Bagci | Die Erfindung des Dosenöffners | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 252 Seiten

Bagci Die Erfindung des Dosenöffners

Roman

E-Book, Deutsch, 252 Seiten

ISBN: 978-3-8437-2372-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



'Ein sehr gutes Buch – und ich muss es ja wohl wissen.' Klaas Heufer-Umlauf'Eine Geschichte, auf die wirklich niemand gewartet hat, die dann aber eine Familienpizza mit Käse im Rand dabei hat und vier verschiedene Sorten Monster Slush für alle. Das sind mir die liebsten Gäste.' Giulia BeckerAls Star-Journalist über die ganz großen Themen berichten, das ist Timur Aslans Traum. Statt Karriere zu machen, steckt er in der Lokalredaktion einer Kleinstadtzeitung fest. Hier schreibt er Artikel über Hühnerzüchter und Rentner-Kegelclubs und hasst jeden Buchstaben, den er dazu tippen muss. Auf der Suche nach eine großen Story, trifft er auf die 70-jährige Annette, die behauptet, dass sie den Dosenöffner erfunden hat. Was als Recherche beginnt, endet in einer ungewöhnlichen Freundschaft. Denn Timur muss feststellen, dass Erfolg und Glück zwei ganz unterschiedliche Dinge sind.
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1
Ein aufrechter Gang führt bloß vor die Hunde. Ich wollte dem Obdachlosen meinen Gedanken aufmunternd zurufen, aber er sah nicht so aus, als würde er sich dafür interessieren. Er saß in der Gosse, als wäre sie ein Logenplatz, und wühlte beschäftigt in einer weggeworfenen Zeitung. War es unsere Zeitung? Ich lehnte mich aus dem Fenster, um besser sehen zu können. Es war tatsächlich eine Ausgabe des Westfälischen Kuriers. Vielleicht las er sogar gerade einen meiner Artikel. Ich lehnte mich wieder zurück und zog noch einmal so kräftig an meiner Zigarette, dass es knisterte. Ich stand jetzt seit einer halben Stunde im Archiv herum und hatte bereits so viele Kippen geraucht, dass ich keine Angst mehr vor Lungenkrebs haben musste, weil selbst mein potenzieller Lungenkrebs wahrscheinlich schon an Lungenkrebs gestorben war. Ich hatte die gesamte Luft im Archiv verqualmt, das offene Fenster half nicht viel. Genau deswegen war Rauchen in der Redaktion eigentlich verboten. An den Wänden stapelten sich alte Zeitungsausgaben, die auf mich herabblickten. In einer Ecke stand ein Drucker, der so alt war, dass er Gutenberg wahrscheinlich persönlich kannte. Ich horchte in den Flur, ob jemand kam, aber es gab nicht viel zu hören. Nur das Glucksen der Kaffeemaschine. Unsere fleißigste Mitarbeiterin, dachte ich. Meine Zigarette war fast bis zum Filter heruntergebrannt, und ich tastete nach der Schachtel, um nachzuladen, ließ es dann aber sein. Ich konnte mich nicht noch länger davor drücken, meinen Artikel über den örtlichen Geflügelzüchterverein zu Ende zu schreiben. Die Redaktion wollte unbedingt siebzig Zeilen haben. Aber ich wusste wirklich nicht, was ich siebzig Zeilen lang über Johannes Bichler und seine Hühner schreiben sollte. Da gab es absolut nichts Berichtenswertes. Johannes Bichler züchtete die Dinger halt. In einem Verein. Ende. Wenn Johannes Bichler heute starb und all seine Hühner mit ihm, würde das nichts am Lauf der Geschichte ändern. Es wäre egal. Moses waren die vollständigen moralischen Regeln der menschlichen Existenz gerade mal zehn Zeilen wert gewesen. Johannes Bichler und seine Hühner bekamen siebzig. So viel würde ich nicht einmal zusammen bekommen, wenn ich einen Artikel über mein gesamtes Leben schreiben müsste. Das wären dann maximal zwei: Timur Aslan (20), geboren mit Ambitionen.
Seitdem ist nicht viel passiert. Und damit wäre dann auch alles erzählt. Mein Leben war absolut langweilig. Ich zog den letzten Rest Tabakrauch aus meiner Zigarette und schmiss sie aus dem Fenster. Scheiß Johannes Bichler. Um auf siebzig Zeilen zu kommen, blieb mir nichts anderes übrig, als silbenlastige Adjektive zu erfinden und mir Beschreibungen aus den Fingern zu saugen, die nichts anderes beschrieben als die leeren Zeilen. Ich hasste das. Es war eine demotivierende, sinnlose Arbeit. Aber so ist Lokaljournalismus eben, dachte ich, Bedeutungslosigkeit auf siebzig Zeilen gestreckt. Es war nicht so, dass ich meinen Job als Lokaljournalist grundsätzlich nicht ernst nahm oder sogar verachtete. Aber für mich war Lokaljournalismus nur eine Sprosse in meiner langen Karriereleiter. Und Sprossen tritt man nun mal mit Füßen. Zumindest wenn man vorhat aufzusteigen. Ich ließ das Fenster offen und ging rüber in die Redaktion. Die Redaktion bestand aus ein paar zusammengeschobenen Tischen und drei alten Rechnern. Der traurigste Newsroom der Welt. Die Decken hingen tief wie Galgen, und alles sah irgendwie abgesessen aus. Als hätte sich jemand jahrzehntelang auf jedes einzelne Möbelstück gefläzt und es so lange angepupst, bis alles eingesackt und vergilbt war. Der ganze Raum hatte eine Trägheit, die seinem eigentlichen Sinn komplett entgegenstand. Walter saß an seiner Ecke des großen, zusammengeschobenen Schreibtisches und blätterte durch die Zeitung. Als er mich sah, schreckte er auf und legte das Blatt schnell beiseite. Das war wohl das analoge Äquivalent zu schnell-seinen-Tab-schließen-und-so-tun-als-würde-man-sich-mit-der-Startseite-von-Google-beschäftigen, wenn ein Kollege auf den Bildschirm schaut. Dabei waren wir in einer Zeitungsredaktion. Das Letzte, was man hier verstecken sollte, war, dass man Zeitung liest. Ich nickte Walter kurz zu, pflanzte mich an meinen Rechner und ignorierte ihn erfolgreich. Der unfertige Artikel starrte mich eindringlich an. Ich starrte tapfer zurück. Fünfzig Zeilen noch, mal sehen, was sich da machen ließ. Das Wort »Hühner« fiel mir sofort auf. Nur sechs Buchstaben. Da ging noch was. Ich machte »ausgesprochen ansehnliches Gefieder-Exemplar« daraus. Das nächste »Huhn« verwandelte ich in ein »glücklich gackerndes Federvieh«, und aus dem »jährlichen Wettkampf« machte ich »ein sich jedes Jahr wiederholendes Kräftemessen der Hühnerliebhaber«. Nach ein paar gewonnenen Zeilen griff ich zum Handy, um Insta­gram zu checken. Es ist erstaunlich, wie tief dieser Reflex sitzt, sich sofort mit dem Handy abzulenken, sobald man das Gefühl hat, man hätte auch nur die kleinste Kleinigkeit an Arbeit vollbracht. Auf Instagram war alles wie immer. Eine Flut lächelnder Gesichter sah mich aus besseren Leben an. Özlem posierte mit Surfern an einem australischen Strand, und Flo war gerade beim #Studying in der Uni-Bibliothek. Meine Freunde lebten ihr Leben, schöpften ihr Potenzial voll aus. Und ich? Was war mit mir? Ich sah mir mein Leben an. Vor mir saß Walter, die Hände in den Schoß gefaltet, das Kinn auf der Brust. Seine Brillengläser waren so dick mit Staub bedeckt, dass ich nicht sehen konnte, ob seine Augen offen oder geschlossen waren. Schlief er? Das Licht der viel zu alten Deckenlampe hing in der abgestandenen Luft. Selbst die Kaffeemaschine hatte aufgehört zu glucksen – hier war nichts los. Nichts. Ich saß in dieser toten Lokalredaktion fest und schrieb belanglose Artikel über belanglose Menschen in einem belanglosen Kaff. Demselben belanglosen Kaff, in dem ich geboren worden war, in dem ich mein Abitur gemacht hatte. Steinfeld. Einwohner 20 000, davon mindestens die Hälfte Kühe. Meine Freunde waren alle längst raus aus diesem Kaff. Flo war mittlerweile in Hamburg, Özlem in Australien, alle waren weiter, alle waren besser. Ich musste endlich nachziehen, aber ich hing in der Lokalredaktion fest, klebte an diesem Punkt in meinem Lebenslauf. Ich wechselte von Instagram auf Facebook und suchte nach Benjamin. Benjamin war auf derselben Schule wie ich gewesen, einige Jahrgänge über mir. Er hatte bereits für die ganz Großen geschrieben, taz, SZ, FAZ, und schrieb jetzt vor allem für die Haupt­redaktion des Westfälischen Kuriers. Die Hauptredaktion war für den Mantelteil der Zeitung zuständig. Der Mantelteil »ummantelt« den aus Lokalnachrichten bestehenden Kern der Zeitung. Also den Teil, den wir herstellten. Den Teil, in dem es die Artikel über Geflügelzüchter gab und der nur deswegen der »Kern« der Zeitung war, damit man ihn ohne Probleme angewidert rausfischen konnte, wie die Gurken aus einem Cheeseburger. Die einzigen Menschen, die Lokalzeitung lesen, sind Menschen, die in der Lokalzeitung stehen, und deren peinlich stolze Verwandte, die das gesamte Umfeld anrufen: »Hast du schon gesehen, der Johannes steht mit seinem Geflügelzüchterverein in der Zeitung!« Im Mantelteil hingegen findet man die wirklich wichtigen Nachrichten. Innenpolitik, Außenpolitik, Weltgeschehen. Die Hauptredaktion war nicht das Ende der Leiter, aber definitiv einige Sprossen weiter. Ich hatte Benjamin damals einfach bei Facebook angeschrieben, erzählt, dass ich mein Abitur machte und danach Journalist werden wollte. Er hatte mich an die Lokalredaktion vermittelt, wo ich seitdem als »freier Journalist« arbeitete, was bedeutete, dass ich nicht wirklich bei der Zeitung angestellt war, sondern nur pro geschriebenem Artikel bezahlt wurde. Außerdem war ich nur die Hälfte der Woche vor Ort in der Redaktion und davon nur die Hälfte wirklich den ganzen Tag. Benjamin sagte, er habe genauso angefangen, und versprach, in kürzester Zeit für mich ein Volontariat in der Hauptredaktion zu klären. In Deutschland ist Journalist keine gesicherte Berufsbezeichnung. Das heißt, anders als bei Ärzten, wo ganz klar geregelt ist, welche Dinge sie machen müssen, um offiziell als Ärzte arbeiten zu dürfen, kann sich jeder Hanswurst Journalist nennen und als solcher arbeiten. So wie ich es gerade tat. Das Volontariat ist das, was einer offiziellen Ausbildung für Journalisten am nächsten kommt. Es war der Schritt, der meine Karriere endlich vernünftig starten würde. Außerdem saß die Hauptredaktion des Westfälischen Anzeigers nicht in Steinfeld, sondern in der benachbarten Großstadt, in einem richtigen Redaktionsgebäude mit mehreren Stockwerken. Das Volontariat würde mich also buchstäblich hier rausholen. Letztes Jahr hatte ich es nicht bekommen, dieses Jahr musste es klappen! Benjamin hatte sich schon länger nicht mehr zurückgemeldet, und die Volontariate wurden bereits in den nächsten Wochen vergeben. Ich zögerte. Sollte ich Benjamin eine weitere Nachricht schreiben? Oder wirkte das zu drängend, zu verzweifelt? Vielleicht irgendwas Unverbindliches? Ich tippte: »Hey! Wie läufts?...


Bagci, Tarkan
Tarkan Bagci (*1995) ist Comedy-Autor, Podcaster und Journalist. Er hat bereits für zahlreiche Fernsehformate geschrieben, darunter preisgekrönte Sendungen wie das Neo Magazin Royale (ZDF), Kroymann (WDR), Lass dich überwachen (ZDF) und Knallerfrauen (Sat.1). Sein Impro-Comedy-Podcast „Gefühlte Fakten“ ist konstant in der Spitze der deutschen Podcast-Charts vertreten.
Twitter: @TarkanBagci
Instagram: @tarkanbagci

Tarkan Bagci (*1995) ist Comedy-Autor, Podcaster und Journalist. Er hat bereits für zahlreiche Fernsehformate geschrieben, darunter preisgekrönte Sendungen wie das Neo Magazin Royale (ZDF), Kroymann (WDR), Lass dich überwachen (ZDF) und Knallerfrauen (Sat.1). Sein Impro-Comedy-Podcast "Gefühlte Fakten" ist konstant in der Spitze der deutschen Podcast-Charts vertreten. In den Sozialen Medien folgen ihm über 20.000 Personen.


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