E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Babendererde Schneetänzer
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-401-80839-0
Verlag: Arena Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Atmosphärischer Abenteuerroman mit starker Liebesgeschichte
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-401-80839-0
Verlag: Arena Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Antje Babendererde, geboren 1963, wuchs in Thüringen auf und arbeitete nach dem Abi als Hortnerin, Arbeitstherapeutin und Töpferin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Seit vielen Jahren gilt ihr besonderes Interesse der Kultur, Geschichte und heutigen Situation der Indigenen in Nordamerika, ihre einfühlsamen Romane zu diesem Thema für Erwachsene wie für Jugendliche werden von der Kritik hoch gelobt. In weiteren Romanen entführt Antje Babendererde ihre Leser*innen in ihre thüringische Heimat sowie in die schottischen Highlands, an die sie auf ihren Reisen ihr Herz verloren hat. www.antje-babendererde.de
Autoren/Hrsg.
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1
EISBÄRENEXPRESS
Mit einem wilden Atemzug fuhr ich aus meinem Albtraum vom zotteligen Ungeheuer im Schnee. Mein Blick jagte im Zickzack durch den Raum. Vier weiße Wände statt Winterwald. Kein Ungeheuer. Aber warum war mir dann so furchtbar kalt?
Mein Handywecker klingelte. Fluchend kämpfte ich mit dem Bettzeug, die Arme und Beine verstrickt in das schweißnasse Laken. Die dicke Wolldecke war zu Boden gerutscht, deshalb fror ich auch so in meinem T-Shirt und den Boxershorts.
An der Wand gegenüber dem Bett hing eine fotografierte Winterlandschaft: schwarze Baumspitzen, die aus einer endlosen, unberührten Schneefläche ragten. Nun wusste ich auch wieder, wo ich war: in einem Hotelzimmer in Cochrane, Ontario, auf dem Weg in meine Vergangenheit.
Es war kurz vor acht und in einer Stunde ging mein Zug in den hohen Norden. Mein Ziel war Moosonee, ein abgelegenes Nest, zu dem es keine Straßenverbindung gab. Ich schwang die Beine aus dem Bett und tappte ans Fenster. Der Himmel war von dicken Wolken verhangen und überall türmten sich schmutzige Schneeberge an den Straßenrändern. Direkt gegenüber vom Hotel lag der kleine, eingleisige Bahnhof von Cochrane. Ein Bus aus Timmins lud gerade neue Fahrgäste mit Unmengen Gepäck auf dem Bahnhofsvorplatz ab und auf einmal konnte ich nicht schnell genug dort unten bei den anderen Reisenden sein. Ich duschte, packte zusammen und checkte aus.
Das digitale Thermometer am Bahnhofsgebäude zeigte 15 °C, was so weit nördlich vermutlich okay war für Mitte April. Im Bahnhofsrestaurant bestellte ich mir einen Milchkaffee und zwei Croissants mit Butter und Marmelade.
Auf dem lang gezogenen Bahnsteig ging es kurz vor Abfahrt des Polar Bear Express ins rund dreihundert Kilometer entfernte Moosonee geschäftig zu. Menschen, die aussahen wie ich, schleppten riesige Koffer und mit Klebestreifen umwickelte Kartons zum Gepäckwaggon, wo alles verladen wurde: von rosafarbenen Kinderfahrrädern über Küchengeräte, riesige Packungen Pampers, Computer und Stereoanlagen bis hin zu sperrigen Staubsaugern und Tetrapacks voller Milch. Irritiert starrte ich auf den Flyer von Moosonee in meiner Hand. Gab es dort etwa keinen Supermarkt?
Ich war tief verletzt und wütend gewesen und hatte meiner Mutter keine Gelegenheit gegeben, mir mehr über den abgeschiedenen Ort an der James Bay zu erzählen, bevor ich Hals über Kopf von zu Hause abgehauen war, nur vier Wochen vor den Abiprüfungen. Als ich Mum dann vom Frankfurter Flughafen aus anrief, fragte sie mich, ob ich lange Unterhosen eingepackt hätte. Und sie warnte mich, dass es schwer werden könnte, mich unter einem Volk von Jägern fleischlos zu ernähren.
Dann sagte sie noch: »Er wird dich enttäuschen, Jacob.«
Ich bestieg einen der beiden dunkelblauen Passagierwaggons mit dem gelb-roten Logo, das eine fliegende Kanadagans darstellte, und suchte wie alle anderen meinen Platz. Eine indianische Großfamilie beschlagnahmte gleich mehrere Sitzbänke, die Kinder warfen sich in die blauen Sitze.
Das Ticket nach Moosonee und wieder zurück nach Cochrane hatte mich hundertzwanzig kanadische Dollar gekostet. Inzwischen war ich mit meinen Reisekosten bei knapp tausend Euro angelangt und mein Budget schrumpfte rapide. Tante Sonja hatte noch einen Hunderter auf mein Konto überwiesen, somit blieben mir knapp zweihundert Euro für die nächsten beiden Wochen. Ich ging fest davon aus, dass mein Erzeuger mich beherbergen und ernähren würde, nachdem er vierzehn Jahre lang keinen Cent für mich ausgegeben hatte.
Erneut stieg Wut in mir hoch. Auf meine Mutter, die mich jahrelang belogen hatte, aber auch auf meinen verantwortungslosen Vater, der vor vierzehn Jahren unsere Familie zerstört hatte. Beide waren schuld daran, dass ich mein bisheriges Leben unter falschen Vorzeichen gelebt hatte. Dass nun ein gewaltiges Drunter und Drüber in meinem Inneren herrschte.
Es gab reservierte Plätze. Zu meinem Ticket gehörte der Fensterplatz einer Viererbank. Nachdem ich meine Sporttasche und meine Jacke in der Gepäckablage verstaut hatte, machte ich es mir bequem. Blaues Kunstleder, weiche Polster und eine breite Fußablage wie bei diesen Omasesseln. Gar nicht übel für die fünf Stunden Fahrt ans Ende der Welt, die mich erwarteten. Mein Blick fiel wieder auf den Flyer von Moosonee, der am Bahnhof ausgelegen hatte. »Come visit us and touch the edge of the Arctic.«
Obwohl es gemütlich warm war im Zug, rann mir ein Schauer über den Rücken. Eine Vorahnung?
Der Waggon füllte sich schnell, doch die anderen Fahrgäste beachteten mich gar nicht. Familien mit kleinen Kindern, die auf wackligen Beinen durch den Gang liefen. Männer in karierten Wolljacken, Frauen und Mädchen, die lachend schwatzten. Neugier schluckte meinen Groll, denn es war ein seltsames Gefühl, unter Menschen zu sein, die aussahen wie ich: kohlschwarze Haare, dunkle Haut, leicht schräge dunkle Augen. Kanadische Ureinwohner, deren Vorfahren dieses Land noch allein gehört hatte.
Einige dieser Leute waren von meinem Stamm. Die Wahrheit über meine Herkunft wusste ich erst seit ein paar Tagen und ich hatte mich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, einen Cree-Indianer zum Vater zu haben.
Mum hatte mir jahrelang weisgemacht, ich wäre die Folge eines One-Night-Stands. Meinen Erzeuger, irgendein Student aus Südostasien namens Greg (wenigstens was seinen Vornamen anging, hatte sie mich nicht belogen), hätte sie mit achtzehn auf ihrer großen Reise durch Kanada in einem Hostel kennengelernt. Und am nächsten Morgen, als sie aus ihrem Marihuana-Rausch erwacht war, hätte er bereits das Weite gesucht. Damit hatten sich alle weiteren Fragen erübrigt.
Wie oft hatte ich in den vergangenen Jahren vor dem Spiegel gestanden und nicht gewusst, wer mich daraus anblickte. Ein Teenager mit dunkler Haut, halb deutsch, halb …Ja, was?
Ich hatte meine ausgeprägten Wangenknochen, die braungrünen, wie liegende Halbmonde geformten Augen und mein rabenschwarzes Haar betrachtet und mich gefragt, wer ich war – wo auf der Erdkugel diese andere Hälfte beheimatet war.
Ein paar Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag hatte mein Freund Ben mir geraten, meine DNA bei einem genetischen Testdienst einzuschicken, um vielleicht per DNA-Matches eine Übereinstimmung zu erzielen. Beinahe hatte er mich so weit gehabt, das Geld zu investieren, als sich die Frage schlagartig von selbst erledigte und ich endlich eine Erklärung dafür geliefert bekam, wieso ich manchmal in Englisch träumte.
Weil es meine Vatersprache war.
Meine Welt stand kopf, ich war wütend und durcheinander, aber auch von einer prickelnden Aufregung erfasst. Mein Vater war kein Phantom mehr. Er hatte einen Namen: Greg Cheechoo. Und es gab einen Ort, an dem ich schon gelebt hatte: Moosonee.
Eine Indianerin unbestimmbaren Alters setzte sich mir gegenüber auf den Platz am Gang. Sie grüßte mich mit einem freundlichen Lächeln und widmete sich ihrem Smartphone. Punkt neun Uhr stieß die Diesellok einen langen, durchdringenden Pfiff aus. Der Eisbärenexpress setzte sich in Bewegung.
In meinem Inneren brodelte es. Ich konnte es kaum erwarten, endlich meinem Erzeuger gegenüberzutreten. Immer wieder stellte ich mir Greg Cheechoos verblüfftes Gesicht vor, wenn ich plötzlich vor ihm stand – nach all den Jahren. Dabei wusste ich nicht mal, wie er aussah. Hatte er dieselben Augen, Haare, Wangenknochen? Als ich Mum nach einem Foto gefragt hatte, war sie wieder in Tränen ausgebrochen und hatte gemeint, sie hätte damals alle Fotos vernichtet. Was ich ihr nicht glaubte.
Wie dem auch sei, mein Cree-Vater hatte keine Ahnung, dass ich auf dem Weg zu ihm war. Aber ich hatte in Erfahrung gebracht, dass er immer noch in Moosonee lebte. Und die Chancen, ihn dort zu finden, standen in Anbetracht der Überschaubarkeit des Ortes ziemlich gut.
Ich nahm mein Smartphone, rief Wikipedia auf und las zum wiederholten Mal, was das Online-Lexikon über das Nest ausspuckte: Moosonee ist eine Siedlung mit etwas mehr als 1700 Einwohnern im Norden Ontarios, Kanada. Der Ort wurde im Jahre 1903 als Stützpunkt der französischen Pelzhandelsfirma Revillon Frères in Konkurrenz zur Hudson’s Bay Company gegründet. Der Ort beherbergt zwei Schulen und einen Ableger des Northern College, den Northern Store, ein Postamt und einige kleine Läden. Die einheimischen Cree machen 80 Prozent der Bevölkerung aus. Die Siedlung Moosonee liegt am Moose River, einem etwa 80 Kilometer langen Fluss, der unweit des Ortes in die James Bay mündet. Auf einer der vielen Inseln im Mündungsdelta liegt Moose Factory, das Reservat der Moose-Cree-Indianer, ursprünglich ein alter Stützpunkt der Hudson’s Bay Company.
Jedenfalls kam man nur mit dem Eisbärenexpress oder einem kleinen Flieger in das Nest, in dem ich die ersten vier Jahre meines Lebens verbracht hatte. Letzteres wollte mir immer noch nicht in den Kopf, denn ich hatte nicht den kleinsten Funken einer Erinnerung daran.
Nachdem ich vor fünf Tagen mit blutverkrusteter Lippe und völlig durch den Wind bei Tante Sonja in Hanau aufgekreuzt war, war sie nach einigem Zögern schließlich mit der Adresse und Telefonnummer meines Cree-Vaters herausgerückt. Außerdem hatte sie mir eine kleine Schachtel mit einem Amulett gegeben, das jetzt unter Stoffschichten auf meiner Brust lag. Es war ein flacher, aus Horn geschnitzter Wolf an einem Lederband, den ich offenbar am Hals getragen hatte, als Mum mit mir für immer nach Deutschland zurückgekehrt war.
Sonja Peters war eine Art Patentante für mich. Sie und meine Mutter waren zusammen in Eisenach aufgewachsen und kannten sich seit der ersten...




