E-Book, Deutsch, 398 Seiten
Baberowski Die letzte Fahrt des Zaren
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-406-83049-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als das alte Russland unterging
E-Book, Deutsch, 398 Seiten
ISBN: 978-3-406-83049-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ende Februar 1917: In den Palästen Petrograds wird getanzt und in den Opern gesungen, während sich auf den Straßen die Proteste ausweiten und die staatliche Ordnung in Bedrängnis gerät. Doch weil der Innenminister glaubt, alles im Griff zu haben, verlässt der Zar mit seinem glamourösen Hofzug die Hauptstadt. Er sollte sie nie wieder betreten, denn jetzt beschleunigen sich die Ereignisse. In einem alles mitreißenden Strudel geht das Zarenreich unter und mit ihm alle Alternativen, die Rußland in eine andere Zukunft geführt hätten.
Manchmal verdichtet sich die Weltgeschichte in wenigen Tagen und einzelnen Personen. So war es im Februar 1917, als Zar Nikolaus II. in den Zug stieg und in Petrograd die Revolution ausbrach. Jörg Baberowski ist ein großartiger Erzähler, der diesen welthistorischen Moment in einzigartiger Weise nacherlebbar macht: die letzte Woche des Zarenreichs so lebensnah, als säße man im Kino. Das Buch fängt die Dynamik des Moments grandios ein und zeigt, wie eine scheinbar festgefügte Ordnung in wenigen Tagen in sich zusammenfallen kann, wenn die handelnden Personen nicht mehr wissen, was sie tun. Baberowski zeichnet bestechende Porträts und schildert die Ereignisse so, als wäre man mitten im Geschehen. Deutlich wird aber auch, dass alles anders hätte kommen können, wenn der Zar, seine Minister und Generäle verstanden hätten, was um sie herum geschah. So ist dieses berührende Buch auch eine Reflexion über die Grundlagen der Macht und die Herrschaft des Zufalls.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
I. Vor dem Sturm
In den letzten Januartagen des Jahres 1917 reist der junge Sergei Prokofjew, das Wunderkind der russischen Musik, nach Saratow, einer Provinzhauptstadt an der Wolga. Er spielt vor großem Publikum, und, wie stets, berauscht er sich an seinem eigenen Auftritt, den er auch jetzt wieder für unerreicht hält. Überhaupt interessiert sich der exzentrische Komponist nur für die Welt der Musik, das Alltagsgeschehen nimmt er nicht wahr. Was geht ihn die Politik an, die in diesen Tagen so viele Menschen beschäftigt? Warum soll er sich mit Fragen befassen, von denen er nichts versteht, die ihn nichts angehen, die ihn doch nur davon abhalten, seiner Leidenschaft für die Musik freien Lauf zu lassen? Jedes Regime, das ihn in Ruhe lasse, wird er später einmal sagen, sei ihm recht, solange er komponieren könne, was er wolle. Prokofjew ist ein Künstler, der für nichts anderes lebt als für die Musik. Aber er teilt diese Einstellung zum Leben mit Millionen anderer Menschen, die nichts anderes im Sinn haben, als ihr Leben in der Balance zu halten. Sie wissen von den Ereignissen an der Front, von der monströsen Gewalt, die millionenfach erlitten wird, sie spüren, daß sich die Lebensbedingungen verschlechtern und die Stimmung sich verdüstert. Aber sie versuchen, die dunklen Seiten des Lebens zu verdrängen. An eine Revolution denken sie ebenso wenig wie der junge Komponist, der von keinem anderen Gedanken getrieben ist, als so schnell wie möglich nach Moskau und von dort nach Petrograd zu gelangen. Denn sein Publikum wartet auch dort schon auf ihn. Wenn doch nur dieser lästige Schneefall nicht wäre, der nicht aufhören will und der die Schienenwege verstopft, auf denen er durch Rußland reist![1] Der Schneefall ist nicht die einzige Sorge, die Rußland in Atem hält. Maurice Paléologue, der französische Botschafter, meldet in diesen Tagen nach Paris, daß in Petrograd, der Hauptstadt des Zarenreiches, die vor dem Krieg noch Sankt Petersburg hieß, eine Versorgungskrise ausgebrochen sei, weil die Eisenbahn den Belastungen nicht mehr gewachsen ist, die die Witterung ihr auferlegt. Aus der weit entfernten Ukraine muß das Getreide in den Norden des Landes geschafft werden. Das aber scheint nicht mehr zu gelingen, obgleich die Regierung die Anweisung erteilt hat, Lokomotiven und Waggons zu requirieren. Selbst in den Dörfern lassen sich keine Männer mehr finden, die Schienenwege von den Schneemassen befreien. Das Verkehrsnetz ist überlastet, viele Züge fallen aus oder bleiben liegen. Die Hauptstadt wird schon seit Tagen nicht mehr mit Getreide, Mehl und Fleisch beliefert, in vielen Bäckereien fallen die Öfen aus, weil der Brennstoff zur Neige geht. Der Botschafter wundert sich über die Gleichgültigkeit der herrschenden Eliten. Sehen sie denn nicht, daß sich die Auslagen in den Geschäften leeren, spüren sich nicht, was auf dem Spiel steht? Wie soll man mit solchen Verbündeten einen Krieg gewinnen?[2] Auf den Straßen der Hauptstadt stehen Frauen in langen Schlangen vor den Bäckereien. Es sind die Armen, die besonders unter der Krise zu leiden haben. Sie können es sich nicht leisten, Dienstboten damit zu beauftragen, für sie einzukaufen, wie es in den wohlhabenden Familien üblich ist. Die Stimmung verdüstert sich, aufgestaute Wut drängt zur Entladung, überall ist diese Atmosphäre nun zu spüren. Alexander Rittich, der Landwirtschaftsminister, steht unter den Abgeordneten des Parlaments im Ruf, ein kluger und umsichtiger Mann zu sein. Er tut, was er kann, aber er trifft auch eine verhängnisvolle Entscheidung. Als er die Depots anweist, den Bäckereien nur eine bestimmte Menge Mehl zuzuteilen, unterläßt er es, diese Anordnung mit der Einführung von Lebensmittelmarken zu verbinden. Und so löst er den Ansturm auf die Läden erst aus, den er eigentlich unterbinden will.[3] Die Geheimpolizei ist über den Unmut, der auf den Straßen herrscht, sehr gut unterrichtet. Gerüchte verbreiten sich in den Schlangen, die sich vor den Läden gebildet haben. Die einen erwarten eine Revolution, die anderen fürchten, die Regierung könne eine Terrorherrschaft errichten. Konstantin Globatschow, der Leiter der Ochrana in Petrograd, warnt den Innenminister am 26. Januar vor den liberalen Politikern, die sich bereits darauf vorbereiteten, die Ministersessel in Besitz zu nehmen. Im Februar, unmittelbar vor dem Ausbruch der Unruhen, berichten die Agenten der Ochrana auch über die Wut, die sich auf den Straßen entlädt. Ein kleiner Funke werde genügen, teilen die Informanten mit, um alles in Brand zu setzen.[4] Schlange vor einer Bäckerei in Petrograd, Februar 1917 Davon aber will Alexander Protopopow, der Innenminister, ein schlanker Mann mit feinen Gesichtszügen und einem an den Enden gezwirbelten Schnurrbart, nichts hören. Seit September 1916 ist er, ein Abgeordneter, der sich der rechtsliberalen Fraktion der Oktobristen im Parlament verbunden fühlt, im Amt. Die liberalen Abgeordneten verstehen die Ernennung Protopopows, der einmal einer der Ihren war, als Kampfansage des Herrscherhauses. Der Minister gilt ihnen als psychisch instabil und eitel, als einer, der nur auf seinen Ruhm bedacht ist. Mit ihm wollen sie nicht kooperieren.[5] Und bald schon stellt sich heraus, wie recht sie mit ihrer Vermutung haben. Der Minister erscheint in der Uniform eines Gendarmerie-Generals in der Duma, trägt Stiefel mit Sporen und heftet sich ein Komthur-Kreuz an den Kragen. Auch sonst verhält sich Protopopow auffällig, umgibt sich mit Spiritisten und Kartenlesern, die ihm die Zukunft vorhersagen. Manche sagen, er leide an den Spätfolgen einer Syphilis, die er sich vor Jahren zugezogen hat. Eine Witzfigur als Hüter des Gesetzes.[6] Zar Nikolai II. aber hält an seinem Innenminister fest, dessen Höflichkeit und Stilsicherheit auf höfischem Parkett ihm gefällt und weil auch Alexandra, seine Ehefrau, ihm dazu rät. Ihr hat er noch nie widersprochen. So verhält er sich auch gegenüber den Vorsitzenden des Ministerrates, die zwar nur die Rolle von Conférenciers am Kabinettstisch spielen, aber immerhin die Regierung vertreten und direkten Zugang zum Hof haben. Im Januar beruft der Zar den 67-jährigen Fürsten Nikolai Golizyn auf diesen Posten, einen Mann aus altem Adel, der, wie der Dichter und Chronist der Revolution Alexander Blok süffisant bemerkt, nur davon träumt, sich zu «erholen». Als der Zar ihm eröffnet, daß er ihn zum Regierungschef ernennen wolle, gibt Golizyn zu bedenken, daß er von der Verwaltung der Staatsangelegenheiten nichts verstehe. Aber er wagt es nicht, dem Herrscher zu widersprechen, auch wenn ihm der Gedanke zuwider ist, seine Zeit damit zu verbringen, den «Pöbel» zu regieren, wie er das Volk verächtlich nennt. Nikolai hat für die Besetzung dieses Postens auch den ehemaligen Verkehrsminister Sergei Ruchlow in Erwägung gezogen. Nur spreche der Minister nicht Französisch, wie er zu Golizyn sagt. «Deshalb fiel meine Wahl auf Sie.»[7] In der Umgebung des Zaren geben Schmeichler und Intriganten den Ton an: der vornehme, exzentrische Minister des Hofes, Graf Woldemar von Fredericks (eigentlich Graf Adolf Andreas Woldemar von Fréedéricksz), ein Aristokrat des 19. Jahrhunderts, der das Parlament für eine geschmacklose Verirrung anmaßender Parvenus hält, der eitle und korrupte Chef der Palastwache, Wladimir Wojejkow, der ein eigenes Mineralwasser vertreibt und sich schamlos bereichert, die Adjutanten Graf Alexander Grabbe und Konstantin Nilow, ein ehemaliger Admiral, Grobian und Alkoholiker, die den Zaren auf Schritt und Tritt begleiten, ihn von der Außenwelt abschirmen und ihm alle Informationen vorenthalten, die ihn beunruhigen könnten. In den letzten Jahren hat sich der Zar aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und im Alexander-Palast von Zarskoje Selo außerhalb Petrograds Zuflucht gesucht, um dort ein abgeschiedenes Privatleben als Familienvater zu führen. Aber die Abschottung erzeugt erst die Intrigen, denen er aus dem Weg gehen will. Denn die Minister sind nur dem Zaren gegenüber verantwortlich. Es gibt weder einen Ministerpräsidenten mit Richtlinienkompetenz noch Kabinettsdisziplin. Jeder verfährt in seinem Ressort, wie es ihm gefällt und kein Reformvorhaben passiert die gesetzgebenden Institutionen ohne die Zustimmung des Herrschers. Wer sein Ohr nicht erreicht, wird es kaum weit ...