E-Book, Deutsch, 324 Seiten
Bärfuss Luther - Frau Schmitz - Julien
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8353-4724-3
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stücke
E-Book, Deutsch, 324 Seiten
ISBN: 978-3-8353-4724-3
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lukas Bärfuss, geb. 1971 in Thun / Schweiz, ist Dramatiker und Romancier, Essayist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. Auszeichnungen u. a.: Berliner Literaturpreis (2013), Schweizer Buchpreis (für 'Koala', 2014), Nicolas-Born-Preis (2015). Mit 'Hagard' stand er 2017 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2019 wurde Lukas Bärfuss mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.
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Frau Schmitz
Für Muriel
Personen
Frau Schmitz
Leni, die Ehefrau
Valerie, die Tochter
Carl, ihr Freund
Rolf, der Chef
Sven, ein Projektleiter
Mara, die Personalerin
Julius, ein Angestellter
Dr. Julie Gerber, eine Ärztin
Schauplätze
In einer Firma; im Hause Schmitz, in einem Park, in einer Klinik für kosmetische Chirurgie
Anmerkung des Autors: Dieses Schauspiel entstand in der Spielzeit 2016?/2017 am Schauspielhaus Zürich. Die Rolle der Frau Schmitz wurde in den Szenen 1 bis 34 von Friederike Wagner, in den Szenen 35 bis 37 von Lambert Hamel gespielt. Die Idee zu diesem Tausch stand am Anfang meiner Auseinandersetzung mit diesem Stoff.
1. EINE BRAUNSCHWEIGER FAYENCE
In einer Firma, in einem etwas düsteren Büro, Montagmorgen.
Julius, Frau Schmitz in Damengarderobe.
JULIUS Warum sind Sie nicht gekommen, Frau Schmitz, letzten Sonntag. Warum haben Sie mich warten lassen. Hat Sie die Antiquitätenmesse nicht interessiert. Oder finden Sie mich seltsam. Ich bin seltsam. Ich hätte eine Begleitung gehabt. Ein Mädchen aus dem Erdgeschoss. Das könnte ich haben, jederzeit. Es ist in meinem Alter und streicht um meine Beine wie eine rollige Katze. Darauf bilde ich mir nichts ein, das macht es mit jedem, es kann nicht anders. Es schiebt sein Fleisch durch die Straße, klebt Acrylschaufeln an die Nägel und Polyesterborsten an die Wimpern. Alles an ihm stinkt nach Jugend, aber ich sehne mich nach Reife, Frau Schmitz, nach Patina, nach dem Wabi-Sabi, wie die Japaner die edlen Spuren des Gebrauchs auf ihren Tassen der Teezeremonie nennen. Wo waren Sie, Sonntag. Im Kreise Ihrer Familie. Haben Sie auf dem Balkon gesessen bei Kaffee und Kuchen. Haben Sie einen Spaziergang gemacht an der Seepromenade. Wie man das so tut, als Ehepaar. Schön. Haben Sie einmal an mich gedacht. Durch die Hallen bin ich gerannt, im Kongresshaus, von einem Stand zum nächsten und habe nach einem Geschenk gesucht, einem Pfand, das ich Ihnen zu Füßen legen könnte. Da gab es eine Braunschweiger Fayence, die hätte Ihnen bestimmt gefallen, für die Kommode in Ihrem Schlafgemach. Eine Iserlohner Dose, fürs Puder oder als Etui für den Anhänger aus Achat, den Sie nur gelegentlich tragen, zuletzt am Donnerstag vor Ostern, stimmt es nicht.
Aber nichts war angemessen, Frau Schmitz, nicht die Fayence und nicht die Dose. Und so irrte ich weiter. Hat es bei Ihnen auch geregnet, letzten Sonntag, frage ich Sie, denn in meinem Himmel gab es einen Wolkenbruch, meine Territorien standen unter Wasser, überflutet alles von den Fundamenten bis zu den Giebeln, ich watete durch einen feuchten Untergang, und ich bin sicher, ein Tropfen meiner Sintflut hat der Wind auch zu Ihnen geweht und Ihr Gesicht benetzt, denn um neun Minuten vor fünf, als schon die Glocke ging und alles zu den Ausgängen strömte, da sah ich es, in der Vitrine eines Händlers aus Armenien, das Glas, Frau Schmitz, ein Flügelglas, aus Venedig, tief aus dem siebzehnten Jahrhundert, fliehende Hirsche auf dem Kelch, der Stiel in reizend überflüssigen Arabesken geschwungen, der Rand schon etwas angefressen von der Glaskrankheit, da wusste ich: Dies gehört der Frau Schmitz, dies ist sie, ein Wunderwesen wie dieses Glas, durchsichtig und doch opak, spröde und doch mit Glanz, ein Becher, der noch zu füllen ist. Dies ist meine Schwäche: Was schwach ist, zerbrechlich, was so zart ist, dass es selbst den zärtlichsten Fingern nicht standzuhalten vermag, dies möchte ich greifen, ich möchte es liebkosen und vor der Welt beschützen. Was es mich gekostet hat. Die Anmut hat keinen Preis. Ich habe es zu Hause gelassen, Frau Schmitz, das Glas, dieses Gebäude, die merkantile Obszönität ist seiner nicht würdig. Eines Tages werde ich es Ihnen schenken, zu Füßen legen, wenn diese Hölle aus Werktagen ein Ende findet und Sie mir einen Abend schenken, einen Samstag oder den Tag, der Gott gehört.
2. KOPF
Zur selben Zeit, in einem Sitzungszimmer derselben Firma. Das Licht ist etwas heller, die Stimmung nicht weniger düster.
Sven und Mara.
SVEN Mara.
MARA Nicht jetzt.
SVEN Aber Mara.
MARA Du bist jetzt still.
SVEN Ich brauche eine Antwort.
MARA Es geht um deinen Kopf.
SVEN Um meinen Kopf.
MARA Da kommt er schon.
3. BUSVERGEWALTIGUNGEN
Am selben Ort.
Mara, Sven, Rolf.
ROLF Sven. Ich weiß, es ist vergeblich dich darum zu bitten, aber für einmal, mach es kurz.
SVEN Kurz.
ROLF Für einmal. Heute.
SVEN Also.
ROLF Los.
SVEN Jetzt weiß ich nicht. Das blockiert mich jetzt.
ROLF Versuch’s.
SVEN Kurz.
ROLF Bitte.
SVEN Es gab einen Ausfall. In einem Werk in Jaipur.
ROLF Kannten wir da jemanden.
MARA Nur den Kinsley.
ROLF Kinsley.
MARA Der war mal hier zu einem Austausch.
ROLF Ah, der Kinsley. Feiner Kerl.
MARA Furchtbar.
ROLF Man muss jeden Tag genießen. Denn plötzlich, zack, und es ist vorbei. Geht auch dir einmal so, Sven.
SVEN Mir.
ROLF Zack und Schluss. Hat man der Familie eine Karte –
MARA Schon erledigt.
ROLF Wer hat unterschrieben.
MARA Das lag schon gestern in der Dokumentenmappe.
ROLF Aha. Das war dieser Kinsley. Was kommt da sonst noch auf mich zu.
SVEN Wenig. Höchstens Kulanzzahlungen. Aber haftbar, jetzt nach Recht und Gesetz, das ist der Subunternehmer. Ein Russe. Furchtbarer Mensch. Furchtbare Umgangsformen. Kein Gefühl für gar nichts. Nette Frau, aber das ist dort ja nichts Außergewöhnliches.
ROLF Aha. Und das ist alles.
SVEN Im Großen und Ganzen, ja.
ROLF Bis wann müssen wir einen Zulieferer finden.
SVEN Bis zum Vierundzwanzigsten.
ROLF Und.
SVEN Wir suchen.
ROLF Wer ist der Endabnehmer.
SVEN Das ist der Saudi.
ROLF Der Saudi. Was steht da im Vertrag.
SVEN Er erwartet die Lieferung am Vierundzwanzigsten, und zwar Fracht und Cargo schaumverpackt.
ROLF Und sonst.
SVEN Konventionalstrafe.
ROLF Aha. Wie viel.
SVEN Das berechnen wir gerade, aber in der Größenordnung zwischen vierhundert und eins Komma sieben, vielleicht vier Komma drei fünf, höchstens, wie gesagt, das berechnen wir gerade, das kommt darauf an, ob wir einen Totalausfall, einen Dreiviertel- oder einen Halbausfall undsoweiter.
ROLF Können wir ausweichen.
SVEN Wir haben das Angebot eines Usbeken, aber keiner hier hat Erfahrungen mit Usbeken.
ROLF Wir hatten doch mal diesen Indonesier.
SVEN Und haben danach einen Eid geschworen. Nie wieder einen Indonesier.
ROLF Das ist schon eine Weile her. Die haben sich entwickelt.
SVEN Am Ende des Tages bleiben es Indonesier.
ROLF Und sonst.
SVEN Nichts. Nur ein Betrieb in Pakistan. Karatschi.
ROLF Aha. Und der will nicht.
SVEN Wollen tut der schon. Aber er drückt sich um die...