Arx Ein gutes Leben
1. Auflage, neue Ausgabe 2012
ISBN: 978-3-0369-9168-9
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9168-9
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es gibt viele Ideen, wie man sein Leben führen soll. Die meisten sind seit Jahrtausenden bekannt. Die wenigsten sind überraschend. Und alle haben sie einen Fehler: Das Leben will sich diesen Rezepten nicht recht anpassen.
20 Leute - von der Hausfrau zum Rockstar, von der Skandalautorin bis hin zum Mönch - erzählen von ihrem Leben: ihre Wege und Umwege zum Glück und ihren Umgang mit Unglück.
Entstanden ist so eine Sammlung intimer Porträts, die auch eine Reise durchs menschliche Leben ist, von der Kindheit bis ins hohe Alter. Dieses Buch zeigt, dass ein gutes Leben nichts für Feiglinge ist, sondern ein Kampf, der ungebärdig, widersprüchlich, locker, schöpferisch,
manchmal selbstzerstörerisch und zuweilen äußerst pragmatisch geführt wird.
Ursula von Arx ist ein Buch gelungen, das Sie nicht im Stich lässt. Nicht in Ihren Abgründen, nicht in den Träumen. Denn das sicherste Glück ist - das eigene Glück und Unglück mit anderen zu teilen.
Ursula von Arx, 1967 geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Psychologie. Sie arbeitete als Lehrerin und Journalistin und war Redakteurin beim NZZ-Folio und beim Magazin des Tages-Anzeigers. Bei Kein & Aber erschien 2010 'Ein gutes Leben. 20 Begegnungen mit dem Glück' und 2013 'Liebe, lebenslänglich. Wie Eltern ihre Söhne oder Töchter sehen - und umgekehrt'. Ursula von Arx ist dreifache Mutter und lebt in Brüssel.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
»Man muss das Leben ertragen lernen«
MARGARETE MITSCHERLICH, 93, PSYCHOANALYTIKERIN
Margarete Mitscherlich setzt ihre Brille auf und mustert mich mit ihren blassblauen Augen. Es ist ein Blick echter Neugier. »Worüber wollen wir denn reden?«, fragt sie. Über Glück, sage ich. Da muss sie laut und lang lachen. Sie lacht sehr jung. Dabei fehlen nicht einmal sieben Jahre, und Margarete Mitscherlich kann ein ganzes Jahrhundert überblicken.
Sie streicht sich den Schlaf aus Augen und Haaren. Denn um die Mitte des Tages wird sie jeweils von einem dringenden Ruhebedürfnis heimgesucht, sie muss sich hinlegen. Unser Rendezvous hat sie vergessen, und ich habe sie geweckt. Eine Situation, die sie mit Improvisation bewältigt. »Oh, ich habe ja wirklich allmählich, – wie heißt diese Krankheit schon wieder?«
Wenn sie sich jetzt vorsichtig und mithilfe ihres Rollators Richtung Küche bewegt, dann sieht man eine Dame, die sich auf die Gebrechlichkeit des Alters eingelassen hat. Wenn sie aber mit zwei Wassergläsern zurückkommt und diese so schwungvoll auf den Tisch schleudert, dass sie fast wieder runterfallen, liegt in dieser Geste auch wilder Übermut.
Die Zumutungen des Alters kann sie längst nicht mehr ignorieren: »Also, lustig ist es nicht. Ich sehe eigentlich keine Vorteile.« Eine Operation am Hals, eine kaputte Achillessehne, ein Jahr lang musste sie liegen, mehrere kleine Unfälle, das Gehör lässt nach, die Müdigkeit nimmt zu, die Geschicklichkeit ab, der Körper schrumpft, »um mehr als acht Zentimeter!«, sagt Margarete Mitscherlich. Sie macht sich nichts vor: »Man wird nicht schöner mit dem Alter, nicht schneller, nicht einmal wirklich schlauer«, sagt sie, »nur schwächer.« Sie lacht dazu. Älter zu werden bezeichnet sie als »eine tödliche Krankheit«. Manchmal fühle sie sich ein bisschen besser, manchmal ein bisschen schlechter, das ändere nichts daran, dass sie mit jedem Tag mehr verfalle.
Mindestens so schwer wie unter den körperlichen Beschwerden selbst leidet Margarete Mitscherlich an deren Nebenwirkungen. Das nachlassende Gehör macht Gespräche schwierig. Die schwachen Beine haben ihren Radius klein gemacht. Nicht einmal mehr in ihr geliebtes Haus im Tessin mit Seeblick kann sie gehen, zu steil liegt es im Hang. Sie reiste immer sehr gern, »weltsüchtig« nannte eine Freundin sie. Jetzt ist ihre Welt so klein, wie ihre Wohnung im Frankfurter Westend groß ist. In hellen Räumen und umgeben von Büchern und Möbelklassikern der 50er-Jahre verbringt sie ihre Tage und Nächte.
Dabei war sie ein wildes, hüpfendes Kind, das im dänisch-deutschen Grenzland die Wälder unsicher machte. Und auch später, darauf legt sie Wert, war sie immer ein ganzer Mensch, also auch ein schwimmender und rennender. Da haben ihr die fortgeschrittenen Jahre enorme Bescheidenheit auferlegt. Heute verlangt sie von sich, sich nicht gehen zu lassen. Die Haare in Ordnung zu halten, jeden Morgen zu turnen, Gesicht und Körper zu pflegen, darin sieht sie Zeichen der Selbstachtung. Früher liebte sie gutes Essen und Trinken und musste auf ihr Gewicht achten, heute ist ihr Appetit klein. Sie hatte immer Spaß an schönen Kleidern, wenn sie sich jetzt anzieht, empfindet sie das als harte Arbeit. Sie kauft immer noch teure Cremes, auch wenn sie weiß, dass sie damit jene Momente nicht verhindern kann, in denen sie ihr Spiegelbild betrachtet und sich hinter all den Falten suchen muss.
Empörung scheint ihr allerdings sinnlos, der Unbill des Alters gegenüber hält sie »Resignation für vernünftig«. Dass Mitscherlich, obwohl sie den körperlichen Jammer akzeptiert, keineswegs kleinmütig wirkt, hat wohl mit ebendieser prosaischen Haltung zu tun. Margarete Mitscherlich ist eine sachliche Frau, offen für das, was sie sieht. Sie setzt ihre Wachheit darauf an, jeden Brocken unverdauter Erfahrung abzutragen. Sie setzt auf die befreiende Macht der Wahrheit. Das gibt ihr etwas Unerschütterliches.
»Wissen Sie«, sagt Margarete Mitscherlich jetzt etwas unvermittelt, »das mit dem Glück, das ist natürlich so eine Sache. Im Moment zum Beispiel bin ich nicht glücklich, weil ich nämlich den Eindruck habe, dass es meinem Sohn gerade nicht gut geht.«
Und aus der nüchternen alten Dame wird sehr schnell eine Mutter mit Muttersorgen. Dabei ist ihr Sohn inzwischen über sechzig Jahre alt und war oberster Manager eines Großunternehmens, das in die Schlagzeilen geraten ist, und er damit auch.
Er sei in einem Haifischteich und sei selbst so gar kein Haifisch, sagt sie. Aber wenn er es in diesem Teich so weit gebracht hat, sage ich, muss er selbst doch auch ein bisschen Haifisch sein, das ist doch der Preis, den man bezahlt. »Meinen Sie?«, sagt sie. »Nein, ich kann das nicht glauben. Er ist einfach kein Haifisch, das glaube ich wirklich nicht.« Und das macht ihr Sorgen: »Wenn er es nur wäre.« Sie liege in der Nacht wach und überlege, wie sie ihm helfen könne. Sie hoffe, dass er nicht bitter werde. Sie denke, dass sie ihm zu wenig Ellbogen beigebracht habe.
Dabei ist es Margarete Mitscherlich völlig klar, dass sie als Mutter längst nicht mehr in der Verantwortung steht: »Mein Sohn ist glücklich verheiratet und Vater von vier Kindern.« Trotzdem lässt die Psychoanalytikerin ihre professionelle Fähigkeit zur Distanznahme, die sie sonst kaum abzulegen scheint, bei ihrem Sohn jetzt einfach fahren. Und diese Reaktion ist wohl der zweite Schlüssel zu Mitscherlichs wacher Lebendigkeit: Sie hat die Fähigkeit, sich auch im hohen Alter noch auf den Kummer, das Glück, das Leben anderer Menschen einzulassen und dabei die Tatsachen des eigenen Gefühlslebens nicht auszusperren.
Nun bleibt ein Sohn für die Mutter immer ein Sohn, Mutterliebe ist lebenslänglich, und bei Margarete Mitscherlich kommt hinzu, dass sie zu wissen glaubt, was ihre Mutter-Sohn-Beziehung geprägt hat. Die Tatsache etwa, dass sie ihr Kind im Alter von zwei bis sechs weggab, »in die Obhut meiner Mutter nach Dänemark«, sie sah damals keine andere Möglichkeit. Sie wollte und musste finanziell auf eigenen Füßen stehen, sie war Ärztin und wollte sich zur Psychoanalytikerin ausbilden lassen, sie wusste, dass dieser Beruf wie maßgeschneidert war für sie, sie wollte nach London, wo die Großen der Zunft waren, Michael Balint, Melanie Klein, Anna Freud. Damit verknüpft die Tatsache, dass sie deswegen Schuldgefühle hatte, obwohl sie immer schon fest davon überzeugt gewesen sei, dass »nur eine glückliche Mutter auch eine gute Mutter ist«.
Natürlich habe sie nachher immer versucht, die vier Jahre ihrer Abwesenheit irgendwie wettzumachen. Einerseits sei er ja sehr selbstständig gewesen, sodass sie ihn manchmal wohl auch überschätzt habe, andererseits sei er als Junge oft zu ihr gekommen bei einem Streit mit anderen und habe sie gebeten, ihn zu verteidigen. Natürlich habe sie da gesagt, nein, das musst du selbst tun. Aber gleichzeitig sei sie auf dem Balkon gestanden, jederzeit bereit einzuschreiten, wenn einer ihrem Jungen was getan hätte. Margarete Mitscherlich lässt zu, dass ihr damaliges Verhalten sie bis heute beschäftigt.
Auf dem Tisch liegt die neuste Ausgabe der Zeitschrift Psyche. Und sie hat zwei Tageszeitungen abonniert: »Wissen Sie, ich bin immer froh, wenn mein Kopf beschäftigt ist.« Denken und Erkennen war für sie immer schon ein Elixier, aber jetzt, da sie sich nicht mehr auf ihren Körper verlassen kann, mehr denn je. Trotz der ihr bewussten Tatsache, dass nicht sie die Zukunft gestalten wird, will sie die Gegenwart nicht aus den Augen verlieren. Dass sie sich von einer Welt, die immer weniger auf ihre Teilnahme baut, keineswegs verabschiedet, ist wohl der dritte Schlüssel zu Mitscherlichs heiterer Präsenz: »Es macht mich einfach glücklich, Zusammenhänge zu erkennen. Ich will informiert sein. Ich will wissen, warum ich handle, wie ich handle. Immer noch. Das macht einfach frei. Zu verstehen und verstanden zu werden ist doch der Weg zu einem guten Leben. Das hilft einem, die Welt zu ertragen.«
Ertragen? Dabei wollte sie die Welt doch einst verändern. »Ich glaube, man muss sie in erster Linie ertragen lernen. Verändern kann man ja nicht wirklich viel.« Sie bezeichnet sich als »Realistin«. »Das Wichtigste ist, sich bewusst zu werden, dass man in einem Räderwerk steckt. Man wird in Situationen geworfen. Und daraus muss man dann etwas machen. Immer wieder.«
Wenn Margarete Mitscherlich aus ihrem Leben erzählt, dann schildert sie solche Situationen, solch »prägende Umstände«. Ihr Leben erscheint von heute aus gesehen als eine ziemlich schlüssige Abfolge von Gegebenheiten, die sie in einem guten Sinne zu nutzen wusste.
Die Eigenständigkeit ihrer Mutter zum Beispiel war für sie prägend. In einer Zeit, als die gesellschaftliche Bestimmung der Mädchen sich noch im Heiraten und Kinderkriegen erschöpfte, drängte die Mutter Margarete zum Studium:...




