Arnold / Töteberg / Vasa | Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band Sonderband, 194 Seiten

Reihe: TEXT+KRITIK

Arnold / Töteberg / Vasa Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv

E-Book, Deutsch, Band Sonderband, 194 Seiten

Reihe: TEXT+KRITIK

ISBN: 978-3-96707-431-4
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Das Archiv hat Konjunktur. War es früher lediglich ein Magazin, ein Aufbewahrungsort für Dokumente, eine Sammlung literarischer Hinterlassenschaften, so hat sich seine Funktion in den letzten Jahrzehnten radikal gewandelt.

Wurden früher Schätze aus der Vergangenheit konserviert, öffnet sich das Archiv der Gegenwart: Beschränkte man sich auf den Erwerb von Nachlässen, werden heutzutage bereits Konvolute von jüngeren Autor*innen aufgenommen, womit dem Archiv eine Definitionsmacht bei der Kanonbildung zufällt. Nachlassbewusstsein ist bei Schriftsteller*innen ausgeprägter als in früheren Zeiten. Das Archiv bestimmt die literarische Produktion, sofern sich der Text selbst nicht gleich als Archiv versteht.

Das Archiv entwickelt selbst kulturelle Praktiken, wird dank der Digitalisierung von Beständen zum virtuellen Ort der Wissensproduktion, durch die Ausstellung des Originals und seiner Aura andererseits zum Museum. Neben der Erweiterung traditioneller Archivarbeit um transnationale Forschungsfelder, Autorenbibliotheken und Verlagsarchive steht im Mittelpunkt des Bandes die Frage nach den Aufgaben eines Archivs im digitalen 21. Jahrhundert.
Arnold / Töteberg / Vasa Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


- Michael Töteberg: Ein Gang durchs Archiv
- Katrin von Boltenstern: "Niemals Germanisten ranlassen". Problematiken der Arbeit mit literarischen Nachlässen
- Michael Schwarz: Adorno und die Archivierung des Ephemeren. Bemerkungen zu seinem Nachlass
- Susanne Fischer: Reste und Ränder. "Nichtiges Zeug" im Nachlass-Archiv Arno Schmidts
- Thomas Ehrsam: Vom Suchen und vom Finden. Erfahrungen in Nachlassarchiven
- Holger Helbig / Katja Leuchtenberger / Antje Pautzke: Kann ich das sehen? Über Aufmerksamkeit und Ordnung im Umgang mit dem Uwe Johnson-Archiv
- Stephan Lesker: "Das Archiv ist nutzlos, wenn wir es nicht auswerten". Walter Kempowski öffnet sein Archiv
- Alexandra Vasa: Aus dem Archiv. Die Transformation von Dokumenten in der literarischen Fiktion
- Sabine Wolf: "Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen". Archiv und Schreiben: Christa Wolf
- Birgit Dahlke: Autor*innenbibliothek als Archiv? Die Privatbibliothek von Christa und Gerhard Wolf an der Humboldt-Universität Berlin
- Franziska Galek: DDR-Verlagsarchive – alles nur Zensur? Einblicke in das Archiv des Henschelverlags Kunst und Gesellschaft im Literaturarchiv der Akademie der Künste
- Christoph Hilse: Verlagsarchive erschließen die Welt. Neue Forschungsansätze in einer sich ändernden Bestandspolitik am Deutschen Literaturarchiv Marbach
- Michael Töteberg: Die Erfindung der Nachkriegsliteratur. Verlagsinterna: Das Voten-Archiv des Rowohlt Verlags
- Gustav Frank / Stefan Scherer: Zeitschriften als 'kleine Archive'. Geschichte, Stellenwert und Funktion des 'Kleinen' im 'großen' Archiv
- Anneka Metzger: Mäandern in Archiven. Künstlerische Transformationen gespeicherten Wissens
- Michael Töteberg: Auswahlbibliografie
- Notizen


Katrin von Boltenstern »Niemals Germanisten ranlassen«
Problematiken der Arbeit mit literarischen Nachlässen
Kurz vor seinem Tod bestimmt Wolfgang Herrndorf, dass seine unvollendeten Schriften nicht der Nachwelt überantwortet werden sollen: »Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen. Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten.«1 In seinem, während seiner schweren Krebserkrankung geführten und später als Buch publizierten Online-Tagebuch schreibt er demonstrativ: »Briefe zerrissen, in der Badewanne eingeweicht, mit Tinte übergossen und entsorgt.«2 Ein Unbehagen gegenüber dem modernen Nachlasswesen und gegenüber Personen, die nach dem Ableben eines Autors seine schriftlichen Hinterlassenschaften aus- und verwerten, ist nicht nur in Texten Herrndorfs zu finden. Schon Robert Musil, um ein weiteres Beispiel zu nennen, spricht von einer »Abneigung gegen Nachlässe«,3 erörtert diese zu Beginn seiner 1936 erschienenen Textsammlung »Nachlass zu Lebzeiten«4 und führt diese in der – posthum veröffentlichten – vierten Fassung seiner Vorrede genauer aus. Dort heißt es: »Nicht umsonst hat schon das Wort Nachlaß einen verdächtigen Doppelgänger in der Bedeutung, etwas billiger zu geben. Auch der Nachlaß des Künstlers enthält das Unfertige und das Ungeratene, das Noch nicht- und das Nichtgebilligte. Außerdem haftet ihm die peinliche Berührung von Gemächern an, die nach dem Ableben des Besitzers der öffentlichen Besichtigung freigegeben werden.«5 In Thomas Bernhards Roman »Korrektur« spricht der Ich-Erzähler sich und anderen das Recht, hinterlassene Fragmente verstorbener ›Geistesmenschen‹ zu bearbeiten und zu veröffentlichen, gänzlich ab. Er erklärt: »(…) diese Herausgeberschaft ist in jedem Falle immer ein Verbrechen, vielleicht das größte Verbrechen, weil es sich um ein Geistesprodukt oder um viele solcher Geistesprodukte handelt, die von ihrem Erzeuger aus gutem Grunde liegen- und stehengelassen worden sind (…).«6 Seit der Professionalisierung der Neuphilologie und der Institutionalisierung sowie Etablierung des Nachlasswesens im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert hat sich bei Autor*innen zunehmend ein Bewusstsein dafür ausgebildet, dass ihre literarischen Nachlässe potenziell Archivgut und diese somit zu einem literaturwissenschaftlichen Forschungsgegenstand werden können.7 In dem Versuch das eigene Fortwirken zu beeinflussen, arbeiten nicht wenige dem Literaturarchiv deshalb aktiv zu, bearbeiten die Papiere, ordnen sie vor oder übergeben diese noch zu Lebzeiten einem Archiv. Andere wiederum verfügen über Sperrungen oder vernichten Materialien gezielt. Dieses »Nachlassbewusstsein«, das beeinflusst, wie sich Autor*innen zu ihren eigenen literarischen Archiven verhalten, beginnt die Literaturwissenschaft seit einiger Zeit historisch zu erforschen.8 Nicht nur wird untersucht, wie sich philologische und archivarische Arbeitspraktiken auf der einen sowie Schreib- und Archivierungspraktiken der Autor*innen auf der anderen Seite wechselseitig bedingen, auch ist im Zuge dessen der literarische Nachlass als eigenständiges und geformtes Konstrukt in den Fokus gerückt. Mit Termini wie »Nachlasspolitik«9 oder »Nachlasspoetik«10 sowie mit Ansätzen einer »archivarischen Hermeneutik«11 versucht die Forschung vermehrt, den literarischen Nachlass in seiner Gesamtheit und unter Einbezug seiner verschiedenen Implikationen zu betrachten. Die Problematiken jedoch, die die Arbeit mit literarischen Nachlässen und ihre wissenschaftliche Aus- und Verwertung mit sich bringen, werden dagegen nur am Rande diskutiert.12 Ein Großteil der Literaturwissenschaft scheint dem Nachlasswesen, das für die Philologie eine Existenzberechtigung darstellt,13 weitaus weniger skeptisch gegenüberzustehen als so manche Schriftstellerin und so mancher Schriftsteller. Doch gerade in Hinblick auf den aktuellen Forschungsschub bleibt die Problematisierung der Nachlassthematik unerlässlich: Was steht zur Disposition, wenn Literaturwissenschaftler*innen nach dem Ableben eines Autors auf Texte zugreifen, die dieser aus verschiedenen Gründen zu Lebzeiten nicht veröffentlichte? Welche Probleme ergeben sich aus der spezifischen Konstitution literarischer Nachlässe für die mit ihnen arbeitende Forschung? Und welche Folgerungen sind daraus für den Umgang mit den Archivbeständen abzuleiten?14 Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden für eine nachlassbezogene Umsicht plädiert, die die Reflexion des ambivalenten Status literarischer Nachlässe beinhaltet und für jedwede Arbeit mit ihnen voraussetzt. * »Gibt es ein Vermächtnis? Was willst du mit einem Vermächtnis? Was meinst du damit? Ich möchte das Briefgeheimnis wahren. Aber ich möchte auch etwas hinterlassen. Verstehst du mich denn absichtlich nicht?«15 Dieser Wunsch, den die Ich-Figur in Ingeborg Bachmanns Roman »Malina« äußert, rückt eine zentrale Herausforderung schriftlicher Hinterlassenschaften in den Fokus: das spannungsvolle Verhältnis von literarischen Nachlässen und dem Recht auf Privatsphäre. Betrachtet man den literarischen Nachlass als ein Gebilde, in dem sowohl das Werk als auch das Leben einer Person Niederschlag gefunden haben,16 so erscheint dieser gleichzeitig als ästhetisches sowie (kultur-)historisch-biografisches Zeugnis:17 Er belegt die Entstehung einzelner Werke und ist von literarischen Schreibweisen geprägt, während er gleichzeitig verschiedene Lebensmomente des Nachlassers im Kontext spezifischer historischer Vorgänge spiegelt: »Wer von einem Nachlass spricht, kommt ohne den Begriff der Person nicht aus; im Nahbereich der Privatsphäre bleibt das personenzentrierte Erklärungsmuster unverzichtbar.«18 Die vorwiegend schriftlichen, unikalen Dokumente und Materialien, die sich im Verlauf des Lebens bei einem Autor angesammelt haben, und die nach seinem Tod als sein literarischer Nachlass in ein Archiv übernommen werden, gehörten zum privaten Besitz des Schriftstellers – nach seinem Ableben sind sie seinem Zugriff entzogen.19 Neben Texten wie Manuskripten, Arbeitsskizzen und Überarbeitungen, die Autorschaftsentwürfe, Werkgenesen und Arbeitsweisen vermitteln, finden sich in einem Nachlass auch Textsorten wie Briefe, Tagebücher und andere Aufzeichnungen. Es handelt sich um referenzielle Texte, die sich in der Regel auf nichtfiktionale Begebenheiten beziehungsweise auf subjektive Realitäten beziehen und in denen keine fiktive Erzählerinstanz aufgerufen wird, sondern eine Schreiber- beziehungsweise eine Autorfigur in Erscheinung tritt.20 Angesiedelt sind solche Texte in einem eigentümlichen Grenzbereich, der zwischen literarisch und nichtliterarisch, privat und öffentlich changiert: »Wir haben es hier mit intrikaten Textformen zu tun, mit seltsam zwischen autobiografischem und fiktivem Schreiben stehenden Gattungen, aber auch mit Ausdrucksformen, an denen sich zentrale literaturtheoretische Fragen kristallisieren: Fragen nach der Adressiertheit von Texten, nach ihrem fiktionalen Status, nach der Stilisierung von Leben im Schreiben und nicht zuletzt nach der Medialität von schriftlicher Kommunikation, die immer dem Risiko der Nachträglichkeit und des Fehlgehens ausgesetzt ist.«21 Unabhängig davon, an wen das Geschriebene gerichtet ist, es ist potenziell immer auch für andere, die nicht direkt adressiert worden sind, lesbar.22 Diese Möglichkeit der Einsichtnahme durch Dritte steht in einem Spannungsverhältnis zu einem Anspruch auf Privatsphäre, der sich historisch mit Medien wie dem Brief oder dem Tagebuch verbunden hat.23 Hinterlassene Briefe von Autorinnen und Autoren hat Sigrid Weigel deshalb als »prekäre Zeugnisse« bezeichnet, »weil sie eine Schwelle zum Archiv besetzen, dort, wo sich persönliche Zeugnisse und intime Mitteilungen in öffentliche Dokumente verwandeln, dort, wo das Briefgeheimnis aufgehoben ist und die Leser – objektiv – zu Mitwissern oder Voyeuren werden.«24 Mit diesem Schwellenstatus benennt Weigel eine wesentliche Problematik, die alle im Rahmen einer privaten Kommunikation entstandenen Nachlassmaterialien betrifft, ungeachtet dessen, ob die Möglichkeit der späteren Veröffentlichung beim Verfassen eine Rolle gespielt hat oder nicht. Gelangen diese Selbstzeugnisse in ein Archiv, werden sie zu einer Kippfigur: Was zuerst einen bestimmten Adressaten hatte, mehr oder weniger vertraulich war, wird jetzt einer unbestimmten Öffentlichkeit zugänglich. In der 1900 erschienenen Erzählung »The Touchstone« von Edith Wharton werden die Ambivalenzen solcher Konstellationen verhandelt: Der Konflikt der Novelle entspannt sich, als der ehemalige Liebhaber der großen Autorin Margaret Aubyn die Liebesbriefe, die Aubyn ihm schrieb, nach ihrem Tod veröffentlicht, um sich finanziell zu bereichern. In der New Yorker Gesellschaft führt die Veröffentlichung der privaten Briefe zu kontroversen Diskussionen: »›Those letters belonged to the public.‹ ›How can any letters belong to the public that weren’t written to the public?‹ Mrs. Touchett interposed. ›Well, these were, in a sense. A personality as big as Margaret Aubyn’s belongs to the world. Such a mind is part of the general fund of thought. It’s the penalty of greatness – one becomes a monument historique. Posterity pays the cost of keeping one up, but on condition that one is always open to the public.‹ (…) ›But she never meant them for posterity!‹ ›A woman...


Michael Töteberg (*1951 in Hamburg) war von 1978 bis 1987 Lektor beim Verlag der Autoren in Frankfurt a. M.; 1994 bis 2017 war er Leiter der Medienagentur des Rowohlt Verlags. Veröffentlichungen u. a.: "Rainer Werner Fassbinder" (2002), "Filmstadt Hamburg" (2016), "Babylon Berlin" (2018), Fatih Akin: "Im Clinch" (Mithg., 2019), "Rainer Werner Fassbindertransmedial" (Mithg., 2020).


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.