E-Book, Deutsch, 212 Seiten
Reihe: Lenos Babel
Attiki Cave 72
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-03925-720-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 212 Seiten
Reihe: Lenos Babel
ISBN: 978-3-03925-720-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Cave 72, eine kleine Bar in Brazzaville, ist ein beliebter Treffpunkt. Sie gehört Mâ Vouala, von allen Maman Nationale genannt. Ihre Bar ist im Lauf der Zeit zu einem Zufluchtsort für alle geworden, die gern bei einem Bier über Gott und die Welt, die Liebe und den alltäglichen Wahnsinn diskutieren. Auch Verdass, Ferdinand, Didi und Stephan, verschworene Freunde, treffen sich jeden Abend in der Cave.
Eines Tages wird ein finsteres Komplott geschmiedet. Mit einem perfiden Plan gelingt es dem Regime, die nichtsahnenden jungen Männer und Maman Nationale terroristischer Umsturzpläne zu beschuldigen und zu verhaften. Doch es regt sich Widerstand, das Land gerät in Aufruhr.
Bildreich, wortgewandt, ironisch gelingt Fann Attiki ein bitterböses Porträt eines korrupten, patriarchalischen Machtapparats, der für die gutausgebildete junge Generation keine Zukunftsmöglichkeiten offenhält.
Weitere Infos & Material
Es wurde Abend und dann Morgen:
Der erste Tag brach an. 17 Uhr, PK, Brazzaville. Das Bier im Tiefkühler war fast noch warm. Weit weg von seiner perfekten Trinktemperatur. Drei Stammkunden verlangten ihre Bestellung. Mâ Vouala, die alle Maman Nationale nannten, machte sie auf das unselige Detail des Thermometers über null aufmerksam, unter dem ihr Alkoholvorrat litt. Das war ihnen schnurzegal. Also gab sie nach. Mit einem Lächeln stellte sie drei Flaschen Bier auf ihren Tisch und nahm dann ihre unterbrochene Tätigkeit wieder auf. Mit ihren mehr als dreissig Jahren Erfahrung wusste sie, dass Grossherzigkeit, Leutseligkeit und Höflichkeit die beste Marketingstrategie sind. Maman Nationale pries jeden Tag, den Gott ihr schenkte, die Treue dieser drei Kunden. Sie sei gemein, flüsterte man. Durchtrieben nannte man sie hinter ihrem Rücken auch. Wenn diese jungen Leute – normalerweise waren es vier – mit ihren Bierflaschen dreimal anstiessen, bevor sie mit tiefen, schaumigen Schlucken ihre Kehlen benetzten, hielt sie mit ihrer Bewunderung nicht zurück: »Das sind Männer, die das Leben ehren!«, sagte sie. Aus diesen Momenten zog sie schöne Lehren über die Schlichtheit der Existenz. Die Fröhlichkeit, die diese jungen Männer ausstrahlten, ihre Freude am Zusammensein und ihre ungetrübte Sorglosigkeit erweckten in ihr den Wunsch, sie in den Arm zu nehmen. Dass sie zudem der Versuchung widerstanden, bei der Konkurrenz ein richtig kaltes Bier zu geniessen, steigerte ihre Zuneigung noch. Der Laden von Maman Nationale boomte im Viertel PK, auf der Avenue d’Asia, die trügerischerweise auf der Seite geteert war, wo sich eine lange Reihe von Kneipen befand. Pandoras Ufer wurde sie genannt. Jede Bar hatte ein Schild, das von Zahlensymbolik inspiriert zu sein schien: Bar 99, Bar 100-1, Bar Q7, Bar 1e+1 = 2100, Bar Esel 4, Bar … Auf dieser Avenue schrieben sie im wahrsten Sinn des Wortes schwarze Zahlen. Die Cave5 von Maman Nationale hatte ein prächtiges Aushängeschild: Cave 72 chez Maman Nationale stand da geschrieben. Wenn ein Kunde sie auf die schillernde 72 auf dem Schild ansprach, räusperte sie sich zuerst und antwortete dann: »weil ich von weit her komme«. So begann sie mit ihrer Geschichte, die alle Stammkunden auswendig hersagen konnten. Sie wussten, dass der Verkauf von Beignets der Beginn ihres Aufstiegs gewesen war. Jungen Studenten Kredit einzuräumen gehörte zum Erfolg dazu. Als sie eine siebenstellige Summe angespart hatte, beschloss sie, sich dem Verkauf von Alkohol zuzuwenden. Sie hatte eine Cave gekauft und sie in Cave 72 umbenannt. Diese Zahl war für sie ein Symbol des Sieges: 1972 war ein Glücksjahr gewesen, der Kongo hatte aus Kamerun den Afrika-Cup heimgebracht. Von der Beignetverkäuferin zur Barbesitzerin aufzusteigen war für sie ein Sieg über das Unmögliche. Auf der anderen Seite der Avenue, Pandoras Ufer gegenüber, lag das heilige Ufer. Eine andere Reihe von Schildern illustrierte diese Seite. Da war zu lesen: Gemeinde des wahren Feuers und der Wunder Gottes, Gemeinde der wahren Macht der Evangelien, Gemeinde des wahren christlichen Glaubens, Gemeinde der wahren Botschaft, Gemeinde der wahren Erlösung des Herrn, Gemeinde der Segnung des Präsidentenpaares und der Nationen, Gemeinde … Bei Maman Nationale besetzten die drei siebenundzwanzigjährigen Männer einen Teil des Vorplatzes, der die Cave bis zur Strasse verlängerte. Ihre Terrasse war sehr viel grösser als die der Nachbarn. Eine Riesenterrasse vor einem schmalen Innenraum. Der Kontrast entging niemandem. Vor allem nicht der Konkurrenz, die Maman Nationale der missbräuchlichen Besetzung des öffentlichen Raums bezichtigte. »Keiner hindert euch daran, es mir gleichzutun, was?!«, verteidigte sie sich. Die Einrichtung ihrer Cave spiegelte die Bescheidenheit ihrer Seele wider: ein Tresen, zwei sich gegenüberstehende Sofas, dazwischen ein Couchtisch. Das Dämmerlicht garantierte den Paaren, die Wert auf Diskretion legten, glückliche Momente. Kein Nachmittag verging, ohne dass Mamans Gehilfen Spuren von Erbrochenem, von säuregelbem Urin, weissem Schleim, Schweiss wegwischten … »Bier ist wie eine Frau, je frischer, desto besser!«, erklärte Didi, einer der drei jungen Männer, in seinem Akzent voller gerollter R. Von seiner Mutter hatte er ein kleines Gesicht mit femininen Zügen geerbt, eine pralle Figur, einen ockergelben Teint, der seinen Sex-Appeal bestimmte. Selbst in der Trockenzeit, bei grösster Hitze, blieb er seiner roten Jacke treu. Sein Schmollmund täuschte Ernst vor, was seiner Aussage einen freundschaftlichen Klang verlieh. Er unterstrich damit nur den guten Willen der drei. Keinesfalls wollte er Maman Nationale eine Lektion in Geschäftsführung erteilen. »Selbst unter den schlimmsten Umständen werden wir dir als Kunden treu bleiben.« Maman Nationale war sich dessen bewusst. »Doch je heisser sie ist, desto erregender wird sie!«, antwortete sie und wischte die in Kinshasa6 produzierten Plastiktische und -stühle auf der Terrasse ab. Es brauchte wenig, um den jungen Männern Lachsalven zu entlocken. Maman Nationale zeigte sich erkenntlich und bezeugte dies ihrem Gott im Himmel. ›So eine Stimmung kann nur den Anfang eines schönen Tages bedeuten‹, sagte sie sich. Ein Mann kam zur Bar. »Mutter! Zwei warme Arthur7 für mich und je zwei Flaschen für meine kleinen Brüder!« Black Mic-mac roch nach Rohöl. Jede Faser seines orangefarbenen Overalls, der vom vielen Tragen ausgeblichen war, stank nach Benzin. Er stapelte drei Plastikstühle übereinander in der Hoffnung, dass sie seine überflüssigen Pfunde tragen würden, und setzte sich abseits in eine Ecke der Terrasse. Die Trinkorgie vom Vortag quälte ihn. Aber auch eine fleischliche Lust, denn am heiligen Ufer schlenderte ein Schwarm Frauen mit verführerischen Kurven vorbei, eine Gruppe von Korpulenten, die ihre Figur den Wohltaten eines Pharmaprodukts der Firma Shalina verdankten. »Tja, wo Schafe weiden, ist das Gras immer grün.« »Vielen Dank, Grosser!«, rief Ferdinand, der zweite der drei jungen Männer. Er sah gut aus mit seinem zotteligen Haar, das zusammen mit seinem kaffeefarbenen Gesicht und seiner beeindruckenden Statur sein schelmisches Wesen unterstrich. »In Wahrheit, in Wahrheit, sage ich euch, zahle ich nur meinen Tribut, meine Kleinen. Meine christliche Erziehung verlangt, dass ich zehn Prozent meines Lohns an die Kirche zahle, die es normalerweise an die Bedürftigen weiterreichen müsste. Aber wenn ich Menschen sehe, die dringend ein Bier brauchen, gebe ich gerne ein Zehntel meines Lohns dafür aus!« »Hm, das Evangelium nach Black Mic-mac!« »Lang sollst du leben!«, riefen die jungen Männer im Chor. Sie erhoben alle ihre Bierflaschen und leerten sie in einem Zug zu Ehren des grossen Bruders8. Black Mic-mac öffnete sein zweites Bier. Er richtete seinen krummen Rücken auf, drückte seinen dickhäutigen Hintern fest in die drei ineinandergeschobenen Stühle und ergab sich dem Charme der Avenue d’Asia: Junge Frauen kamen vorbei, drehten um, kehrten zurück ohne ersichtliches Ziel. Vorpubertäre Mädchen sprangen Seil oder spielten Nzango9. Rentner in weiten Jacken, wie ihre Knochen von Tagen gezeichnet, trafen sich zu einem lokalen Wein und ihren Erinnerungen an die Kolonialzeit. Pubertäre Jungs mit ihren geliebten Baggy Pants und andere, die auf Leggings umgestiegen waren, irrten auf der Suche nach einer unbekannten Sehnsucht umher. Alte Karren erledigten den öffentlichen Verkehr, vollgestopft mit Passagieren, die es gewohnt waren, einen von den Schlaglöchern der Avenue choreographierten Tango zu tanzen. Eine Menge von Dreissig- und Vierzigjährigen verdrängten ihre Orientierungslosigkeit mit lautstarken Auseinandersetzungen, bei denen sie sich höflich Unverschämtheiten an den Kopf warfen, in Bezug auf Werrason gegen JB Mpiana, Roga Roga gegen Kévin Mbouandé, Messi gegen Ronaldo, Diables noirs gegen Léopards de Dolisie, den Erzengel Michael gegen Luzifer, Weihwasser gegen das Wasser aus Nkamba, Jesus gegen Tâta Simon Kimbangu, JHWH gegen die Ahnen … Familien, Paare, junge Männer und Frauen in ihren Sonntagskleidern besuchten die Erweckungskirchen am heiligen Ufer. All das gepaart mit den fauligen Ausdünstungen der Abfälle in einem Müllcontainer und dem verlockenden Duft der Hähnchenschenkel auf einem Grill. Eine Erinnerung beschäftigte Black Mic-mac. Sie war erst vierundzwanzig Stunden alt. Ohne Zweifel: Die Sonne hatte genau gleich gestanden, als er einen von der Last der Jahre gebeugten Mann gesehen und gehört hatte, der seinem vorpubertären Enkel die Geschichte des Kongo für Dummies erzählte: »Mein Junge, das Land war schon lange vor deiner Geburt im Krisenzustand. Du Armer!...