Arnold / Thomalla | Literarischer Journalismus | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 234 Seiten

Reihe: Text+Kritik Sonderband

Arnold / Thomalla Literarischer Journalismus

E-Book, Deutsch, 234 Seiten

Reihe: Text+Kritik Sonderband

ISBN: 978-3-96707-672-1
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



"Der Roman ist tot", verkündete der US-amerikanische Schriftsteller Tom Wolfe zu Beginn der 70er Jahre – es war der Beginn eines neuen Zeitalters: das des New Journalism.

Wolfe bezeichnete mit diesem Begriff Schreibweisen zwischen Literatur und Journalismus, die zunächst in Kolumnen oder Reportagen, zunehmend aber auch in neuen Romantypen wie der 'Nonfiction Novel' zu finden waren. Auch im deutschsprachigen Bereich gab es zur selben Zeit vermehrt produktive Wechselbeziehungen zwischen Journalismus und Gegenwartsliteratur, bei denen mit Beobachterpositionen, Reporterfiguren, literarischen Erzählverfahren, Techniken der Verfremdung oder Fiktionalisierung experimentiert wurde. Der TEXT+KRITIK-Sonderband nimmt Spielarten dieses deutschsprachigen New Journalism seit den 1970er Jahren in den Blick. Neben einzelnen Autoren und Werken von Jorg Fauser bis Stefanie Sargnagel werden auch Publikationsmedien, privilegierte Gattungen sowie Vermarktungsformen der Journalliteratur untersucht. Darüber hinaus enthalt der Band einen poetologischen Text zum Verhältnis von Literatur und Journalismus von Moritz von Uslar sowie ein Interview über die Geschichte des deutschsprachigen New Journalism mit Diedrich Diederichsen.
Arnold / Thomalla Literarischer Journalismus jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Mit Beiträgen von

Andreas Bernard, Christopher Busch, Diedrich Diederichsen, Rupert Gaderer, Thomas Hecken, Annika Hildebrandt, Rembert Hüser, Steffen Martus, Ethel Matala und Dariya Manova, Harun Maye, Stephan Pabst, Matthias Penzel, Stephan Porombka, Cornelius Reiber, Eckhard Schumacher, Georg Stanitzek, Erika Thomalla und Moritz von Uslar.


Matthias Penzel / Stephan Porombka Aus der Werkstatt der Cut-up-Brigade
Über den Zusammenhang zwischen Jörg Fausers literarischen und journalistischen Textexperimenten
1
Jörg Fausers erster großer Auftritt als Journalist beginnt mit einem »Ich«. Markiert wird gleich im ersten Satz die Position, von der aus es in die Öffentlichkeit tritt. Geschrieben wird aus unmittelbarer Erfahrung. Und berichtet wird, um etwas sichtbar zu machen, was man nicht sehen und schon gar nicht so richtig verstehen kann, wenn man diese Erfahrung nicht gemacht hat. »Ich kenne Junk seit etwa sechs Jahren«, heißt es gleich zu Beginn des Textes, den Fauser im März 1971 im Lifestylejournal »twen« veröffentlicht. Im Anschluss an diesen ersten Satz werden zwölf Arten von Drogen aufgezählt, die Fauser in den Jahren zuvor genommen hat. Dann folgt der Hinweis, er habe »zehnmal selbst entzogen« und sei doch »immer wieder zur Nadel zurückgekehrt«. Denn »Junk ist ein Genussmittel, meine Herren, das beste, das ich kenne«.1 Allerdings, so führt Fauser im Weiteren vor, ist es auch eins der schrecklichsten. Es macht die kaputt, die es konsumieren. Und es legt zugleich das Kaputtsein der gesellschaftlichen Verhältnisse offen, in denen es konsumiert wird. Und so macht es sich Fauser zur Aufgabe, die harte Wirklichkeit des Süchtigseins zu schildern. Er zeichnet die Teufelskreise nach, in die jeder Junkie für sich gebannt ist. Er weist auf die politischen und medizinischen Bedingungen hin, die dafür sorgen, dass die Teufelskreise nicht aufgelöst werden. Und er zeigt Auswege. Zum einen öffnen sie sich über das Engagement der Vereine zur Selbsthilfe. Zum anderen ist es das extreme Übelkeit hervorrufende Medikament Apomorphin, das die Heroinsucht als Stoffwechselproblem angeht und den Patienten »im Gegensatz zur langsamen Entziehungskur« schon nach »wenigen Tagen« sich besser fühlen lässt, »obwohl er kein Opiat mehr erhält. The Old Monkey Opium Jones hat seinen Hut genommen und ist verschwunden.«2 Es ist drauf hingewiesen worden, dass Fausers Text von einem »gewissen Sozialarbeiter-Ton« vor allem dort grundiert ist, wo er sich konstruktiv um die Beseitigung von Missständen bemüht.3 Doch wird er gleich im redaktionellen Vorspann als einer angekündigt, der sich nicht an die klassischen journalistischen Vorgaben hält und stattdessen etwas anderes vorführt.* Charakteristisch sind dafür die grob gesetzten Schnitte zwischen erläuternden Passagen, szenischen Dokumentationen, pamphletartigen Einschüben und wütenden Ausbrüchen. Dazu gibt es eine Reihe von Einträgen in zwei Glossare, mit denen die Leser*innen mal fachlich, mal aphoristisch ins Vokabular der Junkies und der Mediziner eingeführt werden sollen. Zwischendrin springt Fauser vom Ich zum Wir und zum Du. Er spricht von »mir« und »mich« und »uns«, um dann gleich wieder in die Rolle von dem zu wechseln, der vor Ort ist, sich die Situation anschaut und die Atmosphären und Vibrationen geradezu seismografisch aufzeichnet, die Aufzeichnungen auseinanderschneidet und dann wieder so zusammensetzt, dass sich eine ganz eigene Textur mit eigenem Rhythmus ergibt: »Lohnt sich RELEASE4 für den Fixer, der an der Straßenecke vor der Flipperdiele auf die Connection wartet, die immer fünf Stunden und fünf COLD TURKEY YOU’VE GOT ME zu spät kommt, aber außer warten hilft nichts, NICHTS, nimm jedes beliebige dünne abgefuckte Junkie-Gesicht zehn Stunden nach dem letzten Schuss und du siehst vor deinen Augen die cold facts der zellularen Junk-Gleichung und das Junk-Invasions-System getränkt mit kaltem Schweiß: ANKLOPFEN, OKKUPIEREN, KAPUTTMACHEN – wirklich LOHNT ES SICH FÜR IHN – und es lohnt sich nur dann, wenn er mehr bekommt, als er gibt, nicht wieder nur mehr gibt, als er bekommt; Junk ist immer weniger als das, was der Junkie dafür gibt: nämlich immer und überall und in Totale sich selbst.«5 Wenn Fauser im nächsten Absatz dokumentarisch in die »RELEASE-Zimmer in Hamburg beim Andreasbrunnen, im Haus Brunnengasse 16 in Heidelberg, in der Wittelsbacher Allee in Frankfurt« schaltet, anschließend die Geschichte des Vereins rekapituliert, um schließlich wieder bei sich anzukommen (»Ich habe es an mir selbst oft genug erlebt«6) und von dort aus William Burroughs als Gewährsmann zu zitieren, der seinerseits als Ex-Junkie berichtet – dann gewinnt man den Eindruck, dass diese Sprunghaftigkeit und Ruhelosigkeit dem Autor nicht einfach unterlaufen, sondern beabsichtigt sind. Im Stolpern von Abschnitt zu Abschnitt führt Fauser vor, dass er ein Berichterstatter ist, der fortwährend über die Grenze pendelt und dabei mal drinnen und mal draußen ist. Mal ist er affiziert, mal in Distanz. Mal ist er wütend, mal sarkastisch. Mal ist er benebelt, mal mit klarer Sicht unterwegs. Mit großem Selbstbewusstsein† wird behauptet, dass sich nur in diesem unruhigen Hin und Her, mit diesem Grenzgang angemessen von der Wirklichkeit erzählen lässt, an die der vermeintlich objektive Journalismus überhaupt nicht herankommt.‡ Und behauptet wird von Fauser mit den wiederholten Hinweisen auf sich selbst, dass nur einer wie er ein Bote sein kann, der angemessen zwischen Drinnen und Draußen vermittelt. 2
Dass späteren Leser*innen trotzdem zuallererst der »gewisse Sozialarbeiter-Ton« des »twen«-Textes auffällt, liegt vor allem daran, dass Fauser zur gleichen Zeit Experimente mit der Vermittlung der eigenen Drogenerfahrung unternimmt, in denen er viel radikaler vorgeht.§ Mit jedem dieser Experimente geht er davon aus, dass Schreibweisen entwickelt werden müssen, die das Drinnen und Draußen, den Rausch und die Ernüchterung, das Verzögerte und das Gehetzte gleichermaßen spürbar machen, weil dieses Hin und Her zur Grunderfahrung der Heroin-Sucht gehört. Überschaut man die Werkstücke, die Fauser zwischen 1967 und 1973 produziert, so wird klar, dass es diese Experimente sind, mit denen er nicht nur neue Schreibweisen entwickelt. Fauser entwirft sich zugleich eine Position als Autor, die sich explizit nicht auf den klassischen Journalismus und schon gar nicht auf die klassische Literatur festlegen lassen will. Stattdessen will er Wirklichkeitserkundungen unternehmen, die sich das Material nehmen, das sie brauchen, um es dann neu zusammenzusetzen. Fauser hat selbst darauf hingewiesen, dass der Verlauf seiner Auseinandersetzung mit den Drogen unmittelbar an die Entwicklung seiner eigenen Schreibpraxis und seines Selbstverständnisses als Autor gebunden war. »Tophane«, sein erster langer Prosatext, entsteht in einer ersten Fassung Ende 1967 in jenem Istanbuler Stadtteil, der dem ganzen Stück dann den Titel gegeben hat, »unterhalb des luxuriösen Europäerviertels«: »ein Slum, dessen Bewohner größtenteils Rauschgiftsüchtige sind«.7 Fauser beginnt auf einer in Galata gekauften gebrauchten Schreibmaschine »Suchtnotizen« zu schreiben. Für ihn ist es der tastende und klappernde »Versuch, eine Sprache zu finden, mit der sich die Stoffwechselkrankheit Sucht beschreiben lässt«.8 Zugleich geht es ihm darum, wie er im später an den Beginn von »Tophane« gesetzten Widmungszitat deutlich macht, eine Disposition zu kennzeichnen, die ihn »schon immer« bestimmt hat und von der er, so sagt er voraus, »für alle Zeiten […] gezeichnet sein werde«.9 So geht es auch darum, schreibend die Suchtbewegungen und Abhängigkeitszwänge in einer größeren existenziellen Konstellation zu begreifen. Wer in »Tophane« nach Punkt und Komma sucht, wird kaum etwas finden. Das bestimmende Satzzeichen ist der Gedankenstrich. Mit ihm werden einzelne Satzstücke auch dort verbunden, wo sie beim Lesen erst mal unverbunden erscheinen. »Ich glitt über die Haut – nice to meet my maker again – ich glitt dann und wann unter die Haut – der Geruch und das Feeling alter Narben und das gekonnte Timing meines Eiters – alte Süchtige färben einander mit ihren klammen Suchtfingern und ihr Kastraten-Singsang verrät sie auf hundert gegen den Wind – kichern blöde bei Sätzen wie ›Aschermittwochs gibt’s Opiumsoße‹ oder ›fix fixer du Anfänger‹ – […].«10 So geht es weiter, bis der Absatz beendet ist. Erst dann folgt ein Punkt, eine Leerzeile, und im nächsten Absatz geht es wieder los. »Übel dran«, endet der Text nach 109 Druckseiten in der 1972 im MaroVerlag erschienenen Erstauflage, »und Afron ›pleased to meet yo‹ über den leeren Himmel Tophanes YOUR LOCAL ADDICT mit Spuren ausgekotzter Gehirnmasse auf der Tran & Traum-Maschine 3000 Tanger zu früh und alles fängt über Alfa wieder an – ENTZUG IN TOTALE in fremdem Fleisch – Chiffren fremder Venen im äußersten Staub.«11 Wenn es hier die Gedankenstriche sind, die den Rhythmus des Textes bestimmen, so sind es in dem ein Jahr zuvor erschienen Textstück »Aqualunge« drei Punkte.¶ Sie lassen den einen Satzfetzen ausklingen und binden ihn so an den nächsten, dass man lesend direkt in die Erfahrung eines Junkies genötigt wird, der durch die Gegend reist, um so oft wie möglich seinen Arm für eine Nadel hinhalten zu können. Der Erzähler ruckelt von Filmriss zu Filmriss. Es gilt für alles, was da unmittelbar gesehen, blitzartig gedacht wird, was raketenartig aus der Erinnerung hochschießt und in vagen Konturen die nächsten Handlungsoptionen aufscheinen...


Thomalla, Erika
Erika Thomalla, Dr. phil., lehrt Neuere deutsche Literatur an der Humboldt- Universität zu Berlin. Sie publizierte u. a. die Monografien 'Die Erfindung des Dichterbundes. Die Medienpraktiken des Göttinger Hains' (2018) sowie 'Anwälte des Autors. Zur Geschichte der Herausgeberschaft im 18. und 19. Jahrhundert' (2020).

Erika Thomalla, Dr. phil., lehrt Neuere deutsche Literatur an der Humboldt- Universität zu Berlin. Sie publizierte u. a. die Monografien »Die Erfindung des Dichterbundes. Die Medienpraktiken des Göttinger Hains« (2018) sowie »Anwälte des Autors. Zur Geschichte der Herausgeberschaft im 18. und 19. Jahrhundert« (2020).


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.