E-Book, Deutsch, Band 6098, 265 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Assmann Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur
3. Auflage 2020
ISBN: 978-3-406-74895-0
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Intervention
E-Book, Deutsch, Band 6098, 265 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-74895-0
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aleida Assmann geht in ihrem Buch, das nun in aktualisierter Neuauflage vorliegt, auf die kritischen Stimmen der jüngsten Zeit ein. Sie zeigt, was kontrovers ist, wo es Veränderungsbedarf gibt und welche Grundsätze in Zeiten eines neuen Nationalismus unbedingt zu verteidigen sind. Damit zeigt sie zugleich, dass unsere Erinnerungskultur ein nationales Projekt ist, das auf historische Veränderungen und immer neue Herausforderungen reagiert.
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EINLEITUNG
1930 veröffentlichte Sigmund Freud in Wien einen Text mit dem Titel Das Unbehagen in der Kultur. Darin beschäftigte er sich mit Kultur als einem kollektiven Projekt, das die Wünsche des Ichs zum Wohle der Allgemeinheit beschneidet. Der technische Fortschritt, der das Projekt der modernen Kultur antreibt, führt, so Freud, weder geradewegs zu einem subjektiven Glückszustand noch zu einer wirklichen Befriedigung angesichts der permanent gesteigerten Verfügungsmacht über die Umwelt. Den Grund für ausbleibendes Glück und Befriedigung sah Freud noch nicht in einem gesteigerten Bewusstsein wachsender Gefahren und Risiken der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation, sondern in dem Umstand, dass mit der Ausweitung der Kultur auch das Über-Ich angewachsen sei und das Ich immer stärker unter Druck gesetzt habe. Denn die Kultur, so Freud, konfrontiert das Individuum mit einer Reihe von Zumutungen und ethischen Überforderungen. Die «kulturellen Ideale», die die Gesellschaft den Menschen auferlegt, sind deshalb teuer erkauft mit einem künstlich in Gang gehaltenen Bewusstsein für Schuld, das zur Grundlage des individuellen Gewissens geworden ist, sodass «der Preis für den Kulturfortschritt in der Glückseinbuße» besteht und «durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird».[1] Wenn wir uns auf dieses Kernargument konzentrieren, trifft Freuds Argumentation auch den Nerv der deutschen Nachkriegsgeschichte: Der Kulturfortschritt wird mit einer Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt. Die Reintegration des Landes in den Kreis der zivilisierten Nationen geschah auf der Basis eines negativen Gedächtnisses, das die eigene verbrecherische Vorgeschichte ins kollektive Selbstbild integriert und durch öffentliches Bekennen von Schuld rituell in Gang hält. Die Schuld, um die es inzwischen geht, ist allerdings nicht mehr die fiktive Konstruktion der Tötung eines archaischen Stammvaters durch die Vereinigung der Brüder, sondern der von den Deutschen ausgedachte, durchgeplante und mit transnationaler Kollaboration ausgeführte Mord an den europäischen Juden und anderen zivilen schutzlosen Minderheiten. War Freuds Vorstellung von der Tötung des Urvaters ein wissenschaftlicher Mythos, so ist der Genozid an den Juden ein rezentes und von historischen Quellen akribisch dokumentiertes Menschheitsverbrechen. Da diese Schuldlast bei Weitem alles übersteigt, was emotional getragen und abgegolten werden kann, betrifft sie auch zukünftige Generationen und ist in die Zukunft hinein mitzunehmen. Die ‹Erinnerungskultur›, von der dieses Buch handelt, ist eine Antwort auf dieses historische Ereignis. Seit den 1990er Jahren hat sich dieser Begriff in wissenschaftlichen Diskursen, in den Ansprachen der Politiker, aber auch in den Medien und sogar in der Alltagssprache immer mehr durchgesetzt. Wir stoßen regelmäßig auf ihn, von der Sonntagsrede bis zum Spiegel-Titel, sodass wir uns schon nicht mehr darüber im Klaren sind, dass es sich dabei um eine neue Wortschöpfung handelt. In diesem Fall ist, wie ich zeigen werde, nicht nur das Wort, sondern auch die Sache neu. Warum kam diese Antwort auf das Jahrhundertverbrechen erst so spät? Warum gab es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs keine ‹Erinnerungskultur›? Warum galt lange Zeit das Schweigen als die bessere Option? Mit dem neuen Wort kam auch eine neue Einstellung in die Welt, die das bislang gültige Verhältnis zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit grundsätzlich verändert hat. Wir können auch von einem tiefgreifenden Wertewechsel sprechen, der in die 1980er Jahre zurückreicht. Es handelt sich dabei um eine Verschiebung im Kanon unserer unbefragten Selbstverständlichkeiten, die als solche selbst nicht thematisiert werden, weil sie Teil unseres Weltbildes sind. Die Umwelttheoretiker sprechen von ‹Shifting Baselines›, wenn sie die stillschweigende Verschiebung normativer Referenzpunkte beschreiben. Menschen nehmen Veränderungen ihrer sozialen oder physischen Umwelt in der Regel nicht bewusst wahr, weil sie «immer jenen Zustand ihrer Umwelt für den ‹natürlichen› halten, der mit ihrer Lebens- und Erfahrungszeit zusammenfällt».[2] Als 1989 die Berliner Mauer fiel und mit ihr das politische Gefüge des sowjetischen Ostblocks, brach gleichzeitig noch etwas anderes zusammen, nämlich der Modernisierungsglaube mit seiner Zukunftserwartung und Vergangenheitsvergessenheit. Die Entstehung der Erinnerungskultur und der Niedergang des Modernisierungsglaubens stehen in einem direkten Verhältnis zueinander und markieren einen Wandel westlicher Zeitorientierung, der erst allmählich ins Bewusstsein tritt.[3] Mit der neuen Erinnerungskultur haben sich die traditionellen Formen des Erinnerns radikal verschoben. Zum ersten Mal sind es nicht mehr nur die eigenen Opfer der Kriege, derer heroisch gedacht und die trauernd beklagt werden, sondern auch die Opfer der eigenen Verbrechen, die in die Verantwortung der Staaten und nachwachsenden Generationen mit einbezogen werden. Diese selbstkritische Erinnerung ist eine historisch völlig neue Entwicklung. In den letzten drei Jahrzehnten ist diese Erinnerungskultur in Deutschland mit großer Energie, finanziellem Aufwand und bürgerschaftlichem Engagement aufgebaut worden und seither mit einer Fülle von Institutionen und Initiativen, Gedenkstätten und Museen, Veranstaltungen und Programmen für alle erreichbar und unübersehbar geworden. Sie ist durch die Medien ganz selbstverständlich in den Alltag eingelassen, vor der Haustür in Gestalt von Stolpersteinen präsent und überregional sichtbar in herausragenden Bauten und Monumenten. Nach dieser emsigen Phase des Aufbaus steht die deutsche Erinnerungskultur nun auf dem Prüfstand. Welche Rolle soll diese Erinnerung fortan in unserer Gesellschaft spielen? Soll sie überhaupt fortgesetzt werden, und wenn ja, wie? Wohin soll der Weg gehen, und wer soll ihn gehen? Das sind einige der Grundfragen, die sich auf der aktuellen Agenda angesammelt haben. «Der letzte Pimpf, dem man noch vorhalten könnte, ein solcher gewesen zu sein und sich dazu nicht rechtzeitig reumütig bekannt zu haben, wird bald unter der Erde liegen», schrieb Hermann Lübbe im Jahr 2008.[4] Nach Harald Welzers Auskunft «spricht viel dafür, dass die Intensität der Erinnerung an die NS-Vergangenheit, den Krieg und den Holocaust künftig abnehmen, sich devitalisieren wird». Er bringt das in Zusammenhang mit der Tatsache, dass «mit dem Heranwachsen der vierten und fünften Generation nach dem Holocaust die unmittelbare generationelle Verbindung zu diesem historischen Geschehenszusammenhang verschwindet».[5] «Die kurze Ära der Zeitzeugen» liegt bald hinter uns. Aber können wir daraus schließen, dass damit auch das Ende der Erinnerung an diese Geschichtsepoche zu ihrem ‹natürlichen› Ende kommen wird? Werden Zweiter Weltkrieg und Holocaust bald nur noch «ein Kapitel im Geschichtsbuch» sein? (Frank Schirrmacher) Ereignisse können als historisch geworden und vergangen gelten, wenn sie aufgehört haben, Teil der normativen Selbstdefinition eines kollektiven ‹Wir› zu sein: Das können ‹wir› vergessen (und den Historikern überlassen). Andernfalls lautet die Formel: Das dürfen ‹wir› als Bürger dieses Landes nicht vergessen. Die Möglichkeit eines verlängerten Identitätsbezugs zu einer negativen Geschichtserfahrung hat bereits Nietzsche thematisiert, als er schrieb: «Da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurteilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Tatsache nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen.»[6] Die Frage ist deshalb wohl weniger, ob es für die Erinnerungskultur nach der nächsten oder übernächsten Generationenwende noch eine Zukunft geben wird, als vielmehr, wie diese Erinnerungskultur zu gestalten ist, d.h. welche aktuellen Probleme, Gefahren, Herausforderungen und Chancen in dieser Zukunft auf uns zukommen. Erinnern ist ein dynamischer Prozess, der sich durch inneren Druck und veränderte äußere Konstellationen in permanenter Veränderung befindet. Nietzsches genealogisches Konzept der ‹Kette› und des ‹Herstammens› zum Beispiel setzt ein ethnisches Schuldkollektiv voraus, das im Zeitalter von Globalisierung, Migration und der damit einhergehenden Pluralisierung von Erinnerungen nicht mehr haltbar ist. Wir befinden uns in einer demographischen und kulturellen Wende und haben deshalb nicht nur einen aktuellen Bedarf an Erneuerung und Anpassung an die veränderten Verhältnisse, sondern auch an Reflexionen und Kommunikation über anstehende Richtungsentscheidungen. Deshalb erscheint eine selbstkritische Diskussion über die Standortbestimmung und Entwicklungsdynamik der deutschen Erinnerungskultur zum gegenwärtigen Zeitpunkt dringend geboten. Der unmittelbare Anstoß für dieses Buch ist das wachsende Unbehagen an der Erinnerungskultur, das derzeit in vielen Stellungnahmen und Stimmungen zum Ausdruck kommt. Diese sind ein deutliches Signal dafür, dass...