E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Reihe: Wortlaut
Babunashvill / Fleißig / Thierry FM4 Wortlaut 24. Versprechen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-903422-49-0
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Reihe: Wortlaut
ISBN: 978-3-903422-49-0
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wortlaut, der FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb, fand 2024 zum Thema "VERSPRECHEN" statt. Der Duden eröffnet zu diesem Wort eine erstaunliche Bandbreite an Bedeutungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
FM4 ermutigte alle Schreibenden, sich in kurzer Form literarisch zum Thema "VERSPRECHEN" auszulassen. Die redaktionelle Vorjury wählte aus den cirka 800 Einreichungen 20 Texte aus, die anonymisiert an die hochkarätige Jury weitergegeben wurden. Diese kürte dann die Gewinner*innen, die zehn besten Beiträge schafften es in die Anthologie "FM4 Wortlaut 24. VERSPRECHEN".
Von den Kurzgeschichten versprach sich die Jury viel. Ob die Versprechen eingelöst wurden, das bewerteten 2024:
Raphaela Edelbauer (Autorin)
Mareike Fallwickl (Autorin und Literaturvermittlerin)
Janett Lederer (Gewinnerin Wortlaut 23)
Clemens Setz (Schriftsteller und Übersetzer)
Robert Stadlober (Schauspieler und Musiker)
Weitere Infos & Material
„Stopp, stopp“, rufen wir und der Sekt schäumt und schäumt über den Rand des Pappbechers, läuft uns über die Hand und wir lecken die Flüssigkeit mit unseren Zungen ab, bevor etwas an uns kleben bleiben kann und dann liegt die grüne Flasche im Gebüsch und wir sind vierzehn und über den Bauzaun auf die Dorfparty des Jahres hinten beim Schützenverein. Schmuggeln uns wie immer beim Pissbaum rein, da schaut niemand genau hin, sowieso schaut niemand jemals genau hin, das ist unser Glück. Wir haben immer Glück. Wir sind aufgeregt. Wir lieben es, Stories zu haben, aber es müssen die richtigen sein. Sich die falschen einzufangen, ist der Tod, ist wie in Scheiße treten und es erst merken, wenn jemand fragt: „Warum riecht es hier nach Scheiße?“ Wir wollen, dass es sich lohnt. „Uahh“, stöhnt Kathrin auf der anderen Seite des Bauzauns und unsere Köpfe schießen in eine Richtung. An einem weißen Plastikstehtisch lehnt der Typ, der uns in seinem Zimmer die schnell fettenden Strähnen aus dem Gesicht streicht, ganz vorsichtig, egal wie verklebt, der, für den sich unsere Knie an seinem Teppichboden festgesaugt haben wie die Putzerfische an die Scheibe des Aquariums beim Chemiezimmer, der, der uns sagt, wir sollen ihn vor seinen Freunden nicht ansprechen. Alles zu wollen reicht nicht, um es auch zu bekommen, wir bleiben trotzdem, weil es könnte ja vielleicht doch noch. Jetzt schämen wir uns, unsere Würde ein kleiner Kanarienvogel mit eiterndem Auge auf unseren breitgemachten Schultern. Wir lassen ihn trotzdem nicht einschläfern. Wir lachen besonders laut. Wir bilden einen Kreis. Lagebesprechung. Wir sind auf feindlichem Gebiet, herrschen unser pochendes Herz an, still zu sein, wir wissen ganz genau, was wir tun, warum wir hier sind, sind full on im Mottenmodus und die Nächte voller Lichter, wolkenfreier Himmel. Keine spricht es aus, aber wir sehen es uns an, daran, wie die Augen hin und her huschen, daran, wie wir Vollgas lachen, haben eigentlich alle eine Heidenangst, teilen sie uns wie die ersten Zigaretten, weil uns von einer ganzen, even light, schwindlig wird, scheißen uns ein, also wirklich, ohne Durchfall kurz vorm Losziehen macht es keine von uns. Manchmal muss eine dann warten, weil der Spülkasten so langsam wieder vollläuft und dann steht eine da, in dem blaugekachelten Bad, mit dem Holzschiffchen auf dem Sims und den Muschelstickern an der Duschkabine und schaut sich im Spiegel an und hört dem Gluckern und Tröpfeln zu und riecht sich selbst und draußen die aufgekratzten Stimmen der anderen, das Pochen gegen die Tür: „Raus da, ich muss auch mal!“ Das mit dem Dünni ist eigentlich auch nicht so schlecht, dann ist unser Bauch schön flach, so flach wie halt geht, plus man ist schneller hacke. Wir sind gut dabei, gut dabei zu sein. Auch jetzt. Im Gang zu den Toiletten schauen wir uns die gerahmten Gruppenfotos an, zeigen auf die, mit denen wir es machen würden, suchen uns die Hässlichsten und Ältesten raus und fragen, wenn du wählen müsstest, welchen dann lieber. Auf dem Klo teilen wir uns unter einem Zwölfender-Geweih Malibu-Kirsch aus dem Tetra und Sarah ist sechzehn und als Einzige mit richtigem Stempel und nicht über den Zaun drin und wischt sich über die Oberlippe und sagt: „Und dann ist er, behauptet er, aus Versehen falsch reingerutscht und ich habe geschrien, er soll sofort rausziehen und er meinte nur saudämlich „ups, sorry, sorry“, ich solle mich nicht so anstellen, irgendwann würden wir das eh machen und ich meinte, soll ich dir mal’n Deo in den …“ In der Kabine neben uns übergibt sich eine und Laura, die Empathiewürgerin der Gruppe, fängt sofort an, kehlige Laute von sich zugeben. Wir lachen. „Klappe“, sagt sie und würgt wieder, Tränen in den Augen. Wir sind ein Wunder, denken wir. Eine Anomalie. Wir haben uns gefunden in dieser verwinkelten Wirklichkeit, in diesem Frühlingsfest-Spiegelkabinett haben wir uns gefunden. Wir quetschen uns die Hände, schnell und fest und feucht. Wir sind ein Bannspruch, wir sind Alchemie, sind zauberhafte Hexen, wollen alle am liebsten wie Phoebe sein, weil wir Cole am heißesten finden. Wieder draußen reichen wir Juicy Fruit rum. Irgendwer schießt jetzt, Platzpatronen, wir finden es auch lustig. Wir kreischen und wir ducken uns vor dem Lauf weg, einer hat ein Loch in der Wade, trotz Platzpatronen. Wir rennen auseinander, wissen doch eigentlich, wer sich im Film aufteilt, geht als erstes drauf. (Keller ca. 2005, BENQ Beamer, weißes Leintuch an die Wand genagelt, Scream, Bloody Murder II Closing Camp, Eiskalte Engel, wie Sebastian Cecile überredet, sich das Alphabet da unten mit der Zunge buchstabieren zu lassen und wir es endkacke finden, dass er am Schluss stirbt, und noch davor erinnern wir uns an das Bilderbuch, dass uns unsere Mütter früher (vllt 1999) auf Dauerschleife vorlesen mussten. Ihre Hände, die brüchigen Nägel, weißlich von dem härtenden Calciumlack, das Rascheln der Seiten, ihre verstellten Stimmen, um unseren Ansprüchen ans Geschichtenerzählen zu genügen. Alle waren sie da: Mickey, Minnie, Pluto, Chip und Chap, Goofy, Max, Tick, Trick und Track, Daisy und Donald. Wir auch. Alle zusammen wollen wir ein Picknick machen, müssen dafür mit unseren Körbchen durch den tiefen, dunklen Wald und mit jeder Seite, die eine Mutter umblätterte, geht eine der Figuren verloren. Pluto findet einen Knochen und zurück bleibt er. Daisy riecht an einem Gänseblümchen und zurück bleibt sie. Minnie verheddert sich mit der Schleife in einem Ast und zurück bleibt sie. Und am Ende tritt eine allein mit ihrem Körbchen aus dem tiefen, dunklen Wald auf die grüne, saftige Picknickwiese. Wo sind alle hin? Und dann fehlen uns ein, zwei Seiten, weil auf der letzten Seite finden alle wieder zusammen und das Picknick ist ein voller Erfolg, aber wie haben wir es geschafft? Was fehlt uns? Wir starten von vorne, Knochen, Gänseblümchen, Schleife, Lücke, Picknick. Wir starten von vorne. Wald. Lücke. Gerade noch mal alles gutgegangen. Fuck, sagen wir und stehen wieder auf der Picknickwiese, umklammern unser Körbchen und aus Gründen ist da jetzt eine Hütte und die Tür steht einen Spalt offen und wir gehen hinein und im Bett liegt die Großmutter und im Körbchen haben wir Steine und wir treten zur Großmutter ans Bett und sagen: „Ah, die Geschichte, kennen wir, du bist der Wolf“ und die Großmutter macht große Augen und wir holen das Jagdmesser aus dem Körbchen und schneiden ihr den Bauch auf, erzählen ihr über ihre Schreie hinweg von den anderen, von Pluto und Goofy und davon, dass beide Hunde sind, aber es trotzdem komplett unterschiedliche Regeln für sie gibt und unser Körbchen wird leichter mit jedem Stein, den wir in den Bauch der Großmutter legen. Wir nähen sie zu. Es bleiben Lücken. Immer überall Lücken. Schon jetzt.) Die Hollywoodschaukel wippt vor und zurück und Melanie zupft ihr Tanktop unauffällig weiter nach unten, wir sehen die rote Spitze, die wir zusammen ausgesucht haben. Der Große hat seinen Arm hinter uns über die Lehne gelegt, gleich wird er uns berühren. Er hat schon einen Führerschein. Wir denken uns, nur für uns, als würden wir dabei ein Kantholz schlucken: Die bitch macht es auch mit jedem. Aus einem Wagen heraus gibt es Kartoffelsalat und Bulletten aus silbernen Wärmebehältern und Ketchup und Senf zum Pumpen, gelbe und rote Fingerabdrücke auf den Flaschen, auf den Tischen Pappteller, Plastikbesteck, auf dem Boden die zerknüllten Servietten. In dem großen weißen Zelt endlich Musik, endlich Hitze und sogar Nebel, den man hinten auf der Zunge schmeckt. „Was ist das für beschissene Musik???“, rufen wir dem DJ zu, wir beugen uns über den Tisch mit weißer Tischdecke, auf dem der Laptop steht, zu dem Mann in rotem Shirt und Jeansshorts und er sagt: „Was wisst ihr Gören schon von echter Musik?“ Wir wissen: I get a little bit nervous that the best of all the years have gone by und wir wissen: You were just like me with someone disappointed in you. Auf dem Laptop schwirren Neontunnel und jetzt ist erstmal Sean Paul angesagt. Beim Tanzen legen wir uns gegenseitig die Hände an die Taillen, reiben unsere Ärsche in den bunten Röhrenjeans aneinander, strecken uns die Zungen entgegen, aber nicht wie Lesben. Niemals wie Lesben. An der Wand ein geschnitzter Jesus, jemand hat ihm einen Ast geformt wie ein Gewehr in die Hand geklemmt. Kathrin lässt sich Drinks von dem Typen beim Ausschank ausgeben. U-Boot. Der Schnaps geht nicht im Bier unter, wir schwimmen auch oben auf. Er hatte mal eine Frau, wir glauben sogar eine Tochter, jetzt zeigt er uns die Edding-Buchstaben auf seinen Fingerknöcheln HEAD und BANG steht da und er packt unseren Hinterkopf mit der HEAD-Hand, sagt mit einem verschmitzten Blitzen in den Augen: „Verstehst du, weil im Englischen heißt es giving head, das verstehst du noch nicht.“ Wir verstehen. Wir verstehen alles. Es ist nicht gut, etwas nicht zu wissen, deswegen wissen wir lieber immer alles. Wir sind den anderen immer einen Schritt voraus. Wir erinnern uns mit grellem Stolz: erster Schultag alle anderen mit Eastpak und wir so Batikkleid und Handtasche; wie Kindernutten sagen ein paar Mütter schadenfroh (und denken: nicht unsere Töchter). Ihre Söhne starten ihre Mopeds, ihre Volvos, ihre VW-Golfs und manchmal sitzen wir, nur wir, auf dem Beifahrersitz. Wir können alles abstreifen wie die BHs am Abend, wir können eine Sache mit zwanzig neuen überlagern, wir sind Oktopusse, wir sind Formwandlerinnen, schlägt man uns einen Kopf ab, wachsen zwei nach und so wird es immer bleiben, das kann gar nicht anders sein. Diese Realität, in der es anders ist, die gibt es...