Atxaga | Ein Mann allein | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Atxaga Ein Mann allein

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-293-30228-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-293-30228-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Carlos, ehemaliger Anführer einer militanten Gruppe, führt mit Freunden ein Hotel bei Barcelona, in dem die polnische Mannschaft während der Fußballweltmeisterschaft wohnt. Ohne Wissen seiner Freunde versteckt er zwei Untergrundkämpfer, in Erinnerung an seine eigene aktive Zeit beim baskischen Widerstand. Doch im Hotel ist auch ein Verräter. Der Kreis von Polizisten zieht sich immer enger, die Bewachung der Polen wird zu einer Belagerung.

Carlos will sich endlich von den bedrohlichen Schatten seiner Vergangenheit befreien und ein neues Leben beginnen – doch dafür muss er seine gesamte Existenz aufs Spiel setzen.

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Der Mann, den alle Carlos nannten, wusste, dass das sich vor ihm ausbreitende Eismeer, bloß ein sich langsam verflüchtigendes Traumbild war, und er wusste auch – weil eine Stimme in seinem Bewusstsein ihn daran erinnerte –, dass er vom Sofa aufstehen und möglichst schnell in den Hotelsaal hinuntergehen musste, um sich dort das Fußballspiel anzusehen, das die Mannschaften Polens und Belgiens um neun Uhr abends jenes Tages, des 28.°Juni 1982, austragen würden. Doch das Meer in seinem Traum hüllte einen Teil seines Bewusstseins ein, der sich immer noch den Befehlen seines Verstandes entzog, und dieser losgelöste Teil flüsterte ihm ein, er solle die Augen nicht aufmachen, er solle sich nicht bewegen, er solle nicht ganz aufwachen, solle sich wohlig fallen lassen, das Gefühl genießen, das sich jetzt seiner bemächtigte und ihn in einen Stein verwandelte, der in seinem Fall auf die Eisschicht prallen und im Wasser versinken würde. Unten angekommen, blieb er jedoch knapp über der Meeresfläche in der Schwebe, sodass er zwei, drei in Dunst gehüllte Fische erkennen konnte, die zwischen den Eisspalten hin und her schwammen. Gleich darauf verwandelte sich der Stein in eine große Fledermaus, die über dem Meer flog, einem Meer, das nun, von oben betrachtet, wie eine riesige weiße Ebene aussah. Er rollte sich auf dem Sofa zusammen und kehrte dem Fenster, durch das die Spätnachmittagssonne hereinschien, den Rücken zu. Er wollte nicht aufwachen, wollte die Traumbilder festhalten und für ein paar Sekunden jene Fledermaus sein, wollte einen flüchtigen Moment lang die Schwerelosigkeit und das Gefühl genießen, nicht er selbst zu sein. Sein Verlangen wurde durch die Orchestermusik noch verstärkt, die von weit weg, von irgendwoher in der weißen Ebene bis zu ihm drang und den an sich schon duftigen Bildern zusätzliche Zartheit verlieh. Sein Wunsch erfüllte sich nicht. Die Musik wurde von der Stimme einer Frau überlagert, die einem Paläontologen namens Ruiz Arregui eine Frage stellte, und dieses Detail – seit er in Barcelona wohnte, ließen ihn baskische Namen unweigerlich aufhorchen – zwang ihn, die Augen aufzumachen und in die Wirklichkeit zurückzukehren. Er sah ein Fernsehgerät mit siebzehn Tasten vor sich und auf dem Bildschirm einen jungen Mann mit Brille, den Paläontologen, der die Frage der Moderatorin beantwortete. »Selbstverständlich nicht. Wie bereits erwähnt, an der baskischen Küste können unmöglich Pterosaurier gelebt haben. Zudem, hätte es sie tatsächlich gegeben, hätten sie nicht fliegen können, weil diese Saurier – wie im übrigen alle Saurier – Kaltblütler waren und daher nicht in der Lage waren, ihre Körpertemperatur zu regeln. Was bedeutet das? Nun, dass sie in Lethargie zwischen dem Eis verharrt hätten, was wiederum bedeutet, dass sie unmöglich fliegen konnten.« »Was beweist«, pflichtete ihm die Moderatorin lächelnd bei, »dass es in jener Zeit, von der in dieser Sendung die Rede ist, keine Pterosaurier – Flugechsen also – gegeben haben kann und dass diese Saurier viele Millionen Jahre früher von der Erdoberfläche verschwunden sind. Und dass die Bezeichnung Fledermaus, wie ich diese urzeitlichen Tiere vorhin genannt habe, ebenso wenig gerechtfertigt ist, weil es sich eindeutig um einen Vogel handelt, genau genommen um ein Reptil. Fassen wir daher für unsere Freunde am Bildschirm zusammen: Beim Pterosaurier handelt es sich um ein Reptil, besser gesagt, um eine Flugechse, die lange, lange bevor sich die ersten Menschen in Höhlen ansiedelten, von der Erde verschwand.« Es war eine populärwissenschaftliche Sendung, und sowohl die Moderatorin als auch der Paläontologe bemühten sich offensichtlich, ein zwangloses Gespräch zu führen. Carlos war etwas enttäuscht über den trivialen Ursprung seines Traumes. Er schaute auf die Uhr: noch eine halbe Stunde bis neun, eine halbe Stunde also, bis das Fußballspiel begann, das Boniek, Lato und seine Mannschaftskollegen gegen Belgien austrugen und das vom zweiten Sender übertragen wurde. Sein Blick fiel auf die Sportzeitung, die neben dem Sofa auf dem Fußboden lag. Boniek ist in Fußballkreisen eine Persönlichkeit – las Carlos zerstreut, während er das Geschehen auf dem Bildschirm aus dem Augenwinkel verfolgte. Er wird außerordentlich geschätzt; er wird bewundert, ja er wird vergöttert, wie wir in Barcelona immer wieder Gelegenheit gehabt haben festzustellen. Bei seinen Teamkollegen genießt er Hochachtung, denn in Polen vergisst niemand seine Geste zu Gunsten des Torhüters Mlynarczyk, als dieser in volltrunkenem Zustand am Flughafen von Warschau erschien. Die Verantwortlichen des Fußballverbandes verlangten, dass Mlynarczyk zu Hause bleiben müsse, doch Boniek drohte, dass er in diesem Fall das Flugzeug ebenfalls nicht besteigen werde, und die Angelegenheit wurde schließlich dank Bonieks Intervention geregelt. Dann überflog er die Schlagzeilen der Tageszeitung, die ebenfalls auf dem Fußboden lag: Gespannte Situation für die Palästinenser in Beirut. – ETA dementiert die Meldung, wonach das jüngste Bombenattentat, bei dem ein Kind schwer verletzt wurde, auf ihr Konto gehe. Es waren die zwei erwähnenswertesten Nachrichten des Tages. Auch wenn die heißeste Zeit des Sommers noch bevorstand, überstieg die Temperatur im Zimmer die fünfundzwanzig Grad. Carlos streckte den Arm aus und öffnete das Fenster, ohne vom Sofa aufzustehen. Er ließ die Abendbrise über sein Gesicht streichen und lag ganz ruhig da wie jemand, der Kopfschmerzen hat und sich vor der kleinsten Bewegung scheut: Er wollte nicht denken, er wollte das von den Traumbildern ausgelöste Gefühl noch ein bisschen genießen, bevor sich neue Bilder einstellten, die sich, durch die Schlagzeilen ausgelöst, in seinem Kopf drängelten, um Gestalt anzunehmen. Also schloss er die Augen und konzentrierte sich auf das Gezirpe, das von draußen ins Zimmer drang; ein regelmäßiger knirschender Ton, der Gesang von Insekten, die wohl seit Zeit und Ewigkeit und für alle Zeiten die Erde bevölkerten. Ihre Anwesenheit störte ihn nicht, so wie es ihn nicht störte, dass die Söhne des Kochs mit ihren Montesas oder Derbys in der Gegend umher knatterten, ohne sich die Mühe zu nehmen, die Auspuffrohre mit Schalldämpfern zu versehen. Alle monotonen Geräusche beruhigten ihn. Ja, sie schläferten ihn ein. Doch heute durfte er dem Wunsch zu schlafen nicht nachgeben. Er musste endlich aufwachen und in den Saal hinuntergehen, um seine Versprechen einzuhalten und sich mit seinen Kompagnons und den Hotelangestellten das Fußballspiel anzusehen. Noch ganz benommen vom Schlaf, ließ Carlos das Zirpen der Insekten auf sich einwirken. Die Regelmäßigkeit war wichtig und überdies wohl tuend, nicht nur für den Körper, für die Magen- und Darmtätigkeit, sondern ebenso sehr für die Psyche. Wer in der Lage war, Geplantes zur geplanten Zeit zu erledigen, wer das Glück hatte, über die Monate und Jahre hinweg von brüsken Zwischenfällen verschont zu bleiben, der konnte auf ein erträgliches Leben zurückblicken. Ja, das Geheimnis lag in der Regelmäßigkeit. Hatte er seinem Bruder nicht immer wieder gepredigt, dass die Regelmäßigkeit einem hilft, schwierige Situationen zu meistern? Dass sie wie der Sand ist, den man unter das Rad streut, wenn es auf dem Glatteis schleudert? Willst wohl nicht behaupten, dass es ihm viel genützt hat. Wenn ich mich nicht täusche, ist Kropotky heute in einer psychiatrischen Klinik, hörte er in sich eine Stimme sagen. Carlos verzog verärgert das Gesicht: Obwohl er es gewohnt war, Stimmen zu hören, obwohl er seit seiner Gefängniszeit auf diese Methode zurückgriff, um sich mit sich selber zu unterhalten, vermochte er die Stimme nicht zu identifizieren, die eben in ihm gesprochen hatte. Es handelte sich offensichtlich nicht um jemand, den er kannte, um eine der Personen, die ebenfalls in ihm lebten und Menschen entsprachen, die er in seiner Vergangenheit gekannt hatte; die wie Schauspieler im gegebenen Moment auftraten, mit einer Stimme, zu der eine Gestalt und ein Gesicht gehörten. Manchmal hatte er den Eindruck, es handle sich vielleicht um eine Ratte, die zwischen seinen Eingeweiden groß und größer wurde und nichts anderes bezweckte, als ihn zu demütigen. Carlos stand vom Sofa auf und stellte sich ans Fenster; er versuchte die Bemerkung der Rattenstimme hinsichtlich seines Bruders zu verscheuchen. Draußen atmete alles die nahende Nacht: Die Drähte in den Lichtbogenlampen um das Hotel herum glühten bereits; eine kleine Fledermaus, eine ganz andere als die aus seinem Traum, umflatterte das orange Licht. In der Ferne verdichtete sich die Dunkelheit wie der Bodensatz in einer Flasche; die Oliven- und Mandelbäume am Berghang waren nur noch verschwommen erkennbar und verschmolzen langsam mit dem Strauchwerk, das sich bis weit in die Ebene hinunterzog. Etwas weiter weg – ungefähr dreihundert Meter vom Hotel entfernt – blinkten an der Straße nach Barcelona bereits die roten und blauen Neonbuchstaben der Tankstellen. Dahinter erhob sich wie ein riesiger grauer Wall der Montserrat. Ja, es wurde wie jeden Tag Nacht, regelmäßig, unaufhaltsam. Eine Stunde später, wenn es ganz dunkel sein würde, würde man den Berg nicht mehr sehen, und die Kirche des Dorfes, zu dessen Verwaltungsbezirk das Hotel und alle Wohnsiedlungen in der Umgebung gehörten, würde hell beleuchtet sein. Dann war die Reihe wieder an den Insekten, bis auch sie verstummten; und auch der Verkehr würde nachlassen und schließlich ersterben. Vollkommene Ruhe würde herrschen,...


Atxaga, Bernardo
Bernardo Atxaga, mit eigentlichem Namen Joseba Irazu Garmendia, wurde 1951 im baskischen Ort Asteasu (Provinz Guipúzcoa) geboren. Er studierte Wirtschaftswissenschaften. Mit Romanen, Gedichten, Liedertexten und Kinderbüchern gewann er in seiner Heimat große Popularität. Sein Roman Obabakoak ist mit den höchsten Literaturpreisen Spaniens ausgezeichnet worden und wurde in mehr als dreißig Sprachen übersetzt. 2021 erhielt Atxaga für sein Werk den Premio Liber.

Waeckerlin Induni, Giò
Giò Waeckerlin Induni, in einer italienischsprachigen Familie in Zürich aufgewachsen, war Lektorin und Übersetzerin vorwiegend aus dem Italienischen, Spanischen und Englischen.



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