Arnold / Preußer | Christoph Hein | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 159 Seiten

Reihe: TEXT + KRITIK

Arnold / Preußer Christoph Hein

E-Book, Deutsch, 159 Seiten

Reihe: TEXT + KRITIK

ISBN: 978-3-96707-941-8
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Hein schreibt Zeitstücke und Gesellschaftsromane – von u. a. "Cromwell" und "Horns Ende" über den "Tangospieler" bis "Willenbrock" und "Unterm Staub der Zeit".
"Öffentlich arbeiten" heißt ein früher Band mit Essays des Schriftstellers Christoph Hein. Das trifft sein Literaturverständnis gut, leitet sich die Formel doch her vom Anspruch der Aufklärung, über literarische Öffentlichkeit politisch wirksam werden zu können, ein Korrektiv zu sein für die Mächtigen. Das gilt für die Verhältnisse in der DDR ebenso wie nach der 'Wende' in der gesamtdeutschen Bundesrepublik. Mit hohem moralischem Anspruch nimmt Hein seit der Jahrtausendwende in den großen Romanen die Missstände der Konsumgesellschaft und des ungebremsten Kapitalismus, die Verlogenheit des kleinbürgerlichen Milieus, sexuelle Intoleranz, das Scheitern des Rechtsstaates oder die Misere des 20. Jahrhunderts insgesamt in den Blick. Immer erweist sich das individuelle Leben als zerbrechlich unter den herrschenden Verhältnissen, auch wenn das Schicksal von Flüchtlingen beleuchtet oder der Terrorismus der RAF aufgearbeitet wird. Im Registrieren der Begebenheiten zeigt sich das Negative; die Hoffnung liegt invers im dargestellten Verfall, weil das Andere darin bereits aufscheint. Am 8. April 2024 feiert Christoph Hein seinen 80. Geburtstag – ein guter Anlass für eine völlige Neufassung des lange vergriffenen TEXT+KRITIK-Heftes 111, das 1991 erschien und natürlich vor allem seinem Schreiben und Wirken in der DDR gewidmet war. Die Neufassung des Heftes enthält neben Analysen zum neueren Werk Heins auch Beiträge zu seien "frühen Jahren", zu poetologischen Fragen, zu den Kinderbüchern und zum Zeitkritiker Hein sowie ein Gespräch mit dem Autor. "Mit seinen Theaterstücken, die sich für die treibenden Kräfte der Geschichte interessieren (und für deren Subjekte), sowie mit Prosatexten über den entfremdeten Alltag in hochentwickelten Industriegesellschaften wurde Hein zu einem der wichtigsten kritischen DDR-Autoren. Für sich selbst reklamiert er zwar nur die Rolle eines Beobachters und Beschreibers – eines 'Chronisten ohne Botschaft'. Er gestaltet diese Rolle allerdings so, dass es für Publikum und Leser kaum Alternativen zu einem moralischen Positionsbezug gibt. Die Rolle des kritischen Chronisten von Geschichte und Gegenwart hat er auch nach der deutschen Vereinigung nicht aufgegeben." Hannes Krauss ("Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur" – KLG).
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Weitere Infos & Material


- Christoph Hein: Der Fotograf
- Michael Braun: "Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten". Christoph Heins anekdotisches Erzählen
- Richard Slipp: Zwischen Authentizität und Fiktionalität. Zu Rahmungen in Christoph Heins Erinnerungserzählungen
- Withold Bonner: Zwischen Lethe und Mnemosyne. Christoph Heins Roman "Trutz" als literarischer Gedächtnisraum
- Karin Großmann: Dienstmagd, Sexobjekt und selbstbestimmte Einzelkämpferin. Frauengestalten in Romanen und Erzählungen von Christoph Hein
- Heinz-Peter Preußer: Der Fall Wolfgang Grams. Terrorismus und Rechtsstaat im Roman "In seiner frühen Kindheit ein Garten"
- Matteo Galli: "Als ich im Walde hing". Multiperspektivisches Erzählen bei Christoph Hein
- Stephanie Jentgens: Von Teddybären, Katzen und allem, was im Leben wichtig ist. Oder: Christoph Heins Kinderbücher im Spannungsfeld von Individuation und Gesellschaft
- Lothar Müller: Ein seltsamer Spaßvogel. Christoph Hein als Übersetzer des Romans "Am Ende ein Blick aufs Meer" von Philipp Lyonel Russell
- Irmtraud Gutschke: Scheitern im Osten. Karriere und Kränkung bei "Willenbrock" und "Frau Paula Trousseau"
- Terry Albrecht: Die westdeutsche Rezeption Christoph Heins in den 1980er Jahren
- Frank Hoffmann: Engagement und Öffentlichkeit. Christoph Hein als Zeitkritiker in den 1980er Jahren
- Silke Flegel: "Unterm Staub der Zeit"? Christoph Heins frühe Jahre auf dem Theater
- Christoph Hein / Holger Teschke: "Ich muss meine Figuren verstehbar machen, damit das Publikum sie versteht". Ein Gespräch
- Christoph Hein: N wie Nachwort
- Bibliografie
- Notizen


Christoph Hein Der Fotograf
Die zwölf Personen im Korridor der Hochschule – drei junge Frauen und neun ebenso junge Männer, alle waren volljährig, einige bereits Anfang zwanzig – sahen sich am siebzehnten September, einem Montag, zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie alle ahnten, sie würden die kommenden vier Jahre miteinander verbringen, wären vermutlich jeden Wochentag einige Stunden in den Seminarräumen und dem Labor Seite an Seite beschäftigt. Sie musterten sich misstrauisch und zurückhaltend, ein knappes Zunicken war allenfalls bemerkbar, wenn ihre Blicke sich begegneten. Eine knappe Stunde später rief man sie in einen der Seminarräume. Eine alte, sehr alte Dame saß hinter dem Dozententisch am Ende des Raums, neben ihr hatte ein junger Mann Platz genommen, ein dritter Mann, Mitte fünfzig mit langen, die Ohren verdeckenden Haaren, kam ihnen entgegen und bat sie, auf den Sitzen Platz zu nehmen. Er wartete einige Sekunden, bis völlige Ruhe eingekehrt war, dann stellte er sich ihnen vor. Er sei Professor Werner und der Leiter des Lehrstuhls, und er hoffe auf eine gute gemeinsame Zeit mit ihnen an der Hochschule. Er wies auf die ältere Dame und sagte, er hätte nun das Vergnügen, sie mit Lore Eschen bekannt zu machen, einer Fotografin von Weltruhm, die zwei Jahrzehnte an der Hochschule unterrichtet habe und ihr noch immer so verbunden sei, dass sie jedes Jahr die neu Immatrikulierten persönlich in Augenschein nehme. Neben ihr sitze Doktor Sebastian Kurtes, Layouter und ein Meister der Studiofotografie. Doktor Kurtes werde die Seminargruppe durch die nächsten drei Semester führen; er sei der Ansprechpartner für alle Studentenbelange und werde die neue Seminargruppe in den Fächern Gestaltungslehre sowie Foto- und Kameratechnik unterrichten. Er bewegte etwas theatralisch seinen Arm in Richtung des Seminarleiters. »Bitte, Sebastian, du hast das Wort.« Sebastian Kurtes stand auf, trat vor die Studenten und stellte sich nochmals vor. Er gratulierte ihnen zu den erfolgreich bestandenen Aufnahmeprüfungen und zu ihrer Immatrikulation und bat sie, sich nacheinander vorzustellen, damit er die Kommilitonen, wie diese auch ihn, kennenlerne. Er wies mit seiner Rechten einladend auf den Studenten, der in der Nähe der Tür saß: »Beginnen Sie. Stehen Sie bitte auf und stellen Sie sich uns vor.« Nacheinander standen die Neuimmatrikulierten auf, sagten ihren Namen, nannten den Heimatort und erzählten auf Nachfragen, welchen Schulabschluss sie hätten. Der Älteste von ihnen, Heinz Bergmann, war schon Mitte zwanzig und wurde verlegen, als er gestehen musste, dass er lediglich die Mittlere Reife habe und allein durch eine sogenannte Begabtenprüfung zur Hochschule zugelassen werden konnte. Zwei der Studenten fielen allen, den Lehrern wie den Kommilitonen, besonders auf. Eine junge Frau, die sich als Tamira Kaczmarek vorstellte, hatte gefärbte, tiefschwarze Haare, die Wimpern waren schwarz getuscht und die Augenlider dunkel schattiert, selbst ihr Lippenstift war schwarz. Tamiras Hose und die lang darüber hängende Seidenbluse waren von der gleichen Farbe; lediglich eine münzengroße Brosche, die sie an einem schwarzen Samtband um den Hals trug, war blutrot. Sie wirkte wie eine Figur aus einem der französischen Filme der Existenzialisten des vergangenen Jahrzehnts. Ihr Alter war schwer einzuschätzen, sie konnte siebzehn sein oder siebenundzwanzig; bei ihrer Vorstellung vermied sie jeden Hinweis darauf. Sie sprach heiser, es hätte die Stimme einer Fünfzigjährigen sein können. Einer der Kommilitonen beugte sich zu seinem Nachbarn und flüsterte: »Wetten, die hat Decken und Wände ihrer Studentenbude schwarz tapeziert.« »Oder tiefrot«, erwiderte der andere, »das ist gut für Sex und so.« Nachdem sich alle vorgestellt hatten, erkundigte sich der Dozent bei den jungen Leuten, wer von ihnen bereits eine fotografische Ausbildung genossen oder am Gymnasium in einer Arbeitsgruppe Fotografie mitgemacht habe. Acht der Studenten meldeten sich, sie hatten mehrere Jahre in den Fotozirkeln ihrer Schule mitgearbeitet. Sebastian Kurtes wandte sich dann an einen der Studenten, der sich auf diese Frage hin nicht gemeldet hatte. Er hatte sich als Friedrich Cecco vorgestellt und sich dabei äußerst wortkarg gegeben, sodass der Dozent mehrmals bei ihm nachfragen musste. Cecco hatte mit sechzehn das Gymnasium auf eigenen Wunsch verlassen und erst drei Jahre später die Fachhochschulreife im Fernstudium erworben. Als der Dozent ihn fragte, warum er nicht bis zum Abitur auf dem Gymnasium geblieben sei, sagte der Student nur, es hätte in der Schule zu viel unsinnigen Lehrstoff gegeben, den er nicht brauchte und der ihn nicht interessierte. »Weitere Jahre in dem Gymnasium, das wäre verlorene Zeit gewesen. Ich will fotografieren, nichts anderes. Ich bin Fotograf, da brauche ich keine Differenzialrechnung und keine Quantenphysik.« »Ich verstehe, Herr Cecco. Bei den von Ihnen eingereichten Arbeiten fiel mir auf, dass Ihre Landschaftsaufnahmen offenbar mit einer Plattenkamera gemacht wurden.« Friedrich Cecco bestätigte es mit einem knappen Nicken. »Sehr ungewöhnlich«, fuhr der Dozent fort, »Fotos mit einer Plattenkamera wurden in den letzten zehn Jahren von keinem unserer Studienbewerber eingereicht. Sie besitzen eine Plattenkamera?« »Ja.« »Darf ich wissen, welche?« »Eine Petite chambre von Ernemann.« »Ah, das berühmte Kleine Zimmer aus Paris. Eine neun mal zwölf, nicht wahr?« »Ja.« »Und wie kamen Sie darauf? Plattenkameras sind zeitaufwendig und kompliziert, und sie sind schwer.« »Ja, sie sind schwer, aber ich habe es so und nicht anders gelernt. Mein Ausbilder sagte bei jedem Auftrag zu mir: Benutze immer die größte Kamera, die du gerade noch tragen kannst.« »Heute wird kaum noch mit Plattenkameras gearbeitet. Mit diesen Apparaten arbeiten nur noch die absoluten Profis.« »Ich benutze sie ausschließlich für Landschaft oder Gebäude.« »Und warum?« »Wegen der stürzenden Linien, die unweigerlich entstehen, wenn ich das Objektiv verschwenke. Nur so kann ich die leidige Zentralperspektive vermeiden.« »Oha, Herr Cecco, das klingt, als hätten wir einen Fachmann immatrikuliert. Wo haben Sie denn das gelernt?« »Ich habe einige Zeit in dem Atelier eines Fotografen gearbeitet. Bei dem alten Mann habe ich mir einiges abschauen können.« »Bei Ihnen daheim?«, fragte Kurtes verwundert. Er blätterte in seinen Unterlagen und sagte dann: »Sie kommen aus einem Ort mit dem Namen Simmozheim. Ein Dorf, vermute ich. Und da gibt es ein Fotoatelier?« »Nein, aber in der benachbarten Stadt. In Leonberg.« Nach dem Ende der Einführungsstunde verließen die meisten den Raum; als alle bereits aufgestanden waren, bat Lore Eschen, die ältere Fotografin, dass Friedrich Cecco zu ihr kommen möge. »Sie haben in einem Atelier in Leonberg gelernt?«, fragte sie, »bei einem älteren Fotografen? Ich kenne Leonberg, ich war dreimal dort, um einen alten Freund und Kollegen zu besuchen. Darf ich fragen, wie dieser alte Fotograf heißt, bei dem Sie arbeiteten?« »Donné.« »Sie sprechen von Friedhelm Donné? Unserem Großmeister der Plattenfotografie?« »Ja.« Lore Eschen war beeindruckt: »Oho! Friedhelm Donné ist ein Spitzenfotograf. Er besitzt zwei Weltpatente für Großformatkameras. Und vor vielen, vielen Jahren war er hier Dozent, war er mein Kollege. Wie lange waren Sie bei ihm?« »Knapp drei Jahre.« »Und wie kam es dazu? Donné hat nie Lehrlinge ausgebildet.« »Es war keine Lehre, es war keine übliche Berufsausbildung. Ich habe bei ihm und mit ihm gearbeitet, das war alles.« »Erstaunlich. Wie kamen Sie zu dieser hohen Ehre?« »Meine Eltern sind mit Donné befreundet. Mein Vater schätzt ihn sehr und beauftragte ihn immer wieder. So lernte ich ihn kennen. Nur seinetwegen wollte ich Fotograf werden.« »Da sind Sie gut gestartet, Cecco. Mit einer Lehre bei Donné werden Sie es weit bringen. Aber warum wollen Sie noch hier studieren, wenn Sie bei Donné waren?« »Er hat mir die Berliner Hochschule empfohlen. Er meinte, es habe sich ästhetisch einiges verändert. Die Bildgestaltung, die Ästhetik habe sich verschoben. Er meinte, heute sei man nur noch auf Effekte aus, und damit könne er nichts anfangen und wolle es auch nicht. Und bei Komposition und Layout gehöre er, wie er sagte, zu den Dinosauriern. Er habe bei August Sander gelernt, sei bei ihm stehengeblieben, weil der für ihn der unüberbietbare Höhepunkt der Fotografie sei.« »Ein Dinosaurier der Fotografie war Donné schon vor Jahrzehnten. Inzwischen muss er Mitte oder Ende achtzig sein? Wie geht es ihm?« »Sehr gut. Er ist nach wie vor mit einer seiner Plattenkameras unterwegs, und in Leonberg gibt es mittlerweile ein Donné-Museum.« »Ja, Donné ist noch immer einer der Größten. Wenn Sie bei ihm gelernt haben, kann ich nur hoffen, dass unsere Hochschule Ihnen noch etwas Neues beibringen kann.« »Das ist auch meine Hoffnung«, erwiderte Cecco, ohne eine Miene zu verziehen. Auf dem Flur vor dem Seminarraum standen noch vier Studenten seiner Klasse. Sie verstummten, als Cecco an ihnen vorbeiging. Einer seiner neuen Kommilitonen, Konrad Umberger, sprach ihn an:...


Preußer, Heinz-Peter
Heinz-Peter Preußer ist Professor an der Universität Bielefeld und unterrichtet "Theorie und Geschichte der Medien, Gegenwartsliteratur", in der Reihe TEXT+KRITIK gab er zuletzt das Heft 237 "Juli Zeh" (2023) heraus.

Heinz-Peter Preußer ist Professor an der Universität Bielefeld und unterrichtet "Theorie und Geschichte der Medien, Gegenwartsliteratur".


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