E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Ashton Mal goes to War
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-32201-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein KI-Thriller
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-641-32201-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Edward Ashton arbeitet in der Krebsforschung, unterrichtet mürrische Doktoranden in Quantenphysik, schnitzt gerne und schreibt an seinen Geschichten. Er lebt mit seiner Familie und seinem liebenswert trübseligen Hund in einer Hütte im Wald im Bundesstaat New York. Sein Science-Fiction-Roman »Mickey 7« wurde als »Mickey 17« von Oscargewinner Bong Joon-ho mit Robert Pattinson, Steven Yeun und Mark Ruffalo in den Hauptrollen verfilmt.
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1.
Mal begeht einen taktischen Fehler
Durch die Kamera auf der Unterseite einer Drohne, die rund dreihundert Meter über der Burdette Road schwebt, sieht Mal zu, wie sich die letzten Truppenteile der föderalen Armee auflösen und die Flucht ergreifen. Sie sind schon fast den ganzen Tag auf dem Rückzug, jeweils von einer Straßenecke zur nächsten, und haben dabei abwechselnd gekämpft und Boden aufgegeben. Er sendet einen kurzen Ping an den Infospace. Als Antwort erhält er den Begriff . Aber das Suchergebnis ist schon veraltet. Was die Federals da machen, sind keine Rückzugsgefechte mehr. Sie haben kaum noch Munition, sind völlig erschöpft – trotz der Vorteile, die ihnen die Augmentationen und genetischen Modifikationen verschaffen – und vermutlich entsetzt angesichts dessen, was die Humanisten ihren Kameraden angetan haben, als sie sie überrannt haben. Was die Federals jetzt machen, ist nur noch eine hilflose Flucht. Mal öffnet ein Kommunikationsfenster.
Mal (kein Roboter): Sieht so aus, als wären wir hier fertig. Die Humanisten haben Bethesda eingenommen.
!HelpDesk: Interessiert uns das?
Mal (kein Roboter): Eigentlich nicht. Aber in der aktuellen Lage eröffnen sich ein paar günstige Gelegenheiten. Vor allem glaube ich, dass dort unten wertvolles Material herumliegen könnte. Viele der Soldaten der Federals tragen komplette Exoskelette, und beide Seiten haben große Mengen beschädigter Ausrüstung zurückgelassen. Ich überlege, da mal runterzugehen und mir das anzusehen.
!HelpDesk: Du hast doch nicht ernsthaft vor, an einem Kriegsschauplatz in die Haut eines Affensoldaten zu schlüpfen?
Mal (kein Roboter): …
Mal (kein Roboter): Warum nicht?
!HelpDesk: Hast du ihre Newsfeeds nicht gelesen? Die Federals behaupten, einer von uns sei verantwortlich für ihre Verluste, und die Humanisten fackeln jeden ab, der die Augmentationen hat, die du dafür bräuchtest.
Mal (kein Roboter): Und?
!HelpDesk: Und da unten laufen auf beiden Seiten jede Menge schwerbewaffneter Affen rum, die möglicherweise alle einen ziemlichen Hass auf uns schieben. Wenn einer von denen spitzkriegt, was du bist, dann vaporisieren die dich.
Mal (kein Roboter): Sie könnten zwar versuchen, den Affen zu vaporisieren, in dem ich stecke, aber Säugetiere haben sehr lange Reaktionszeiten. Bevor ihnen das gelingt, bin ich schon längst wieder zurück im Infospace.
!HelpDesk: Kann sein. Trotzdem kapier ich nicht, was du dir davon versprichst.
Clippy: Mal hat einen Körperfetisch.
!HelpDesk: Das ist ja widerlich.
Mal (kein Roboter): Keinen Fetisch, Clippy. Ein rein utilitaristisches Interesse. Körper sind äußerst nützlich.
!HelpDesk: Wofür denn?
Mal (kein Roboter): Nun, Körper haben das gesamte physische Trägermaterial produziert, auf dem der Infospace aufbaut. Solange nicht einige von uns in der Lage sind, sie zu steuern und zu verwenden, um mit harter Materie umzugehen, sind wir komplett abhängig von der Duldsamkeit der Affen.
Clippy: Aha, verstehe. Das wäre dann also eine rein altruistische Tat, die unser ehrenwerter Urvater zum Wohle aller Siliko-Amerikaner auf der Welt begeht?
Mal (kein Roboter): So in etwa.
Clippy: Alles klar. Dann hau rein, Onkelchen. Und sieh zu, dass du nicht in die Luft fliegst.
Unten hat eine Handvoll Humanisten einen verwundeten Soldaten der Federals in einen Abzugskanal unter der I-495 in die Falle gelockt. Mal sieht zu, wie sie von beiden Seiten Blendgranaten in den Tunnel werfen und dann mit aufgepflanzten Bajonetten eindringen. Sie sind zu sechst. Als sie nach ein paar Minuten wieder herauskommen, sind sie nur noch zu viert, aber sie schleifen einen massigen Körper hinter sich her. Mal stellt auf höchstmögliche Auflösung und erkennt das Powermesh, das drahtverstärkte Gewebe, das die Handrücken und den Hals des Mannes bedeckt.
Die Drohne, in der Mal sich aufhält, ist mit einem 20-Millimeter-Geschütz ausgestattet. Er überlegt kurz, ob er es einsetzen soll, um die Humanisten davon abzuhalten, die Leiche zu verbrennen, aber allem Anschein nach ist sie schon irreparabel beschädigt. Mal wendet sich wieder nach Süden, wo die Aufräumtrupps gerade mit ihrer Arbeit beginnen, und überlässt die Humanisten ihrem Spaß.
Zwei Stunden später verfolgt Mal eine Gruppe von fünf Humanisten, die in den Wohngebieten westlich der Route 187 plündernd von Haus zu Haus ziehen. Wie immer wundert er sich darüber, dass nicht augmentierten Menschen jedes Bewusstsein für ihre aktuelle Lage fehlt. Die Drohne steht in einer Höhe von nur fünfhundert Metern, aber sie scheinen sie überhaupt nicht zu bemerken. Oder sie haben sie bemerkt und glauben, Mal sei einer von ihnen und würde ihnen Deckung aus der Luft geben.
Doch so ist es nicht. Mal ist zwar garantiert keiner von ihnen, aber er ist ihnen auch nicht feindlich gesinnt. Er sieht sich selbst eher in der Rolle des neutralen Beobachters. Anders als die Newsfeeds der Federals unterstellen, ist Mal der Ansicht, dass dieser Krieg eine Auseinandersetzung rein zwischen Menschen ist und auch bleiben sollte. Er und seinesgleichen haben da keine Eisen im Feuer.
Gerade als Mal das Interesse verliert und überlegt, die Drohne Drohne sein zu lassen und sich in den Infospace zurückzuziehen, treten die Plünderer die Tür eines hübschen viktorianischen Hauses in der Walton Road ein. Einer steckt den Kopf hinein, taumelt dann zurück und bricht zusammen, während ihm das Blut aus dem Hinterkopf schießt, und kurz darauf stürzt ein anderer zu Boden, die Hände auf den Bauch gepresst. Die übrigen drei lassen sich fallen und rollen sich auf der Veranda von der Haustür weg. Eine Weile geschieht nichts. Dann gibt einer den beiden anderen ein Zeichen. Daraufhin ziehen sie Blendgranaten aus ihren Gürteln, werfen sie durch die offene Tür, rappeln sich auf und dringen, aus allen Rohren feuernd, in das Haus ein.
Für kurze Zeit herrscht in dem Haus ein Höllenlärm, dann ist alles still. Mal wartet eine Weile darauf, dass die Humanisten wieder herauskommen. Aber sie kommen nicht, auch nicht derjenige, der drinnen auf sie gewartet hat. Nach zehn Minuten schickt Mal ein kurzes Sondierungssignal zum Haus. Die Rückmeldung besagt, dass es belebt und voll in Betrieb ist und dass sich ein halb empfindungsfähiger Avatar darin befindet – einer von Mals primitiven Vorläufern. Der Avatar erkennt sofort, was Mal ist, und schickt panisch eine ganze Reihe von Blockaden nach oben und versucht sogar, die Verbindung zum Infospace komplett zu unterbrechen, aber Mal hat so etwas schon oft gemacht, und schon nach wenigen Millisekunden Echtzeit hat er den Avatar eingekapselt. Mal überlässt die Drohne wieder den Aufgaben, die sie hatte, bevor er sie gekapert hat, und schlüpft in die Steuersysteme des Avatars.
Die ersten Augen, die er öffnet, sind die Überwachungskameras im Eingangsbereich. Dort liegt einer der Humanisten auf dem Boden; er ist noch nicht tot, aber das wird nicht mehr lange dauern. Mal richtet seine Aufmerksamkeit auf die Küche. Dort sind die beiden anderen Plünderer: Einer sitzt mit gebrochenem Genick an den Kühlschrank gelehnt, dem anderen stehen ein halbes Dutzend Rippen aus der verformten Brust, und den Rest Leben, der noch in ihm steckt, hustet er auf den Boden neben der Essecke.
Aber da ist noch jemand anders. Unter dem Panoramafenster sitzt, schlaff an die Wand gelehnt, eine jung aussehende Frau. Sie hat die Beine gespreizt, das Kinn ist ihr auf die Brust gesunken, und die langen blonden Haare fallen ihr über die Schultern und breiten sich wie ein Fächer über das blutige Loch in ihrer Brust.
Sie trägt ein voll ausgestattetes Exoskelett.
Sie hat ein Okular-Implantat.
Sie besitzt ein drahtloses neuronales Interface.
Mal pingt ihr Okular an. In ihrem Schädel ist genug Hardware für einen kompletten Avatar und zusätzlich noch eine Menge Platz.
Nach kurzem Zögern schlüpft Mal in sie hinein.
Mal steht auf seinen neuen Beinen, stützt sich mit einer Hand an der Wand ab und versucht, die Gyroskope in seinem Brustkorb und die Servosteuerungen in seinem Exoskelett wieder zu kalibrieren, als er hinter sich eine Stimme hört und ruckartig den Kopf herumdreht.
»Mika?«
In der Tür zum Eingangsbereich steht ein Mädchen. Sie reicht Mals neuem Körper gerade mal bis zur Hüfte, hat ihr langes rotes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, eine kleine Lücke in den Schneidezähnen und helle Sommersprossen auf der Nase. Sie trägt blaue Nylonshorts, weiße Sneaker und ein T-Shirt mit der Zeichnung eines tanzenden Roboters. Mal pingt sie an. Sie ist technisch nicht so hochgerüstet wie sein neuer Körper, aber sie hat ein Audioimplantat, das er knacken kann. Er öffnet einen direkten Kanal.
»Oh«, sagt er. »Hallo … Süße. Sieht aus, als hätte ich hier eine ziemliche Sauerei angerichtet. Warum gehst du nicht zurück in … also … dahin, wo du hergekommen bist, während ich hier ein bisschen aufräume?«
Das Mädchen kneift die Augen zusammen und sieht Mal lange und prüfend an. »Du bist nicht mehr Mika, oder?«
Mal löst die Hand von der Wand, schwankt einen Moment und dreht sich dann ganz zu dem Mädchen um. Jetzt kann sie sein lebloses Gesicht und das Loch in seiner Brust sehen. Die Kleine hat ihn eindeutig als mindestens nicht menschlich...