiert. Doch wie auch immer: Das Thema – Individuum versus Gesellschaft – es bleibt, und es bleibt skandalös hier wie dort. Die Liebe der beiden Romanfiguren Julie und Saint-Preux bei Rousseau, die nicht zusammenkommen, weil Julie einen Adeligen heiraten und damit auch den Wünschen ihres Vaters entsprechen muss, steht für die Reinheit und Unverbrüchlichkeit eines Naturgesetzes, das seine Berechtigung einfordert gegenüber den Vorurteilen, falschen Werten und unnatürlichen Standesregeln der feudalen Gesellschaft. So ist die Tragik der Liebenden, die mit Julies Tod endet, die Anklage eines von Grund auf falschen Systems. In einer Welt, die den natürlichen Anlagen des Menschen Rechnung trüge, wäre alles ganz anders, und nicht nur würden sich diese Liebenden finden und glücklich werden, sondern das Leben der Menschen insgesamt würde sich anders gestalten. Es wäre von sozialer Gleichheit geprägt und von einer gerechten Verteilung der Güter und Aufgaben. Es gäbe keinen Überfluss und keinen Mangel, keine Besitzstreitigkeiten und keinen Neid, keinen Müßiggang auf der einen Seite und auf der anderen die erbärmliche Plackerei der untersten Volksschichten. Keine Herrscherwillkür hätte hier Raum und keine Unterdrückung des Volkes, aber auch keine Eitelkeiten, kein Sittenverfall, keine Künstlichkeiten und keine Verstellung, wie sie das Hofleben in Paris hervorbrachte – Rousseaus Anti-Welt, immerzu. Die ideale Welt, die Julie nach ihrer Heirat mit dem Baron von Wolmar auf ihrem idyllischen Schweizer Landgut errichtet, entspricht einigermaßen den Vorstellungen des Autors von einer intakten Sozialgemeinschaft, wie er sie gerne auch auf die ideale Republik übertragen sehen wollte, das Gemeinwesen auf der Basis eines Gesellschaftsvertrags. Aber das sind Kleinbürgeridyllen, die hier beschworen werden. Auf moderne Flächenstaaten übertragen, taugen die Vorstellungen letztendlich kaum.
»Émile«, der Erziehungsroman. Da geht es um einen Jungen, der so natürlich wie möglich erzogen werden soll, was bedeutet, dass seine Entwicklung nur behutsam gefördert, aber niemals in ihrem natürlichen Wachstum behindert wird. Auch diese Forderung richtet sich vornehmlich gegen den Status quo, gegen die aktuelle Gesellschaft mit ihren herkömmlichen Erziehungsmethoden in der Epoche des Autors, die in den Kindern eigentlich nur kleine Erwachsene sah, denen sie ihre in den Augen Rousseaus falschen Wertmaßstäbe und die Anpassung an ein falsches Kultursystem beibrachte. In einer natürlichen Umgebung – und das ist immer auf dem Land, nicht in den Städten mit ihren Versuchungen und naturfernen Lebensformen, aber auch ausdrücklich nicht in der Studierstube – lernt das Kind ganz von selbst durch Betrachtung und Anschauung seiner Umwelt und bildet allmählich die Fähigkeit aus, Schlussfolgerungen zu ziehen, die ihm seine Beobachtung eingibt. Von trockenem Bücherwissen bleibt es lange verschont, und auch die Grundanschauungen der Religion erfasst das Kind auf demselben Weg der Anschauung wie andere natürliche Gesetzmäßigkeiten, denn nach Rousseaus Auffassung ist die Religion von Geburt an in die Herzen der Menschen eingepflanzt. Sie braucht keine Dogmen, und die mit den religiösen Unterweisungen vielfach verbundenen Abstraktionen sind, wie er meint, nur allzu oft dazu angetan, die...