E-Book, Deutsch, Band 7, 512 Seiten
Reihe: Die Memory-Man-Serie
Baldacci Long Shadows
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-31636-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 7, 512 Seiten
Reihe: Die Memory-Man-Serie
ISBN: 978-3-641-31636-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
David Baldacci, geboren 1960 in Virginia, arbeitete lange Jahre als Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist in Washington, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sämtliche Thriller von ihm landeten auf der New York Times-Bestsellerliste. Mit über 150 Millionen verkauften Büchern in 80 Ländern zählt er zu den beliebtesten Autoren weltweit.
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2
Decker schwang seine großen Füße auf den kalten Holzboden. »Weißt du was, Mary. Ich mach mich auf den Weg zu dir. Ich wollte dich sowieso mal wieder besuchen. Ist viel zu lange her.«
»Ja, es ist wirklich eine Weile her. Das alles hier dauert ohnehin schon viel zu lange … die Quälerei … für . Für .«
Decker richtete sich auf und schaute zum Fenster, von wo ihm die Lichter der Stadt träge zuzwinkerten. »Wie meinst du das, Mary? Ich fürchte, ich bin noch nicht ganz wach.« Doch er wusste, dass er log: Das Problem war, dass Mary in Rätseln sprach.
»Es ist furchtbar … mit meiner Verwirrtheit, meine ich. Ich hasse es.«
»Ich weiß, Mary. Und ich würde dir so sehr wünschen, dass du es nicht durchmachen musst.« Er hielt inne und versuchte, Worte des Mitgefühls zu finden. Früher, in der Zeit vor seinem Sportunfall, wäre ihm das nicht schwergefallen. Doch seit damals fehlte ihm in den meisten Situationen das Gespür, sich in andere Menschen hineinzufinden. »Wenn man es bloß heilen könnte.«
»Kann man aber nicht. Genauso wenig wie das, was du hast, Amos.« Es schien Mary ein wenig Trost zu spenden, dass es eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen gab. Dass sie beide an einer Veränderung des Gehirns litten, die wiederum eine Veränderung ihrer Persönlichkeit bewirkt hatte, sodass ihrer beider Leben so sehr auf den Kopf gestellt worden war, dass sie aller Voraussicht nach daran sterben würden.
»Ja, in der Hinsicht sind wir uns ähnlich«, pflichtete Decker ihr bei.
»Trotzdem gibt es einen großen Unterschied«, entgegnete Mary in einem Tonfall, den er nicht von ihr gewohnt war. Sie klang auf seltsame Weise fest und entschlossen, wie ein Mensch, der sich von niemandem mehr etwas sagen ließ.
Decker wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, also schwieg er, saß auf dem Bett und lauschte ihren Atemzügen. In der einsetzenden Stille spürte er, wie sich irgendetwas zusammenbraute. Es fühlte sich an wie eine plötzliche, drückende Gewitterschwüle, bevor die ersten Blitze zuckten.
Decker wollte etwas sagen, doch Mary kam ihm zuvor.
»Verändert es dich immer noch?«, fragte sie.
Er wusste, was sie meinte. »Ich glaube schon. Andererseits verändert sich unser aller Persönlichkeit mit den Jahren, ob auf normale Weise oder nicht … was immer sein mag.«
»Aber du bist der Einzige, den ich kenne, der vielleicht verstehen kann, wie es mir geht.«
Er hörte ein klatschendes Geräusch, als würde sie sich selbst ins Gesicht schlagen, um das zu vertreiben, was sie nach und nach umbrachte. Verzweifelt suchte er nach Worten, um das Gespräch nicht abreißen zu lassen.
»Hast du nicht gesagt, dass du Therapiestunden nimmst, Mary? Mir hat es geholfen. Es würde auch dir guttun.«
»Ich habe eine Therapie gemacht, hab aber damit aufgehört.«
»Warum?«, fragte er mit wachsender Beunruhigung.
»Sie haben mir alles gesagt, was ich wissen musste. Danach wäre es nur noch Zeitverschwendung gewesen. Und ich habe keine Zeit zu verschwenden, keine einzige Sekunde.« Der Fluch hing in der Luft wie Pulverrauch nach dem Abfeuern einer Waffe.
Mit einem Mal fröstelte Decker. »Bitte, Mary, sag mir, was los ist. Ich spüre doch, dass irgendwas nicht stimmt.«
»Heute habe ich Sandy vergessen«, brach es aus ihr heraus, scharf wie ein Pistolenschuss. »Kurz bevor sie und Earl nach Cleveland gefahren sind. O Gott, Amos, ich habe meine eigene Tochter vergessen!«
»Es passiert jedem mal, dass man einen Namen vergisst, Mary«, erwiderte Decker beinahe erleichtert, denn mit etwas Ähnlichem hatte er gerechnet. Nicht aber mit dem, was Mary als Nächstes sagte.
»Ich habe nicht ihren Namen vergessen. « Es folgte eine längere Pause. Decker hörte ihr Atmen, dann einen Schluchzer, trocken und erstickt.
»Du meinst …«, setzte Decker an.
Sie sprach weiter, als hätte sie ihn gar nicht gehört. »Erst kurz bevor ich dich angerufen habe, ist mir wieder eingefallen, wer sie ist. Und das auch nur, weil ich auf ein Foto mit ihrem Namen geschaut habe. Ich hatte vergessen, dass ich eine Tochter habe, Amos. Eine Zeit lang gab es für mich keine Sandy Lancaster mehr. Kannst du dir vorstellen, wie furchtbar das ist?«
Er glaubte die Tränen zu sehen, die ihr über die Wangen liefen.
»Ich war kurz davor, sie für immer zu verlieren. Mein eigenes Kind, Amos.«
»Ich komme zu dir, Mary. Du solltest jetzt nicht allein sein. Ich verstehe nicht, dass Earl weggefahren ist, ohne …«
Sie ließ ihn nicht ausreden. »Earl weiß nicht, dass ich alleine bin. Er hätte es niemals zugelassen. Er achtet immer sehr darauf, dass jemand bei mir ist.«
Decker erhob sich vom Bett und stand starr vor Sorge da. Als Mary fortfuhr, klang ihre Stimme beinahe triumphierend. Er spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach.
»Und jetzt bist du ganz allein? Ist die Betreuerin vom letzten Mal nicht da?«
»War sie, aber ich habe sie nach Hause geschickt.«
Er konnte es nicht glauben. »Was hast du zu ihr gesagt? Sie hätte dich nie allein gelassen …«
»Ich habe eine Waffe, Amos. Meine alte Dienstpistole. Ich habe sie lange nicht mehr hervorgeholt, aber sie liegt immer noch gut in der Hand. Ich konnte mich sogar an die Kombination des Waffentresors erinnern – ist das nicht unglaublich? Und das, nachdem ich fast alles vergessen habe. Ich glaube, das muss … ein sein.«
Jeder Muskel in Deckers Körper spannte sich an. »Warte, Mary. Tu nichts Unüberlegtes.«
»Kaum hatte ich die Pistole auf sie gerichtet, war sie aus der Tür raus. Das war eben erst, kurz bevor ich dich angerufen habe. Ich hab sie mit der Waffe in der Hand geweckt. Du glaubst nicht, wie schnell jemand wach ist, wenn er in die Mündung einer Pistole schaut.«
Decker war plötzlich so wach wie nie zuvor in seinem Leben. Er schaute sich verzweifelt um, als suchte er in den Schatten nach den richtigen Worten. »Hör zu, Mary, leg die Waffe weg. Bitte. Dann setz dich hin, mach die Augen zu und atme tief durch. Ich schick dir in zwei Minuten jemanden vorbei. In Minute. Nur eine Minute, dann ist jemand da, der dir hilft. Bleib dran, hörst du? Ich mache nur einen kurzen An…«
Sie hörte gar nicht zu. »Ich habe meine Tochter vergessen. Ich habe Sandy vergessen.«
»Ja, aber dann hast du dich wieder an sie erinnert. Nur das ist wichtig. Das ist … du musst …«
Decker fasste sich an die Brust. Sein Atem ging schwer, und sein Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren. Er spürte ein Stechen in der Seite, als wäre er eine lange Strecke gerannt, obwohl er keinen Schritt getan hatte. Übelkeit stieg in ihm auf, und die Knie wurden ihm weich. Er fühlte sich hilflos, ohnmächtig.
Er überlegte fieberhaft. Die Betreuerin hatte wahrscheinlich die Polizei verständigt. Bestimmt war schon jemand unterwegs.
»Was wird morgen sein?«, riss Mary ihn aus seinen Gedanken. »Werde ich mich morgen noch an Sandy erinnern können? Oder an Earl? An dich? Oder an … mich selbst? Kann man so leben? Kannst du mir das sagen?«
»Mary, hör zu …«
»Sie hat so geweint, mein Mädchen. ›Mommy kennt mich nicht mehr‹, hat sie gesagt. Sie war furchtbar traurig, so todunglücklich, dass ich sterben wollte. habe ihr das angetan. Meinem kleinen Mädchen. Wie kann man jemandem, den man liebt, so wehtun?« Ihr Tonfall war so hart, so vernichtend, dass ihm das Blut in den Adern gefror.
»Bitte, Mary, hör mir zu. Alles wird wieder gut. Ich helfe dir. Aber zuerst musst du die Pistole weglegen. Jetzt. Sofort.« Decker stützte sich an der Wand ab. Er stellte sich die Waffe in Marys Hand vor. Vielleicht starrte sie auf die Pistole und überlegte, was sie tun sollte.
Der Boden unter seinen Füßen schien zu schwanken, als wäre er auf einem Schiff auf stürmischer See. Er suchte nach den richtigen Worten, um sie von dem Abgrund wegzuziehen, an dem sie stand. Um sie dazu zu bringen, die kleine Automatikpistole wegzulegen, mit der sie, wie er wusste, als Polizistin mindestens einen Menschen erschossen hatte.
Decker überlegte fieberhaft. Wenn er die richtigen Worte fand, würde die bedrohliche Situation sich in Luft auflösen. Er wollte etwas sagen, irgendetwas, wollte Mary überzeugen, Hilfe anzunehmen. Plötzlich glaubte er zu wissen, wie er sie überreden konnte, die Waffe wegzulegen.
Doch bevor er auch nur ein Wort hervorbrachte, hörte er das Geräusch, von dem er sehnlichst gehofft hatte, es niemals hören zu müssen.
Den peitschenden Knall eines Schusses, der – wie er Mary Lancaster kannte – mit größter Sorgfalt und Präzision abgefeuert worden war. In die Schläfe, unter das Kinn oder in den Mund. Jede dieser Optionen würde den Zweck erfüllen.
Dann der dumpfe Aufprall, als Marys Körper zu Boden fiel.
Decker wusste, dass sie tot war. Mary hatte immer ganz genau gewusst, was sie tat, hatte immer konsequent und zielgerichtet gehandelt. Eine Frau wie Mary Lancaster würde genauso effizient handeln, wenn es darum ging, sich das Leben zu nehmen.
»Mary? brüllte er ins Handy. Als keine Antwort kam, verpuffte seine Energie.
Er lehnte sich an die Wand, ließ seinen massigen Körper zu Boden sinken. Und verharrte so reglos wie Mary Lancasters Leichnam in ihrer...