Babendererde | Die verborgene Seite des Mondes | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

Babendererde Die verborgene Seite des Mondes


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-401-80027-1
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

ISBN: 978-3-401-80027-1
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Julia ist 15 Jahre alt, als ihr Vater stirbt. Sie kann nicht glauben, dass der wichtigste Mensch in ihrem Leben plötzlich nicht mehr da sein soll. Auf seinen Spuren reist sie zurück in eine ihr fremde Vergangenheit. Tief in der Wüste von Nevada trifft sie auf sein früheres Leben - und auf den stillen Simon, dessen Art sie von Anfang an berührt. Noch wissen die beiden nicht, welches Unheil ihre Liebe bringen wird.
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1.

Tränen kamen schon seit einer Weile nicht mehr. Mit trockener Kehle schluchzte Julia in das Kissen auf ihrem Bett. Ihr ganzer Körper tat weh vor Kummer und dem heftigen Wunsch die Zeit zurückzudrehen, nur für ein paar Stunden. Aber sie wusste, dass das unmöglich war.

Manche Dinge sind unwiderruflich. Unfassbar und doch für immer.

Ihr Vater war tot. Ein betrunkener Autofahrer hatte ihn am helllichten Tag auf einer Landstraße überfahren. Seine Verletzungen waren so schwer gewesen, dass sein Herz auf dem Weg ins Krankenhaus aufgehört hatte zu schlagen. Julia und ihre Mutter Hanna waren eben erst von dort zurückgekommen. John hatte ganz friedlich ausgesehen, so, als würde er schlafen. Aber das tat er natürlich nicht. Julia war fünfzehn und kannte den Unterschied zwischen schlafen und tot sein. Der Tod war unwiderruflich.

Nur allmählich drang die Tatsache, dass ihr Vater gestorben war, zu ihr durch. Julia wünschte, auch ihr Herz würde aufhören zu schlagen, damit sie nicht mehr denken musste, nicht mehr fühlen. Alles war ihr zu viel, sogar das Atmen. Doch der Muskel in ihrer Brust schlug kraftvoll weiter, ihrem Wunsch zum Trotz.

Die Vorhänge in ihrem Zimmer waren zugezogen. Der Mai ging zu Ende und draußen schien warm die Sonne. Julia hörte das fröhliche Geschrei der Kinder auf dem Spielplatz hinter dem Haus. Voller Verzweiflung hielt sie sich die Ohren zu. Sie wollte nichts hören, nichts mehr sehen. Schon gar nicht das Licht der Sonne.

Ihr Vater hatte heiße Sommer geliebt, denn er war in der Halbwüste Nevadas aufgewachsen. Und weil nach vielen dunklen Regentagen zum ersten Mal wieder die Sonne schien, war er am Morgen aus der Stadt geflüchtet, um in den kastanienbewachsenen Hügeln wandern zu gehen.

Dort war er nie angekommen.

Irgendwann fehlte Julia die Kraft, sich die Ohren zuzuhalten. Gedämpfte Stimmen drangen aus dem Flur in ihr abgedunkeltes Zimmer. Irgendwer sprach mit ihrer Mutter. Die Tür ging auf, aber Julia wollte nicht wissen, wer hereingekommen war. Sie wollte in Ruhe gelassen werden, sich in den Kokon ihrer Trauer einspinnen.

Jemand setzte sich auf ihr Bett. Eine Hand strich tröstend über ihre Schultern, ihren Kopf. Julia spürte, wie ihr Körper sich verkrampfte. Sie wollte nicht berührt werden. Sie rutschte zur Seite und setzte sich auf, das Kissen wie ein Schutzschild vor ihrem Körper. Ihre Großmutter war gekommen, Hannas Mutter.

»Julia«, sagte sie, »es tut mir so leid.«

Julia mochte ihre Großmutter, aber die hatte ihren Vater nicht gemocht.

»Warum musste es ausgerechnet ein Indianer sein, Hanna?«, hatte sie bei jeder Gelegenheit zu ihrer Tochter gesagt. Zum Beispiel, wenn John mal wieder nicht pünktlich nach Hause gekommen war, obwohl Hanna und er zusammen ausgehen wollten. Warum musste es ausgerechnet ein Indianer sein?

Julias Vater John Temoke war vom Volk der Western Shoshone, die in Zentralnevada beheimatet sind. Julia wusste, dass ihr Vater sein Land und sein altes Leben vermisst hatte. John hatte nie geklagt, aber man konnte seine Sehnsucht in den Bildern erkennen, die er gemalt hatte. Und manchmal war diese Sehnsucht auch in seinem Blick gewesen. Ein Blick der oft weit fort schweifte, an einen Ort fern wie der Mond.

Julia hatte gedacht, dass sie keine Tränen mehr hätte, doch ohne Vorwarnung schossen sie in ihre Augen und machten sie blind. Ihr Körper wurde von neuen, rauen Schluchzern geschüttelt. Sie würde ihren Vater nie wieder lachen hören, ihn nie wieder um Rat fragen können, nie wieder mit ihm durch den Wald streifen, nie wieder in seinen Armen Trost finden.

Nie wieder würde jemand sie Vogelmädchen nennen.

Dieses Nie wieder beherrschte Julia vollkommen. Bis dahin hatte sie nicht gewusst, was Verlust eigentlich bedeuten konnte.

Nach einer Weile stand die Großmutter kopfschüttelnd auf und verließ das Zimmer, ohne die Tür zu schließen. Julia lauschte einen Moment auf die Stimmen ihrer Mutter und ihrer Großmutter in der Küche. Dann verließ sie ihr Bett, schlich aus dem Zimmer und ging über den Flur zu der schmalen Treppe, die zur Dachkammer hinaufführte.

Terpentingeruch hüllte sie ein, als sie das kleine Atelier ihres Vaters betrat. Das helle Sonnenlicht, das durch die schrägen Dachfenster fiel, tat ihr in den Augen weh. Sie schloss die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel herum. Niemand sollte sie stören. Julia wollte allein sein mit den Bildern ihres Vaters. Denn hier war er noch da, war ganz wirklich und die zurückliegenden Stunden waren nur ein böser Traum.

An den weißen Wänden der Dachkammer hingen und standen die Gemälde ihres Vaters. Er hatte nie Menschen oder Gesichter gemalt, nur Landschaften, die Landschaften seiner Sehnsucht. Olivgrüne kahle Hügel, Pappeln, dunkelgrün im Sommer und golden im Herbst. Und immer wieder das weiße Ranchhaus mit der blauen Tür und den blauen Fensterrahmen. Er hatte es aus verschiedenen Perspektiven gemalt und in vielen Variationen.

In Julias Vorstellung hatten dieses Haus und seine Umgebung etwas Geheimnisvolles. Es war die Ranch ihrer indianischen Großeltern. Doch weder die Ranch noch ihre indianischen Verwandten hatte Julia jemals kennengelernt.

Ach Pa, dachte sie, warum hast du mich nie mitgenommen?

Diese Frage hatte sie ihrem Vater zuletzt vor drei Jahren gestellt und wie immer eine ausweichende Antwort bekommen. Dass seine Mutter Ada stur sei und weder Hanna noch ihre Enkeltochter sehen wolle. »Es ist meine Schuld, Julia. Eigentlich ist sie auf mich böse.«

Julia war gekränkt gewesen und hatte aus Trotz nicht weiter nachgefragt. Der Vater hatte aufgehört, ihr von der Ranch und seinen Bergen zu erzählen, und Julia hatte versucht, nicht mehr daran zu denken.

Inzwischen hatte sie sich alle Bilder angesehen, nur eines war noch übrig. Zögernd ging sie zur Staffelei, die mit einem Tuch verhängt war. Ihr Vater hatte schon einige Zeit an diesem Bild gearbeitet und ein Geheimnis darum gemacht. Vielleicht hatte es ein Geschenk für sie werden sollen. Mit zitternden Händen zog Julia das Tuch von der Staffelei.

Ein unfertiges Porträt kam darunter zum Vorschein. Schräge Augen mit einem neugierigen Blick. Geschwungene Lippen, die noch keine Farbe bekommen hatten. Das spitze Kinn. Ein dicker Zopf, nur angedeutet. Ihr Vater hatte sie gemalt. Er, der sich mit dem Pinsel nie an Gesichter gewagt hatte.

Julia setzte sich auf den Boden, lehnte den Kopf zurück an die Wand und betrachtete das Bild. Das Wesentliche hatte ihr Vater eingefangen, aber sie fragte sich, ob sie das wirklich war. Hatte er sie so gesehen? Wer war sie überhaupt? Sie fühlte sich genauso unfertig, wie dieses Porträt es war. Ihr Vater hatte sie unfertig zurückgelassen. Was sollte sie jetzt nur tun?

Ihr Blick trübte sich, die Farben des Bildes verschwammen und sie holte tief Luft. Es klopfte an der Tür.

»Julia, bist du da drin?«

Sie antwortete nicht. Ganz langsam glitt sie zur Seite und legte sich auf den Boden. Ich bin nirgendwo, dachte Julia.

Etwas hatte sich ereignet, das spürte Simon sofort. Ada redete kaum während des gemeinsamen Frühstücks. Stumm fütterte sie den Jungen. Auch Boyd sagte kein Wort. Beide schienen über Nacht um Jahre gealtert zu sein.

Tommy schrie. Er biss sich in die Unterarme, bis es blutete, und seine Granny schimpfte deswegen mit ihm. Das tat Ada nur selten. Irgendetwas musste passiert sein. Als Simon am vergangenen Abend das Ranchhaus verlassen hatte, um in seinen Wohnwagen zu gehen, war alles wie immer gewesen. Aber er wusste nur zu gut, dass Dinge sich auch über Nacht ändern konnten.

Simon spürte die Trauer der beiden alten Menschen, die sich wie eine dunkle, schwere Decke über die Ranch gelegt hatte. Dass er keine Ahnung hatte, was los war, verunsicherte ihn. Wie schnell konnte man etwas falsch machen; wie schnell jemanden verletzen, wenn er schon verwundet war. Das hatte er oft genug am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Doch er wagte es nicht, einen der beiden Alten nach dem Grund zu fragen. Er hatte Angst, dass etwas geschehen war, das sein Leben verändern könnte.

Ada kümmerte sich um den Abwasch, wie jeden Vormittag. Simon schraubte den Sauger auf die Flasche für das Kälbchen und begab sich auf den Weg zur Koppel. Pepper, sein junger Mischlingshund, folgte ihm. Simon ließ Pipsqueak trinken und schmuste eine Weile mit dem winzigen Kälbchen. Dann schleppte er vier der schweren Heuballen vom Stapel zum Zaun, kappte die Verschnürung mit einem Messer und verteilte das Heu mit der Heugabel an die Kühe....


Antje Babendererde, geboren 1963, wuchs in Thüringen auf und arbeitete nach dem Abi als Hortnerin, Arbeitstherapeutin und Töpferin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Viele Jahre lang galt ihr besonderes Interesse der Kultur, Geschichte und heutigen Situation der Indianer. Ihre einfühlsamen Romane zu diesem Thema für Erwachsene wie für Jugendliche fußen auf intensiven Recherchen während ihrer USA-Reisen und werden von der Kritik hoch gelobt. Mit ihren Romanen „Isegrim“ und „Der Kuss des Raben“ kehrt die Autorin zu ihren Thüringer Wurzeln zurück. www.antje-babendererde.deFoto © privat



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