E-Book, Deutsch, 271 Seiten
Aubert Marthas Geheimnis
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95824-956-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 271 Seiten
ISBN: 978-3-95824-956-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Brigitte Aubert gehört zu Frankreichs profiliertesten Spannungsautorinnen. Neben Kriminalromanen und Thrillern schreibt sie Drehbücher und war Fernsehproduzentin der erfolgreichen »Série noire«. Heute lebt sie in Cannes und führt ein altes Kino, das sie von ihren Eltern übernommen hat. Bei dotbooks veröffentlichte Brigitte Aubert ihre Krimireihe um Marcel Blanc mit den Bänden »Tödliche Riviera« und »Mörderische Riviera« (auch als Sammelband erschienen). Außerdem ihre Reihe um Élise Andrioli mit den Bänden »Im Dunkel der Wälder« und »Tod im Schnee« sowie ihre Frankreich-Thriller »Die vier Söhne des Doktor March«, »Marthas Geheimnis«, »Sein anderes Gesicht«, »Schneewittchens Tod«.
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Kapitel 1
Erster Tag – Donnerstag, 8. März
Der Kaffee dampfte im grauen Morgenlicht. Ich saß mit der Tasse in der Hand in der dunklen Küche. Gleich nach dem Aufstehen das grelle elektrische Licht zu ertragen, fällt mir immer schwer, ich bewege mich lieber im Halbdunkel. Etwa dreihundert Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite, ging in der Küche der Brundels das Licht an. In den vier Jahren, die ich hier lebte, hatte ich sicher nicht öfter als zweimal das Wort an sie gerichtet. Nicht etwa weil sie mir unsympathisch waren, sondern weil es besser war, meine Beziehung zu den Nachbarn auf ein Minimum zu beschränken.
Ich sah auf meine Uhr: 7.00 Uhr. Ich war spät dran. Wenn ich an diesem Morgen gewußt hätte, was mir bevorstand, wäre mir die Uhrzeit wahrscheinlich egal gewesen. Und vielleicht hätte ich sogar alles getan, um diesen Tag nicht erleben zu müssen. Aber leider hatte ich trotz allem, was man über die Verbreitung übernatürlicher Kräfte liest, nie die geringste Vorahnung, nicht einen Schimmer von Telepathie. Also war ich in aller Unbewußtheit bereit, meinem Schicksal zu folgen.
Martha erschien schlaftrunken in der angelehnten Tür. Eine Strähne ihres schwarzen Haars hing ihr in die dunklen Augen. Sie lächelte mir zu und zog fröstelnd den Morgenmantel aus roter Seide über ihrem weißen, nackten Körper zusammen. Ich reichte ihr eine Tasse Kaffee. Während sie ihn trank, waren ihre großen Augen nachdenklich auf mich gerichtet. Morgens nach dem Aufstehen erinnerte Martha mich an ein kleines Kätzchen, das sich räkelt. Sie unterdrückte ein Gähnen und schnippte dann, als ihr wieder einfiel, was sie mir sagen wollte, plötzlich mit den Fingern:
»Georges, du denkst doch daran, auf dem Heimweg bei der Reinigung vorbeizufahren?«
Ich nickte, leerte meine Tasse und erhob mich. Als Martha mir die Arme entgegenstreckte, beugte ich mich zu ihr herab und küßte ihren Hals an jener Stelle, an der ich ihren Geruch besonders liebte: hinter dem Ohr, dicht neben den feinen Nackenhärchen. Dann flüsterte ich:
»Bis heute abend. Sei schön brav.«
Sie seufzte:
»Du kannst ganz unbesorgt sein, ich fahre heute zu Maman.«
Marthas Mutter war behindert. Sie lebte fünfzig Kilometer von uns entfernt in einem kleinen Dorf, das sie auf keinen Fall verlassen wollte. Wenn ich nicht da war, fuhr Martha oft zu ihrer Mutter, um ihr Vorräte zu bringen und ihr Gesellschaft zu leisten. Martha war ein wenig scheu. Meines Wissens hatte sie keine Freunde. Ihre Welt, die aus Kunst, Musik, Literatur und meiner Person bestand, schien ihr zu genügen. Sie sah zu, wie ich meinen braunen Tweed-Zweireiher zuknöpfte, betrachtete mein Hemd aus bronzefarbener Seide, die Kaschmirkrawatte mit dem diskreten Muster und erlaubte sich ein kleines Lächeln:
»Betreibst du diesen Aufwand für deine Sekretärin?«
»Ich habe einen wichtigen Termin.«
»Das sieht man …«
Zweifelnd und spöttisch verzog sie das Gesicht. Ich widerstand der Versuchung, sie in die Arme zu schließen – dann hätte ich mich definitiv verspätet –, warf ihr statt dessen mit den Fingerspitzen einen Kuß zu und trat in die kalte Morgenluft hinaus.
Ich betätigte den elektrischen Türöffner der Garage und stieg eilig in den nachtblauen Lancia. Es war kalt, und ich drehte die Heizung ganz auf. Die Windschutzscheibe beschlug sofort, und die Straßengräben waren mit weißem Rauhreif überzogen.
Wir wohnten außerhalb von Genf in einem sehr vornehmen Viertel, das mitten in einem riesigen Wald lag. Die Villen waren so weit voneinander entfernt, daß sie die Illusion von Abgeschiedenheit vermittelten. Jede verfügte über ein eigenes Schwimmbad, das im Augenblick mit einer Plane abgedeckt war. Martha schwamm sehr gerne. Ansonsten verabscheute sie jegliche Art von Sport und begleitete mich nie bei einer Wanderung oder einer Kajaktour.
Die Heizung verbreitete den üblichen, unangenehmen, leicht verbrannten Geruch, der rasch verfliegen würde. Eine Elster flatterte kreischend aus dem Gestrüpp auf. Um die Scheibe einen Spaltbreit zu öffnen, drückte ich auf einen Knopf und atmete tief die feuchte Morgenluft und den Duft des Unterholzes ein.
Schnell fuhr ich auf die Autobahn. Bald darauf zeigte ein Schild die Ausfahrt 22 an. Dort befand sich der Hauptsitz der Firma SELMCO, für die ich angeblich arbeitete. Ein großes Import-Export-Unternehmen, in dem ich die Stelle eines internationalen Beraters »innehatte«. Das brachte häufige Geschäftsreisen und sehr unregelmäßige Arbeitszeiten mit sich. Dieser Meinung zumindest war Martha, ebenso wie unsere wenigen Bekannten. Ich war im Besitz eines in Plastik geschweißten Ausweises mit meinem Foto und einer fast echten Identifikationsnummer. Und Martha war im Besitz einer Telefonnummer, unter der sie mich erreichen konnte, wenn es nötig war. Dort hatte sie ein Mädchen am Apparat, das dafür bezahlt wurde, jedesmal zu antworten, ich sei abwesend oder in einer Konferenz, und mögliche Nachrichten weiterzuleiten. Nie versäumte ich es, diese bei ihr abzufragen, ehe ich mich auf den Heimweg machte.
Diesmal fuhr ich in aller Ruhe an der Ausfahrt 22 vorbei und bog fünfhundert Meter später zum Flughafen ab. 7.29 Uhr. Ich war spät dran. Ich schaltete den Blinker ein und fuhr zum Parkplatz 2, wo die Parkdauer auf höchstens vierundzwanzig Stunden beschränkt war. Schnell ergriff ich meinen Aktenkoffer und lief zum Schalter. Die Angestellte, die gerade ihrer Nachbarin von ihren Erlebnissen am Vorabend berichtete, lächelte mir mechanisch zu, überprüfte mein Ticket und reichte mir zerstreut eine Bordkarte. Fünfzehn Minuten später überflog ich Genf in Richtung Brüssel.
Das Flugzeug landete um 9.04 Uhr. Nachdem ich die auf ein Minimum reduzierten Zollformalitäten hinter mich gebracht hatte, fuhr ich mit der U-Bahn zum Brüsseler Hauptbahnhof, den ich um genau 9.55 Uhr erreichte. Ich ging zu den Toiletten. Beim Eintreten warf ich einen schnellen Blick in den Raum. Max war schon da; ich sah seine Schuhe unter der dritten Tür. Wir hatten uns um 10 Uhr verabredet. Ich schloß mich in der Kabine neben der seinen ein und schob meinen Aktenkoffer unter der Trennwand durch. Max schob mir ein Köfferchen zurück. Als ich es öffnete, um mich umzuziehen, konnte ich ein Lächeln nicht unterdrücken. Meine neue Aufmachung würde mein Äußeres radikal verändern: ein schmutziges T-Shirt, ein zerrissener Blouson, eine helle Perücke, eine Wollmütze und eine Einkaufstasche aus Plastik mit verschiedenen Lebensmitteln, unter anderem einem Liter billigen Rotwein. Ich schmierte mir Hände und Gesicht mit schmutzigem Fett ein, klebte mir einen dicken Schnauzbart unter die Nase und setzte eine Brille mit dunklen Gläsern auf. Als ich fertig war, klappte ich den weißen Stock auseinander, klopfte damit wie im Theater dreimal auf den Boden und schob Max das Köfferchen zurück. Ich hörte, wie sich die Tür öffnete, seine Schritte hallten auf dem Fliesenboden wider, und ich wartete, bis sie sich entfernt hatten, ehe auch ich meine Tür öffnete. Meine Aufmachung stank nach billigem Fusel, und ein gutgekleideter Herr wich angewidert einen Schritt zurück.
Um 10.35 Uhr erreichte ich in dieser Verkleidung die Grande Place. Sofort entdeckte ich Phils hochgewachsene, schlaksige Gestalt, die in ihren Lumpen zu schwimmen schien. Er malträtierte sein Akkordeon, um ihm eine schwungvolle Walzermelodie zu entlocken, mit der er die Ohren der Schaulustigen quälte. Mit meinem Stock bewegte ich mich mit unsicherem Schritt tastend auf ihn zu. Er sprach mich mit der jovialen Stimme eines Berufstrinkers an, und wir wechselten ein paar Worte, dann ging Phil auf seinem Instrument klimpernd davon. Er konnte sich nicht länger als eine halbe Stunde auf dem Platz aufhalten, ohne von der Polizei verjagt zu werden. Er hatte mir den Hund dagelassen. Eine Promenadenmischung, zu deren Vorfahren ein deutscher Schäferhund gehört haben mußte, mit hängenden Ohren und einem Geschirr, wie es jeder gute Blindenhund hat. Ich ließ mich an einer schmutzigen Fassade nieder, stellte ein Tellerchen neben mir auf und beobachtete im Schutz meiner dunklen Gläser das Bankgebäude.
Das europäische Bankenkonsortium glänzte in all seiner Pracht, an den schwarz verspiegelten Fenstern und Türen prangten goldene Lettern. Seit vier Tagen wurde es von uns streng überwacht. Ich würde bis vier Uhr bleiben, dann würde Benny mich ablösen, der, als Diplomat verkleidet, in einem der unzähligen Cafés, die den Platz säumten, seinen Tee trinken würde.
Ich dachte kurz an Martha, die mich in das Studium eines Aktenberges vertieft glaubte. Doch ich hatte mein Geld noch nie anders verdienen können. Seit ich die Armee verlassen hatte, hatte ich mich eigentlich nur mit einer Sache beschäftigt: mich in der schwierigen und präzisen Kunst des Einbruchs zu vervollkommnen. Ich fühlte mich wie eine Art Uhrmacher, dessen Arbeit es nicht war, die Uhrwerke zu reparieren, sondern sie zu zerstören. Dabei hatte ich keine Schuldgefühle. Immerhin waren die Banken versichert, und ich war fast der Auffassung, daß meine Tätigkeit der der Versicherungsgesellschaften nicht unähnlich war. Außerdem führten wir ein luxuriöses, angenehmes Leben, und selbst wenn ich nicht wesentlich besser verdiente, als wenn ich tatsächlich für die SELMCO gearbeitet hätte, hatte ich doch mehr Spaß.
Es war ein kalter Tag: Ein eisiger, schneidender Wind trieb dicke Wolken über den blauen Himmel. Aber zumindest regnete es nicht. Wenn alles gutging, würde ich morgen um 13.10 Uhr 250000 belgische Francs kassieren. Mein Anteil. Sorgfältig entfernte ich die Cellophanverpackung, die mein Cervelat-Sandwich umhüllte, und biß kräftig hinein. Inzwischen war ein Bulle aufgetaucht, doch er warf mir nur einen zerstreuten Blick zu....