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E-Book

E-Book, Deutsch, 412 Seiten

Appleton Hessabi

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7076-0570-9
Verlag: Czernin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 412 Seiten

ISBN: 978-3-7076-0570-9
Verlag: Czernin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Hessabi« ist ein persischer Roman auf deutschem Boden, die Coming-of-Age-Geschichte eines Persers, der im Deutschland der 60er-Jahre aufwächst. Jeans, Zigaretten, Politik, die erste große Liebe und immer wieder die Beatles prägen den Ton des Neuseeländers Tom Appleton, der dem jungen Protagonisten eine unverwechselbare Stimme zwischen Erwachsenwerden, Genie und Wahnsinn verleiht.

Bonn, Coburg und Heidelberg sind die schulischen Stationen, die der jugendliche Adam Hessabi seinen schlechten Noten und dem großen Ehrgeiz seiner etwas verrückten Eltern zu verdanken hat Hessabi ist Perser und hat wohl gerade deshalb die Gabe, seinem Aufwachsen in Deutschland mit einer gewissen Distanz zu begegnen. Schonungslos erinnert er sich an sadistische Lehrer, Jugendriten und die kleinen verbotenen Fluchten in Musik und Mädchen.

An seine Kindheit, die Adam offenbar in Persien verbracht hat, erinnert er sich nicht. Immer wieder stolpert er über seine Vergangenheit. Doch sosehr er das Rätsel um seine Herkunft lösen möchte, es wird ihm nicht gelingen. Im Gegenteil: Seine Familie verstrickt ihn zunehmend in ihre Bande, denn auf fast jede rebellische Pubertät folgt erst einmal die Kapitulation der vermeintlichen Vernunft.

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2. Kapitel
(1)
Die meisten Menschen denken bei dem Wort »Hellsehen« an Kristallkugeln. Auch das englische Wort clairvoyance deutet auf ein gläsernes »Klarsehen«. Es bezeichnet die Fähigkeit gewisser Leute, tatsächliche Begebenheiten, die ihnen auf normalem Wege gar nicht bekannt sein können, deutlich vor ihrem geistigen Auge erstehen zu lassen, wie in einem Film. Manche bekommen aber auch nur rasende Kopfschmerzen, wenn sich zum Beispiel gerade irgendwo auf der Welt ein Erdbeben ankündigt. Das »wie« und »wo« erfahren sie dann gewöhnlich selber erst am nächsten Tag aus der Zeitung. Diese Art von Hellseherei nützt wenig zur Erdbebenvorhersage, aber es ist dasselbe Phänomen, ein Erspüren von fernen Ereignissen, in diesem Fall, das Erzittern der Erdoberfläche in weit entfernten geografischen Regionen. Präkognition deutet auf ein Vorauswissen zukünftiger Ereignisse in zeitlicher Distanz hin, und Telepathie erlaubt den geistigen Kontakt mit anderen Personen, manchmal über Kontinente hinweg, also eine Art »biologisches Telefon.« Dann gibt es wieder andere Leute, die den Kontakt mit dem Totenreich pflegen. Aber ich komme mir vor wie ein Hochstapler, wenn ich von diesen Dingen spreche, denn in Wirklichkeit verstehe ich rein gar nichts davon. Ich war noch nie bei einer Seance, und die einzigen Glaskugeln, die mir begegnet sind, taugten einzig dazu, um in ihrem Innern ein Schneegestöber zu veranstalten. Ich war meistens ein extrem nachlässiger Beobachter, und das genaue Gegenteil eines Hellsehers. Von Rechts wegen dürfte ich mich selber bestenfalls als einen »Dunkelseher« bezeichnen. Ich war immer wie einer, der gedankenverloren des Nachts auf einem Eisenbahngleis spazieren geht und dabei weder das ferne Licht des heraneilenden Schnellzuges sieht, noch auf das frenetische Dröhnen der Hupe aufmerksam wird. Erst sehr viel später kam es mir gewöhnlich zu Bewusstsein, dass der Ablauf der Dinge sich schon von langer Hand angekündigt hatte. (2)
Auch die Geschichte mit den Beatles begann, irgendwie, undeutlich, unbewusst, in Godesberg. Ohne, dass ich es bemerkte. Und sie hatte irgendwas mit dem Musikunterricht in der Schule zu tun. Nur: Wenn irgendeine Form von Telepathie bei der Sache im Spiel war, dann hatte sie mit Sicherheit nichts mit dem Musiklehrer zu tun. Denn wenn man ein Fernsehprogramm empfangen will, muss man die Antenne an ein Fernsehgerät anschließen, und nicht an einen Toaster. Aber dieser Musiklehrer an der Schule war ein Toaster. Und was für einer! Er rief zum Beispiel den Futzi auf – einen witzigen, blonden Lockenkopf, der schon damals eine E-Gitarre mit drei Pick-ups und allem Drum und Dran bei sich zu Hause stehen hatte – und ließ ihn im Unterricht aufstehen. Dann zückte er sein kleines schwarzes Notizbuch, tippte mit dem Finger irgendwohin aufs Klavier und sagte: »Welche Note ist das?« – Der Futzi blickte sich hilfesuchend im Musiksaal um. Lippen bewegten sich in Stummfilm-Manier. – »Hohes C?«, sagte er dann, wie immer, nie um eine witzige Antwort verlegen. »Hohes C« war auch damals schon der Name einer Orangensaft-Marke, die, wie der Name schon sagt, eine Menge Vitamin C enthielt. Insofern war Futzis Antwort durchaus beides, witzig und informiert, denn sie hatte etwas mit Musik zu tun – mit der Note C auf dem Klavier – und es war ein »hohes« C – und zugleich verriet der Junge, dass er Humor und Intelligenz besaß, auch in komplizierten Situationen. Der Musiklehrer hatte darauf nur eine Antwort: »Setzen. 5.« Und trug die Zahl in sein schwarzes Büchlein ein. Die ganze Quarta hindurch besprach dieser musikalische Pedell mit uns den »Freischütz«, eine Oper von Mozarts angeheiratetem Cousin, Carl Maria von Weber, ohne dass irgendjemand jemals kapiert hätte, was da eigentlich vor sich ging und was überhaupt ein »Freischütz« war. Er brachte uns bei, einen Kanon zu singen: »Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König.« Das war schon alles, der ganze Text. Aber wir sangen ihn stundenlang, bis zur Verblödung. Ein deutsches Koan, das wie ein sinnloses Mantra ein ums andere Mal wiederholt wurde. Und dazu verteilte der Obermusikus immerzu frei nach Belieben links und rechts seine »Fünfen«. Oder der Musikunterricht fiel wegen Proben mit dem Chor und dem Schulorchester aus. Der Musiklehrer hielt sich selber wohl für einen neuen Carl Orff oder Arnold Schönberg, denn er probte seine unsäglichen Kompositionen mit dem Schulorchester, das dann – Zack! Wumm! Krach! Tsching-bumm! – seine symphonischen Dichtungen dahin massakrierte. Auch seine Fresse würde ich heute noch gerne mit schweren Eisenhämmern einschlagen, aber nicht allein wegen der 5, die er mir in Musik anhängte. Er benotete alle seine Schüler und Schülerinnen »scharf« – sogar die, die bei ihm im Schulorchester spielten. Die 5 in Musik war zum Glück nicht versetzungsgefährdend, weil Musik kein Hauptfach war. Trotzdem sah mein Zeugnis nachher natürlich katastrophal aus mit zwei glatten Fünfen in Nebenfächern – Musik und Erdkunde – und ich segelte nur mit knapper Not an einer 5 in Mathematik, Biologie, Physik, Geschichte, und Sport vorbei. Aber der Musiklehrer hatte es aus irgendeinem unerfindlichen Grund auf mich ganz persönlich abgesehen. »Du singst so falsch, Hassabi!«, sagte er immer wieder. Egal, dass er meinen Namen falsch aussprach, ich war es, der falsch sang. »Da kommt wahrscheinlich der Perser in dir durch. Wir sind hier nicht in Teheran. Du musst dich schon ein wenig um eine deutsche Sangeskultur bemühen.« Und schon ging es wieder los: »Hoch auf dem gel-ben Wa-ha-gen.« Aber während dieser Blödsinn in der Schule ablief, und die Mädchen in der Klasse alle einen Blockflötenkurs besuchten, um extra Punkte bei diesem teuflischen Notenfetzer zu erschleichen, hatte ich zu Hause einen kleinen, weißen Schallplattenspieler der Marke Braun. Man konnte Schallplatten in fünf verschiedenen Größen darauf abspielen, sogar mit vier verschiedenen Geschwindigkeiten und mit zwei verschiedenen Nadeln, und der Klang kam aus einem rotbraunen, hölzernen Radiogerät der Marke Grundig, das bei uns im Wohnzimmer oben auf drei großen Koffern saß. Die Wohnung meiner Eltern sah aus, als wären sie soeben mit dem Schiff angekommen und hätten alle ihre Besitztümer eben erst in ein Warenlager gebracht. So, als ob sie noch keine Zeit gehabt hätten, alles ein wenig in Ordnung zu bringen, standen die Teppiche im Wohnzimmer aufgerollt an der Wand, und die Koffer stapelten sich übereinander. Man hatte Mühe, von einem Ende des Zimmers zum andern zu gelangen. Man musste sich, als wäre man in einem Dschungel voller wilder Pflanzen, bei dem man sich nur mit einer Machete einen Weg bahnen konnte, durch all die Dinge hindurch wühlen. Aber dort, in der hintersten Ecke des Wohnzimmers, hockte ich, auf der Lehne des Sofas, neben den verschlissenen alten Überseekoffern, und spielte meine Schallplatten ab, die dann, laut genug, aber nicht allzu laut, aus dem Lautsprecher des Radios ertönten. Ich hatte den amerikanischen Thrift Shop entdeckt, in dem es Schallplatten jeder Art für 50 Cent zu kaufen gab. Ich musste nur bei einer Bank vier Mark in einen Dollar wechseln, und schon konnte ich zwei oder sogar drei Langspielplatten für einen Dollar erwerben. Und meine Schallplattensammlung war unbeschreiblich. Zunächst einmal hatte ich Unmengen von gigantischen Schellackplatten, die sich mit 78 Umdrehungen pro Minute im Kreis drehten. Es waren alte Aufnahmen, zum Beispiel mit Richard Tauber, und ich sang mit ihm mit: »Because … God made the world … for every boy … and every girl …«, und es klang toll. Manche Platten hatten einen Sprung und machten regelmäßig einmal in der Sekunde »krk … krk … krk …«, während die Musik ablief. Aber ich hatte auch eine Schatulle mit zehn LPs, eine Geschichte des Radios in Amerika, die mich bloß fünf Dollar gekostet hatte. Und jede dieser Platten lief, bei 16 RPM, über eine Stunde lang. Und ich besaß ausländische Langspielplatten, die von den Diplomaten aus aller Welt abgestoßen worden waren.* Mit anderen Worten: Ich besaß die interessanteste internationale Musiksammlung der Welt, die ich mir selber zusammen­gesucht hatte. Ich konnte alle ihre Stimmen imitieren, ich konnte shouten wie Bill Haley (»Happy, happy Baby«), croonen wie Pat Boone (»A…pril…love …«), ich hatte das stimmliche Trompetengeschmetter von Louis Armstrong drauf, und sogar das berühmte »Baba-dibidu, bijubidi-bap« von Ella Fitzgerald konnte ich mühelos nachmachen, lange bevor ich je etwas von Skat singing gehört hatte – und dieser Mistkerl in der Schule gab mir eine 5 in Musik und sagte, ich sänge »so falsch« …! *   Es waren Platten von Sidney Bechet, Claude Luter, Yma Sumac, Helia Casanovas, Cantinflas (der Soundtrack zu »Pepe«!), Ustad Vilayat Khan, Violeta Parra, Harry Belafonte, The Dutch Swing College Band, Papa Bue’s Viking Jazz Band, Bill Haley, The Kingston Trio, Miles Davis live in Berlin, Ella Fitzgerald, Louis Armstrong, Julie London, Rafael Puyana, Al Caíola, The Tarriers, Carlos Montoya, Homer and Jethro, Los Paraguayos, Denis Gibbons, Carmen Miranda, Ray Conniff, Jimmie Rodgers, Roger Miller, und natürlich ein ganzer Satz LPs von Roger Williams, dem Genie des seichten Klavierspiels. Und ich hatte Musicals noch und noch, von »South Pacific« bis »Oklahoma!«. Ich liebte alle Musicals, ganz besonders die »Dreigroschenoper« von Bert Brecht und Kurt Weill. Ein Klassiker, mit dem Mackie-Messer-Song, auch bekannt als »Mack the Knife«. Die Hauptfigur der Oper – eben dieser...


Tom Appleton, geboren 1948 in Berlin, Kindheit in Teheran, Gymnasial- und Universitätsjahre in Westdeutschland. Ab 1972 Journalist, Übersetzer, Theaterproduzent in Neuseeland, ab 1988 freier Journalist, Übersetzer, Englischlehrer in Wien. Lebt seit 2007 (wieder) in Wellington/Neuseeland.



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