E-Book, Deutsch, 382 Seiten
Bailey Unsere letzten wilden Tage
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8412-3895-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 382 Seiten
ISBN: 978-3-8412-3895-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Man sagt, man kann den Zustand eines Ortes daran erkennen, wie es seiner Wildnis geht. Und ich sage, da draußen stimmt was nicht.'
Flirrende Hitze, raschelndes Sumpfgras und tödliche Alligatoren, die lautlos durchs Wasser gleiten: Versunken in den Sümpfen Louisianas liegt das verwunschene Jacknife, in das sich niemand mal so eben verirrt. Als die Journalistin Loyal hierhin zurückkehrt, hofft sie, sich mit ihrer besten Freundin aus Kindheitstagen zu versöhnen. Doch bevor Loyal mit ihr sprechen kann, wird sie ermordet aufgefunden. Niemanden interessiert es, was mit der jungen Frau passiert ist, die schon immer als Außenseiterin galt. Also beginnt Loyal, selbst Fragen zu stellen. Als sie Geheimnisse zutage fördert, die einige lieber unentdeckt gelassen hätten, zieht sich auch für sie die Schlinge zu ...
1995 in Gloucestershire geboren, studierte Anna Bailey Kreatives Schreiben an der Bath Spa University. Eine Zeitlang lebte Anna in Texas und den Wäldern von Colorado. Nach einigen Jahren als Journalist:in in Großbritannien wohnt Anna heute in Frankreich. Julian Haefs wurde 1984 in Bonn geboren. Er studierte Kommunikations- und Produktdesign in Köln, anschließend Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien. Seit 2015 arbeitet er als freier Literaturübersetzer für Englisch und als Lektor in Bonn.
Weitere Infos & Material
1.
Der Landkreis Assumption besteht zum Großteil aus Hinterland, durchzogen von Waldgebieten und Wasserwegen und in der Mitte zerteilt vom Lake Verret, der sich in die große Lebensader des Atchafalaya River entleert und so dem Golf von Mexiko zustrebt. Die meisten Ballungsräume des Landstrichs liegen östlich des Sees – kleine, von Ackerland umrahmte Ortschaften. Am westlichen Ufer liegen zwischen Bäumen und dem Sumpf verstreut nur wenige Siedlungen. In Jacknife wirbt eine Reklametafel für Metalldetektoren, Munition und Speiseeis der Sorte Snow Kone – mit K. Vor der Reinigung lassen dunkle Flecken rings um die frei liegenden Rohrleitungen erahnen, dass Rost in die Wandfarbe gekrochen ist. Ein verwittertes Holzpferd, Überbleibsel eines Karussells, wirft einen hüpfenden Schatten auf den Bürgersteig, der rasch schmaler wird und bald zwischen Unkraut und Fast-Food-Verpackungen verschwindet. Jacknife ist kein Ort, an dem die Menschen einfach zu Fuß gehen können. Die Hitze würde sie unterwegs umhauen.
An der Ecke Main Street wird das Diner langsam, aber sicher vom dahinter liegenden Sumpf verschluckt. Der Geruch, der sich hartnäckig in der Luft hält, ist eine Mischung aus den Chemikalien der Kunststofffabrik flussabwärts und dem bitteren schwarzen Kaffee, für den die Fabrikarbeiter und Fischer vor Beginn ihrer Schicht in Scharen anrücken. Die Neonröhren summen hier von fünf Uhr morgens bis zehn Uhr abends, werden reflektiert vom farblosen Linoleumboden und den Tischplatten aus Resopal. Alles schwitzt in der Bruthitze des südlichen Louisiana.
Vor der Tür prahlt ein im Lauf der Jahre immer wieder neu überkritzeltes Schild mit Steak von heimischen Alligatoren – so lecker, da lässt Ihre Zunge Ihnen das Hirn platzen! Als kleines Mädchen hatte Cutter Labasque ihren Brüdern oft dabei zugesehen, wie sie versuchten, gegen dieses Schild zu pissen. Dewall war der Einzige, der es je schaffte, denn er war der größte von ihnen. Obwohl er wusste, dass Cutter und ihr kleiner Bruder Beau es niemals hinkriegen würden, bestand er stets darauf, sie in den Nächten, in denen ihre Eltern komplett besoffen waren, zum Diner mitzuschleifen, denn das war alles, was Dewall hatte: diese Bestätigung, dass er etwas konnte, was andere nicht konnten.
Sie sind zu dritt aufgewachsen, mit aufgeplatzten Lippen und blutigen Knöcheln, haben Alligatoren gejagt und deren Eier für die Farm ihrer Eltern gesammelt, die am Ende das Einzige war, was Vin Labasque und Gina Stokes ihren Kindern hinterließen, als ihr Wagen mit hundert Meilen pro Stunde vom Highway abkam. Die Farm, einen großen Stapel unbezahlter Rechnungen und eine tückische Bösartigkeit zwischen den drei Geschwistern, die ihre Eltern jahrelang genährt hatten.
Cutter ist ein Brecheisen von einer Frau: achtundzwanzig, dreckige Stiefel und dunkles Haar, das sie nachts auf einem Kneipenklo an einer Seite komplett abrasiert hat. Wer ihr zu nahe kommt, würde wahrscheinlich den Joint riechen, den sie eben noch im Auto geraucht hat – ein Kraut, das schmeckt wie der sumpfige Flussarm, in dem sie als Kind beinahe ertrunken wäre –, aber das tut niemand. Ihr zu nahe kommen. Seit der Nacht ihres sechzehnten Geburtstags, als der Sohn des Sheriffs versuchte, die Hand in ihr Tanktop zu stecken, und Cutter ihm in den Finger biss, halten sich Männer wie Frauen von ihr fern.
»Wonach hat der geschmeckt?«, hatte der kleine Beau neugierig gefragt, während Dewall die Bullen anbrüllte.
Cutter hatte mit den Schultern gezuckt und sich zwischen den Zähnen gepult. »Wie die Muschi von ’ner anderen Tussi.«
Sie kommt fast jeden Morgen im Diner vorbei – vorgeblich, um ein paar Kilo Alligatorfleisch abzuliefern, aber eigentlich schätzt Cutter vor allem die Ruhe. Nein, das ist das falsche Wort. Im Diner ist es nie wirklich ruhig, der Raum ist stets erfüllt von klimpernden Tassen und Besteck, vom Knarren der Barhocker am Tresen, vom Surren der Deckenventilatoren, von der verstohlenen Gerüchteküche, vom Reizhusten der Fabrikarbeiter. Aber all das bildet in Cutters Kopf eine Art weißes Rauschen, das einen dringend nötigen Ausweg darstellt – von der Farm, von den Schulden, von ihren Brüdern. Vor allem heute Morgen. Vor allem im Wissen um das, was sie tun muss.
Dankbar für die Ablenkung, hört sie Kaylee Petitpas zu, der jungen Kellnerin, die gerade die Theke abwischt, wo ihr Bruder Sasha und ihr Freund Tyrone den Rest ihres Kaffees runterkippen.
»Habt ihr gehört, dass Loyal wieder da ist?«, sagt Kaylee gerade. »Nina hat sie an der Tanke gesehen. Angeblich hat sie jetzt voll die schicke Karre. Und offenbar hatte sie ’nen Anzug an, als wär sie auf dem Weg zu ’ner Beerdigung oder so.«
»Loyal … war das nicht die, die ständig Verkehrsschilder geklaut hat?« Tyrone ist kaum einundzwanzig und hat bereits ein Kratzen in der Stimme, das vom Kehlkopfkrebs kommt. Cutter weiß, dass er immer noch auf eine Entschädigung von der Kunststofffabrik hofft, aber das Verfahren ist zäh und teuer. Er witzelt oft, hier in der Gegend seien alle so arm, dass selbst die Fabrik erst einmal sparen müsse, um ihn bezahlen zu können.
»Nee, das waren die Morgan-Brüder«, sagt Sasha Petitpas. »Loyal May war in der Abschlussklasse, als wir in die Oberstufe gekommen sind. Schon ein bisschen süß, wie eine traurige Lehrerin.«
»Wie was bitte?« Kaylee grunzt.
»Sie hat irgendwie clever gewirkt, aber auch tiefgründig. Du kapierst das eh nicht, du bist keins von beidem.«
Tyrone grinst. »Warte mal, redest du etwa von der fetten Tussi, der ein Alligator die halbe Hand abgebissen hat? Die fandest du süß?«
»Ein bisschen, hab ich gesagt! Bis die Sache mit der Hand passiert ist. Das war widerlich.«
Kaylee verdreht die Augen. »Junge, du hast das nicht mal gesehen!«
Sie ist eindeutig Sashas Zwilling – sogar was die Art angeht, wie die beiden ein Auge zukneifen, wenn sie grinsen, als würden sie eine Zielscheibe anvisieren. Kaylee hat eine wilde Mähne, brüchig von zu viel Bleichmittel, Sashas Haar ist pink ausgewaschen mit fettigen Wurzeln und lässt den verpfuschten Versuch eines handgestochenen Tattoos hinter dem linken Ohr durchschimmern. Beide teilen die Vorliebe, nachts, wenn die Frachtzüge die Schienen entlangdonnern, auf den Gleisen zu stehen in der Hoffnung, dass jemand herausspringt und sie rettet.
Jetzt lässt Sasha den Blick rasch durch den Raum schweifen und beugt sich weiter vor. In seiner Stimme schwingt eine düstere Genugtuung mit. »Ihr wisst, was Loyal hier wirklich macht, oder?«
Er suhlt sich in der Tatsache, dass sie es nicht wissen, wie man es eben tut, wenn man so wenig hat, dass man jeden Fetzen Klatsch und Tratsch auskosten muss, als wäre er ein zerknüllter Geldschein.
»Loyal ist zurück in Jacknife, weil ihre Mom durchgeknallt ist.«
»Ihre Mom war schon immer durchgeknallt«, sagt Kaylee. »Was glaubst du, warum ihr Daddy weggelaufen ist?«
»Nein, anders. Angeblich haben die Nachbarn Rosa May im Garten gefunden, wie sie mit den Händen in der Erde gewühlt hat. Also haben sie die Bullen gerufen, und Loyal konnte bei ihrer tollen Zeitung in Houston einpacken, um wieder zurück ins Nirgendwo zu ziehen.«
Kaylee sieht ihren Bruder stirnrunzelnd an. »Woher weißt du das alles?«
»Weil Loyal jetzt für meine Zeitung arbeitet. Sie hilft mir und Onkel Chuck dabei, sie online zu stellen.«
»Ach bitte, ein Haufen Horoskope und Bewertungen über Wels-Steaks zählen wohl kaum als Zeitung.«
Sasha streckt ihr die Zunge raus, dann schneiden sie sich gegenseitig Grimassen, und das Gespräch mäandert zu Autoteilen und Popsongs, dazu, welches Mädchen, mit dem sie in der Schule waren, schon ihr drittes Kind kriegt, wer einen streunenden Hund in ihrem Hof abgeknallt hat.
Cutter hört kaum noch was davon.
Loyal ist also endlich nach Hause gekommen. Nach all den Jahren.
Cutter kann nur noch daran denken, dass ihre Brüder nichts davon erfahren dürfen – noch nicht. Erst, nachdem sie das Chaos der letzten paar Wochen beseitigt hat. Ihre Brüder werden ohnehin schon sauer genug sein; das Letzte, was sie brauchen, ist, dass auch noch Loyal vorbeikommt und alte Wunden wieder aufreißt.
Plötzlich ist...