E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Babendererde Wundes Land
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8187-8569-7
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-8187-8569-7
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Antje Babendererde, Jahrgang 1963, wuchs in Thüringen auf und begann schon früh Geschichten zu schreiben. Bevor sie sich hauptberuflich dem Schreiben widmete, arbeitete sie als Hortnerin, Arbeitstherapeutin und freiberufliche Töpferin. In ihren einfühlsamen Jugendromanen erzählt sie unter anderem von der heutigen Situation der Indigenen Nordamerikas, die sie auf vielen Reisen besucht hat.
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1.
Einer nach dem anderen verließen die Passagiere die Eingangshalle des kleinen Flughafens von Rapid City. Die Propellermaschine aus Denver war der letzte Flieger, der an diesem Abend hier gelandet war. Das Gepäckband war bereits leer und in wenigen Minuten würde ich der letzte verbliebene Fluggast sein. Ein Vertreter des Wápika-Dorfprojektes sollte mich abholen. Doch ich wusste weder, wie derjenige hieß, noch, wie er aussah. Ebenso wenig wusste ich, was mich in diesem Land erwartete: South Dakota, Prärieland, Indianerland.
Schon jetzt kam ich mir verlassen vor. Unschlüssig stand ich da, war müde und neugierig zugleich, und fürchtete, man könnte mich vergessen haben. Meine erste Nacht im Wilden Westen auf einem Flughafen zu verbringen, war keine sehr verlockende Aussicht.
Hinter getöntem Glas senkte sich Dunkelheit über grasbewachsene Hügel bis zum Horizont und auf einmal hatte ich ein flaues Gefühl in der Magengegend. War meine Entscheidung, diesen Job anzunehmen, richtig gewesen? Oder hätte das jemand übernehmen sollen, der mehr Erfahrung hatte als ich?
Als Vertreterin des Potsdamer Vereins „Wundes Land“ war ich beauftragt, die Arbeiten am Wápika-Dorfprojekt im Pine Ridge Indianerreservat für die nächsten drei Monate zu betreuen und einen Rechenschaftsbericht über das bisher Erreichte abzufassen. Mit dem Bau von Häusern aus einheimischen Rohstoffen, wollte der Verein die desolate Wohnungssituation der Lakota im Reservat verbessern.
Inga Morgenroth, die Vorsitzende des Vereins, hatte das Projekt vor einem Jahr ins Leben gerufen und die ersten Arbeiten im zukünftigen Dorf persönlich geleitet. Nach einer Winterpause hatten ihre Mitstreiter die Arbeiten wieder aufgenommen. Sie selbst wollte im September für ein paar Tage nach South Dakota fliegen, um die Entwicklung des Dorf-Projektes persönlich in Augenschein zu nehmen. Jetzt war Anfang Juni, und ich würde einige Wochen Zeit haben, um mich mit allem vertraut zu machen. Nach den umfangreichen Vorbereitungen der letzten Wochen hatte ich voller Neugierde und Freude meine Koffer gepackt, war bereit, mich mit Enthusiasmus in meine Aufgabe zu stürzen.
Wie von Geisterhand geschoben, rollte mein Gepäckwagen vor eine der gläsernen Vitrinen, in denen kunsthandwerkliche Arbeiten der Lakota Sioux ausgestellt waren: mit winzigen Glasperlen bestickte Mokassins, Ohrgehänge aus eingefärbten Stachelschweinborsten und auf Lederschnüre gereihte Hornperlen. Ein besonders schöner Traumfänger, der in der Mitte des Glaskastens arrangiert war, zog mich in den Bann. Das Netz aus künstlicher Sehne war verziert mit Perlen, Federn und herabhängenden Lederschnüren. So ganz anders als die Traumfänger ,Made in Taiwan‘, die ich aus dem Esoterik-Laden in Potsdam um die Ecke kannte.
Ich bewunderte die Knüpfarbeit, als ich durch das grobmaschige Netz des Traumfängers hindurch zwei Männer entdeckte, die zuvor noch nicht dagewesen waren. Ein kurzer Blick in die andere Richtung: Kein Zweifel, sie mussten es sein, die mich abholen sollten.
Die beiden Indianer in Jeans und geprägten Lederstiefeln standen reglos unter den Blättern einer riesigen Yuccapalme. Der Ältere von beiden, er mochte so um die fünfzig sein, trug das Haar in zwei geflochtenen Zöpfen, die über seine breite Brust hingen. Der Jüngere war ungefähr in meinem Alter, Anfang oder Mitte dreißig vielleicht. Beide Männer waren auffällig groß, ich schätzte weit über eins neunzig, aber der Jüngere war bedeutend sportlicher. Sein langes Haar fiel ihm offen über die Schultern.
Himmel, dachte ich. Die beiden sind echt.
Im selben Augenblick entdeckte mich der ältere Mann hinter der Vitrine und stieß dem anderen seinen Ellenbogen in die Rippen. Der nickte und sah mich an, taxierte mich mit einem durchdringenden Blick.
Hatte meine Frisur was abgekriegt? Mein Blick irrte durch die Halle auf der Suche nach einer Toilette. Zu spät. Zielstrebig kamen die beiden Männer auf mich zu und ich versuchte mit einem Lächeln mein zerknittertes Aussehen wettzumachen. Doch ihre dunklen Gesichter zeigten keine erkennbare Regung, auch nicht, als sie bei mir angekommen waren, um mich zu begrüßen.
„Miss Kirsch?“, fragte der ältere Lakota. Er hatte ein narbiges Gesicht und seine straffen Zöpfe waren von grauen Strähnen durchzogen. Er sagte „Köösch“ statt „Kirsch.“
Ich nickte und streckte ihm meine Hand entgegen.
Er ignorierte sie und sagte: „Willkommen in South Dakota, Miss. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug?“
„Alles bestens, danke“, sagte ich und ließ meine Hand wieder sinken.
„Ich bin Vine Blue Bird, zweites Mitglied des Stammesrates und Beauftragter für Umweltfragen“, stellte er sich vor. Mit einem Kopfnicken wies Vine auf seinen Begleiter. „Mein Sohn Tom. Er ist der Leiter des Wápika-Projektes und wird sich um Sie kümmern, bis Sie sich im Reservat allein zurechtfinden.“
Tom Blauer Vogel nickte mir nur kurz zu und holte meinen Koffer und die Reisetasche vom Gepäckwagen. Als Vine nach dem schwarzen Lederkoffer mit den Schnappschlössern griff, nahm ich ihn schnell an mich. „Danke, aber das ist nicht nötig. Er ist nicht schwer.“
In diesem speziellen Koffer befanden sich gläserne Röhrchen in bruchsicherer Halterung. Von Inga hatte ich den Auftrag bekommen, sie mit Boden- und Wasserproben aus dem Reservat zu füllen und später an ein Berliner Umweltinstitut zu übergeben. Niemand hier wusste etwas davon. Es war ein Geheimauftrag von Inga und ich fühlte mich gebauchpinselt, weil sie mir die Sache zutraute. Warum alle anderen Vereinsmitglieder und Projektmitarbeiter von diesem Nebenjob Abstand genommen hatten, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.
Inga hatte mir dazu Folgendes anvertraut: Bei Untersuchungen, die im vergangenen Sommer im Rahmen des Dorfprojektes durchgeführt worden waren, hatten zwei deutsche Ärztinnen herausgefunden, dass im Pine Ridge Reservat vermehrt Strahlenschäden auftraten. Die Messwerte einer amerikanischen Umweltorganisation, die von den beiden Ärztinnen ausgewertet worden waren, befanden sich jedoch im normalen Bereich. Deshalb sollte ich unabhängige Messungen einholen, und zwar undercover, denn es bestand der Verdacht, dass die Werte der Umweltorganisation ausgetauscht oder gefälscht worden waren.
„Kommen Sie, Miss Kirsch“, brummte Vine. „Sie sind sicher müde und erschöpft vom Flug und wir haben noch über eine Stunde Fahrt vor uns. Heute Nacht werden Sie Gast in unserem Haus sein. Morgen bringt Tom Sie dann in Ihr Motel nach Martin.“
Ich folgte den beiden nach draußen auf den Parkplatz. Alles schien gut zu laufen und meine Mutter hatte sich umsonst Sorgen gemacht. Sie war davon überzeugt, dass die amerikanischen Ureinwohner sich immer noch wild und schießwütig gebärdeten, während ich felsenfest daran glaubte, dass sie stets die Guten waren.
Als ich meiner Mutter das erste Mal von meinem bevorstehenden Aufenthalt bei den Lakota erzählte, hatte ich ihr nur mit Mühe klarmachen können, dass mein Auftrag keine besonderen Gefahren barg, und ich das Ganze eher als bezahlten Urlaub betrachtete. Es war schließlich Sommer.
Während der Fahrt ins Pine Ridge Indianerreservat saß ich allein auf dem Rücksitz von Vine Blue Birds Ford, der kaum ein paar Tage alt zu sein schien. Alles roch noch ganz neu und war blitzsauber, nur am Sitz vor mir entdeckte ich Spuren von Kinderschuhen.
Ich hatte mir den straffen Gurt über die Brust gezogen, denn ein großes Schild am Straßenrand wies darauf hin, dass Anschnallen im Bundesstaat South Dakota Vorschrift war. Zudem verlieh mir der Gurt ein Stück Sicherheit in diesem kargen Land, von dem ich nicht wusste, ob es Fremden gegenüber freundlich oder feindlich gesinnt war.
Die beiden Männer redeten nicht. Nach den ersten Willkommensfloskeln, die Vine für mich übriggehabt hatte, schwieg er jetzt ebenso beharrlich wie sein Sohn. Ehrlich gesagt, ich hatte ziemlichen Respekt vor den beiden. Vine Blue Bird, mit seinem narbenzerfurchten Gesicht und seinen traditionellen Zöpfen beeindruckte mich enorm. Tom hatte offene, feinere Gesichtszüge und dunkel glitzernde Augen, aber auch er schien auffallend darum bemüht, finster zu wirken.
Ich sah aus dem Fenster. Die Straße vom Flughafen ins Reservat führte zunächst nach Osten. Die letzten Farmhäuser hatten wir bald hinter uns gelassen und wie es schien, auch die letzten Bäume. Der zunehmende Mond ließ die hügelige Landschaft in einem geheimnisvollen Licht erscheinen.
Später machte die Straße einen Bogen in Richtung Süden, und eine Weile, nachdem wir einen geisterhaften Ort namens Scenic passiert hatten, tauchten links und rechts spitze Felsformationen auf. Scharfgratig und vielzackig, bleiche Architekturen aus Lehm. Im Schatten der Täler lag Dunkelheit. Obwohl es auch jetzt noch sehr warm war, zog ich fröstelnd die Schultern nach oben. Da draußen lauern Gespenster auf der Suche nach Leichtsinnigen und Gutgläubigen, dachte ich, und war froh, im sicheren Wagen zu sitzen.
Nach einer Weile drehte Vine Blue Bird den Kopf leicht nach hinten, aber nicht weit genug, um mich tatsächlich sehen zu können. „Morgen werde ich Sie in Pine Ridge mit ein paar wichtigen Leuten vom Stammesrat bekannt machen. Später zeigt Tom Ihnen das Wápika-Dorf, damit Sie sehen, wie weit wir bisher gekommen sind. Natürlich bekommen Sie auch ein Auto. Ohne Auto ist man im Res aufgeschmissen.“
„Das ist sehr freundlich“, bedankte ich mich höflich.
Nach dem, was ich von Inga über die Lakota gehört hatte, war ich darauf...




