E-Book, Deutsch, 622 Seiten
Ball China Run - Kalte Jagd
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96655-382-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller | Eine Mutter kämpft um das Leben ihres Kindes
E-Book, Deutsch, 622 Seiten
ISBN: 978-3-96655-382-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
David Ball wurde 1949 in Denver, Colorado geboren und ist ausgebildeter Journalist. Statt einer Tätigkeit als Reporter nachzugehen beschloss David Ball die Welt zu bereisen - bisher hat David Ball 65 Länder besucht und die Sahra viermal durchquert. Seine Romane sind in 11 Sprachen weltweit übersetzt worden. Von David Ball erscheinen bei dotbooks die historischen Romane »Asha, Sohn von Malta«, »Ikufar, Sohn der Wüste« sowie sein Thriller »China Run«
Weitere Infos & Material
Eins
Suzhou
Provinz Jiangsu
Volksrepublik China, Mai 1996
Es fing an wie immer in ihrem Albtraum, genauso wie es schon einmal angefangen hatte. Es klopfte an der Tür.
Allison Turk rührte sich kaum in ihrem Bett. Noch fünf Tage nach der Ankunft in China litt sie unter dem Jetlag. Ihr Körper war völlig durcheinander, und jetzt war sie in den Tiefschlaf der Erschöpfung gefallen. Dann fing das Baby leise an zu schreien, und Allison schrak auf der Stelle hoch. Blinzelnd versuchte sie, einen klaren Kopf zu bekommen. Hatte sie etwas gehört, bevor Wen Li geschrien hatte? Es war dunkel im Zimmer, die Vorhänge waren zugezogen.
Es war eine schwere Nacht gewesen. Sie hatte versucht, dem Baby die Fingernägel zu schneiden, und dabei ein Stückchen Haut vom Finger abgeschnitten. Wen Li blutete, aber es war Allison, die weinte; sie kam sich dumm und ungeschickt vor und konnte sich nicht vorstellen, dass sie je eine gute Mutter sein würde. Und als sie dann im Badezimmer auf dem Boden gesessen und sich bemüht hatte, die Wunde zu verbinden – die nicht besonders schlimm war, aber für ihre furchtsamen Augen schrecklich aussah –, war Wen Li ihr vom Schoß gefallen und hatte sich den Kopf an der Badewanne gestoßen, und sie hatten beide vor Schmerzen geweint. Zu allem Überfluss hatte Wen Li Fieber und Ausschlag bekommen und deshalb ein paar unruhige Stunden verbracht. Das Fieber war rasch wieder vergangen, aber trotzdem war Allison alle zwanzig Minuten aufgestanden, um zu sehen, ob alles in Ordnung war und das Kind noch atmete. Erst um drei war sie in einen unruhigen Schlaf versunken.
Es klopfte noch einmal. Schneller. Beharrlich.
Allison warf die Bettdecke zurück und richtete sich auf. Die Wolldecke im Kinderbettchen war zusammengeknüllt, und sie sah nur ein Büschel dunkles Haar und einen winzigen nackten Arm, der um Pu geschlungen war. Wen Li hatte den Bären nicht losgelassen, seit sie einander kannten. Allison sah hin, bis die Decke sich beinahe unmerklich bewegte. In der anderen Hälfte des Doppelbetts lag Tyler und schlief so regungslos, wie es nur Neunjährige können. Es würde eher ein Erdbeben als ein Klopfen an der Tür erfordern, um ihn vor zehn Uhr zu wecken.
Sie zog ihren Bademantel an, ging durch das Zimmer und griff nach dem Türknopf, als es erneut klopfte. Sie öffnete die Tür und zog sich den Bademantel fester um die Schultern. Draußen stand Nash Cameron, einer der Väter aus ihrer Gruppe, die hergekommen war, um Kinder zu adoptieren. Er war schroff und aggressiv. Seiner Frau Claire gegenüber benahm er sich kalt, und selbst die neue Tochter, Katie, behandelte er scheinbar gleichgültig. Er begrüßte sie nicht und wartete auch nicht, bis sie etwas sagte.
»Es gibt ein Problem. Könnte schlimm sein. Wir treffen uns in meinem Zimmer.«
Allison blinzelte und bemühte sich, wach zu werden. »Was? Was heißt das? Treffen? Wieso treffen ...«
Aber er ließ sie nicht ausreden, sondern wandte sich abrupt ab und lief eilig den halbdunklen Korridor hinunter. »Beeilen Sie sich!«, drängte er sie. Vor Ruth Pollards Zimmer blieb er stehen und klopfte wieder. Ruth gehörte auch zu den frisch gebackenen Adoptiveltern. Ihr Baby war wunderschön, winzig und zerbrechlich. Sie hieß Tai. Ruth nannte sie nur »Küken«.
Allison schloss die Tür. Sie bekam Angst. Von Anfang an hatte sie befürchtet, dass etwas schief gehen würde. So viel konnte passieren, genau wie schon einmal ... Gewaltsam verdrängte sie den Gedanken. Hastig zog sie ihren Jogginganzug über und fragte sich, ob sie Tyler und Wen Li wecken und mitnehmen sollte. Sie hatte sie noch nie allein gelassen. Sie warf einen Blick auf die Uhr: kurz nach sieben. Das Zimmer der Camerons war nebenan. Sie beschloss, die Kinder schlafen zu lassen. Rasch schrieb sie einen Zettel für Tyler, damit er wusste, wo sie war, und stellte ihn aufrecht auf den kleinen Schreibtisch.
Am Waschbecken wusch sie sich den Schlaf aus den Augen und bürstete sich das Haar. Dabei betrachtete sie sich im Spiegel. Die dunklen Ringe unter den Augen ließen die Strapazen der Reise erkennen. Ihr Gesicht war verquollen. Sie sah furchtbar aus. Zu viele Flugzeuge, zu viele Busfahrten, zu viel Stress. Sie zuckte mit den Schultern. Nichts zu machen. Sie konnte wieder zu sich kommen, wenn sie in Denver wäre, und wenn Marshall da wäre, um ihr zu helfen.
Sie schloss die Tür leise hinter sich und steckte die kleine Plastikkarte ein, die als elektronischer Schlüssel diente. Die Chinesen hatten sie mit ihren modernen Hotels überrascht. Sie hatte hier eher so etwas wie Dietriche erwartet. Aber vieles an China war überraschend gewesen.
Die Tür zum Zimmer der Camerons stand offen. Allison klopfte leise und trat ein. Das kleine Zimmer war überfüllt; die fünf anderen amerikanischen Familien, die hergekommen waren, um chinesische Kinder zu adoptieren, waren schon da. Den größten Teil der Reise von den Vereinigten Staaten hierher hatten sie zusammen unternommen, und sie hatten ihre Babys alle im selben Waisenhaus abgeholt. In einem betäubenden Nebel aus endlosen Tagen hatten sie Flugzeuge und enge Busse miteinander geteilt, Windeln und Geschichten von ersten Zähnen und Tipps über chinesische Mikroben. Die meisten waren keine Freunde, sondern unfreiwillige Reisegefährten, die aus ihrer Gesellschaft das Beste machten und jetzt nur noch die Tage zählten, bis sie in die Vereinigten Staaten zurückkehren und ihr eigenes, privates Leben mit ihren Babys beginnen könnten.
Claire Cameron saß auf einem Stuhl neben dem Kinderbett, in dem ihre neue Tochter Katie schlief. Sie war eine stille Frau, die ganz und gar unter der Fuchtel ihres Mannes stand. Wenn sie sprach, dann nur, um sich über das Hotel, die Straßen und die Märkte zu beklagen – und über die Tatsache, dass so wenige Chinesen genügend gute Manieren hatten, um Englisch zu sprechen. Sie hatte geweint. Ruth Pollard saß auf dem Bett und hielt ihre Tochter Tai im Arm, die noch schlief. Ruth hatte keinen Partner; sie war allein nach China gereist und hatte auch die Absicht, Tai allein großzuziehen. Dazu brauchte man Mumm, Energie und ein gewisses Maß an Wahnsinn. Allison mochte sie gern. Neben Ruth saßen Wally und Ruthann Jackson. Allison kannte sie als bibelfromme Christen aus Montana, harmlos genug, aber auch lästig mit ihren ständigen Predigten, vor allem, wenn sie sich damit an die Chinesen wandten, die darauf mit angestrengter Höflichkeit reagierten. Barry und Ceil Levin vertrieben Reinigungs- und Körperpflegeprodukte; sie waren aus Minnesota, sprachen wenig und blieben meist für sich. Roger und Cindy Lawton waren Rancher aus East Texas. Er war ein bigotter Langweiler voller Gehässigkeit.
Die Anspannung im Zimmer war mit Händen zu greifen; die Leute waren müde und besorgt wegen dieser plötzlichen Zusammenkunft. Nash schloss die Tür hinter Allison und wandte sich dann der Gruppe zu.
»Yi Ling hat mich vor zwanzig Minuten angerufen und darum gebeten, dass wir uns alle hier versammeln«, sagte er. Yi Ling war ihre chinesische Dolmetscherin und Reisebegleiterin. Sie hatte jeden ihrer Schritte begleitet, hatte sie am Flughafen abgeholt und dann für sie übersetzt und verhandelt und ihnen in einem Land geholfen, in dem sie ohne Hilfe nicht einmal das Badezimmer finden konnten. Sie war wunderbar gewesen. »Der Direktor des Waisenhauses hat sie gestern am späten Abend angerufen. Er hatte eine Unterredung mit einem Provinzbeamten. Ich habe nicht genau verstanden, was das für ein Beamter war. Jemand vom Ministerium für Verwaltungsangelegenheiten, glaube ich.
Jedenfalls teilte er ihr mit, dass ihnen bei unseren Babys ein Irrtum unterlaufen sei.«
Getöse brach aus, und alle redeten durcheinander. »Was heißt das, ein Irrtum? Noch so eine gottverdammte Panne? Was ist es denn diesmal für ein Irrtum?«, fragte Roger Lawton. Nash winkte ungeduldig ab und wies Fragen zurück, auf die er keine Antworten wusste.
»Ich bin nicht sicher. Es hatte wohl etwas damit zu tun, dass Familien der Kategorie Für besondere Bedürfnisse gesunde Babys bekommen hätten.«
Allison hielt den Atem an. Es stimmte, es gab entsprechende Vorschriften der chinesischen Behörden. Sie hatte ein Kind mit irgendeinem Handicap erwartet – ein Kind mit einem Herzgeräusch, einem Bruch, oder einfach ein größeres Kind, das schon laufen konnte, aber nicht einen kerngesunden Säugling. Nach chinesischem Recht mussten Adoptiveltern mindestens fünfunddreißig Jahre alt sein und durften keine anderen Kinder haben, wenn sie für ein gesundes Baby in Frage kommen wollten. Alle anderen konnten nur Kinder mit besonderen Bedürfnissen bekommen. Aber diese Vorschriften wurden locker gehandhabt, und es gab so viele Babys, die Adoptiveltern brauchten, dass aus irgendeinem Grund alle in der Gruppe ein gesundes Kind bekommen hatten. Selbstverständlich hatte keiner von ihnen Fragen gestellt, und auf der Reise war das Thema nicht zur Sprache gekommen.
Die Chinesen hatten Wen Lis Untersuchungsbericht sechs Wochen zuvor an Allison und Marshall geschickt und ein kleines Foto von einem verwirrt aussehenden Winzling dazugelegt. Das war alles, was Allison in der Hand gehabt hatte, alles, was sie über ihr neues Baby wusste. Sie und Marshall hatten die Entscheidung zur Adoption auf der Grundlage eines Fotos und eines dreißig Zeilen langen Untersuchungsbefundes treffen müssen. Allison hatte Dutzende von Vergrößerungen des Fotos anfertigen lassen und sie aufgeregt an jeden geschickt, den sie kannte. Und sie hatte den Befund hundertmal gelesen. Größe: 60 cm. Gewicht: 5,9 kg. Augen, Ohren, Hals: unauffällig. Zähne: keine. Lippen und Gaumen: unauffällig. Herz, Lunge, Nieren, Milz ...
In diesem trockenen Stil...