E-Book, Deutsch, 1162 Seiten
Ball Ikufar - Sohn der Wüste
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96655-400-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 1162 Seiten
ISBN: 978-3-96655-400-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
David Ball wurde 1949 in Denver, Colorado geboren und ist ausgebildeter Journalist. Statt einer Tätigkeit als Reporter nachzugehen beschloss David Ball die Welt zu bereisen - bisher hat David Ball 65 Länder besucht und die Sahra viermal durchquert. Seine Romane sind in 11 Sprachen weltweit übersetzt worden. Von David Ball erscheinen bei dotbooks die historischen Romane »Asha, Sohn von Malta«, »Ikufar, Sohn der Wüste« sowie sein Thriller »China Run«
Weitere Infos & Material
Kapitel 2
Er war vom Himmel zu ihr heruntergefallen.
Henri hatte den Ballon im Dorf Bou Saada aufsteigen lassen, um den Winden zu folgen, die über das Hochplateau wehten, an der Bergkette des Atlas entlang, parallel zur nordafrikanischen Küste – Winden, so hoffte er, die ihn nach Marokko bringen würden. Er und Gascon hatten seit Wochen auf die richtigen Bedingungen gewartet, hatten jeden Tag prüfend zum Himmel geschaut, und jeden Tag hatten sie sich enttäuscht wieder abgewandt. Es hatte keinen Wind gegeben, nur äußerste Stille. Geduldig hatten sie sich um ihren Proviant gekümmert und ihre Ausrüstung erprobt, hatten alles untersucht und wieder untersucht, um sicher zu sein, daß es bereit war. Obwohl Henri nicht damit rechnete, länger als ein paar Tage in der Luft zu bleiben, war der Ballon mit Wasser und Lebensmitteln für zwei Wochen ausgerüstet. Er war ein Abenteurer, aber er war niemals leichtsinnig oder unbedacht.
Und dann endlich trat er eines Morgens hinaus, und eine kräftige Brise zerzauste ihm das Haar, und da wußte er, daß es soweit war. Er und Gascon eilten zu dem Platz, an dem ihr Luftschiff wartete. Sie füllten den Ballon zum Entzücken der erstaunten Araber, die in neugierigen Scharen jeden Tag gekommen waren, um sie zu beobachten, und die nun im Kreis hockten und Tee tranken und laut schwatzten, während die Seide sich hochwölbte und an den Leinen zerrte, die sie am Boden hielten. Endlich war das Ungetüm bereit. Henri und Gascon kletterten in den Korb, sehr zur Bestürzung des französischen Präfekten des Distrikts, der Henri im Laufe der Wochen ein dutzendmal – höflich selbstverständlich, denn schließlich gehörte der Mann ja zum Adel des Reiches – daran erinnert hatte, daß er ein großer Narr sei. Der Präfekt war außer sich vor Sorge, daß der Graf von seiner Präfektur aus in Algerien verlorengehen könnte. Es war Wahnsinn! Kein Europäer hatte je etwas Derartiges versucht. Die Fragen aus Paris würden kein Ende nehmen. Deshalb hatte er den Grafen beschworen: Konnte man die Reise nicht in Algier beginnen? Oder in Ain Sefra? Würde es seinen Bedürfnissen nicht genügen, wenn er mit dem Kamel nach Marokko reiste? Aber der Graf wollte nicht hören, und der Präfekt war niedergeschlagen und trank zuviel Absinth und sah seine Karriere vor sich, wie sie mit dem Ballon davonschwebte. Beschwörend spähte er ein letztes Mal zu Henri hinauf, als dieser die Halteleinen loswarf.
»Sie werden sterben!« weissagte er mit würdigem Ernst, als der Ballon sich von seinem Ankerplatz erhob.
»Aber nicht heute!« rief Henri fröhlich zurück, und dann winkte er zum Abschied und war verschwunden.
Er gewann schnell an Höhe und ließ die Scharen von Arabern dort unten zurück. Als der magische Aufstieg begann, stieß die Menge einen mächtigen Schrei des Beifalls und des Entzückens aus. Lautlos bewegte der Ballon sich nach Westen. Henri und Gascon sahen, wie die Menschen auf den Feldern winzig wurden, wie ihre Esel sich in Spielzeug verwandelten und ihre Häuser in kleine Schachteln. Wenn der Schatten des Ballons über sie hinwegzog, schauten die Leute hoch, und dann gerieten sie jedesmal in Aufruhr. Großes Geschrei erhob sich, manchmal von Schrecken, manchmal von Staunen erfüllt; der Ballon war zu hoch, als daß Henri und Gascon etwas hätten hören können, aber sie sahen, wie die kleinen, an die Erde gefesselten Leute gestikulierten und winkten und auf ihren Eseln im Kreis herumritten und zum Himmel deuteten. Manche verfluchten die Erscheinung, andere tanzten vor Freude, und wieder andere sanken betend auf die Knie.
Einige Stunden lang verlief alles reibungslos. Sie sahen Djelfa, dann Aflou und Ain Madhi und markierten alles auf ihrer Karte. Sie richteten sich in der ruhigen Tätigkeit des Ballonfahrens ein, betrachteten ehrfürchtig die unter ihnen vorüberziehende Landschaft und markierten Seen und Wasserläufe, die sie sahen, auf den Landkarten, die sie bei sich hatten; sie identifizierten Tiere, Vögel und Bäume und kümmerten sich um Schlepptau, Korbseile und andere Ausrüstungsteile des Ballons. Penibel registrierte der Graf die atmosphärischen Bedingungen, Windgeschwindigkeiten und Luftströmungen sowie Schwankungen von Temperatur und Druck während der Fahrt. Der Himmel war wolkenlos, so weit das Auge reichte, makellos und tiefblau. Aber am späten Nachmittag wechselte der Wind die Richtung und schwenkte nach Norden; kaum merklich erst, aber doch immer kräftiger trieb er sie auf die Berge zu, und bald würde er sie hinüberschieben.
»Wir müssen eine Entscheidung treffen, Gascon«, sagte Henri. »Wir können weiter in diese Richtung fahren«, er deutete nach Süden ins Unbekannte, »oder wir setzen ihn auf dieser Seite auf den Boden und warten auf sicheren Wind.«
Gascon spähte über die Berge hinweg. Er war schon seit Jahren bei dem Grafen und brauchte nicht erst zu fragen, was dieser gern tun würde. Es gefiel ihm, daß sein Herr ihn nach seiner Meinung fragte und ihn eher wie einen Gleichrangigen denn wie einen Diener behandelte. In dieser Hinsicht war der Graf anders als alle andern: Andere vornehme Leute pflegten einfach zu befehlen oder zu fordern. Der Graf pflegte zu fragen, auch wenn er es nicht mußte. Für Henri de Vries hätte Gascon alles getan, und mehrmals war er kurz davor gewesen, sein Leben für ihn zu lassen. Aber seine Loyalität war auch stets großzügig erwidert worden.
An jenem Tag, hoch über den Bergen des Atlas, war die Entscheidung nicht schwierig. Er teilte die Abenteuerlust des Grafen, und sie waren gut ausgerüstet. Er hatte keine Familie, nichts, was ihn zurückgehalten hätte.
»Durch Landen haben wir noch nie etwas herausgefunden, Monsieur«, antwortete Gascon.
Henri lächelte. »Ich hatte gehofft, daß du das sagen würdest.«
»Ja, Monsieur. Das weiß ich.«
»Alors, dann brauchen wir mehr Höhe.« Gascon warf Ballast ab, und der Ballon schwebte empor, wo die entgegenkommenden Winde seine Geschwindigkeit vergrößerten und sie über den Atlas trugen, hinweg über den Djebel Amour und weiter ins Unbekannte. Der Übergang war verstörend in seiner Intensität – als habe jemand eine mächtige Linie gezogen zwischen den grünen, fruchtbaren Nordhängen des Atlas und den rötlichbraunen Felsen und kargen Ausläufern auf der Südseite. Die Berge flachten zu einem Plateau ab, das Plateau wurde unversehens zu einer leuchtend goldenen Dünenkette. So schwebten sie zwischen Himmel und Erde, den Wind im Rücken, die Weite der Sahara vor sich. Sie aßen Dörrfleisch, tranken aus ihren Wasserflaschen und ließen die Welt lautlos unter sich hinwegziehen. Die Karten, die sie bei sich hatten, waren halbwegs akkurat bis zu den Bergen, denn Tausende von Franzosen hatten diese Gegend erforscht und sich dort angesiedelt. Aber nur wenige Europäer hatten sich über das Gebirge hinweg nach Süden vorgewagt, und noch weniger waren von dort zurückgekehrt. Es gab tausend Legenden, aber wenige verläßliche Erkenntnisse über das, was in dieser gewaltigen Region lag, die bei den Arabern im fruchtbaren Norden nur das Land des Durstes und der Angst hieß. Es war das Land der unzähligen Geschichten, in das sie da schwebten, bewohnt von einem geheimnisvollen Volk von Riesen, wie man erzählte. Die Araber nannten sie Tuareg, die Verstoßenen Gottes, das Schleiervolk, und wenn sie von ihnen redeten, so taten sie es mit einer Mischung aus Angst, Grauen und Bewunderung. Man kannte sie als vorzügliche Kämpfer; sie waren die Herren der Wüste und beherrschten die großen Karawanenstraßen mit ihrem niemals versiegenden Strom von Salz, Sklaven und Gold.
So schwebten sie den Legenden entgegen, die vor ihnen lagen, und als die Sonne zum Horizont sank, erlebten sie Sonnenuntergang und Mondaufgang gleichzeitig. Es verschlug ihnen den Atem, als der Mond voll, golden und prächtig heraufkam, während die Sonne rot lodernd in den sandigen Dunst am Horizont eintauchte. Wie gebannt standen sie im Korb und schauten von Horizont zu Horizont, um nicht einen Augenblick von all dem zu verpassen.
Henri besaß einen Messingsextanten aus London, den er in einer verschlissenen Ledertasche mit sich herumtrug. Damit bestimmte er jetzt ihre Position; sorgfältig visierte er die Sterne an, während die Dämmerung zur Nacht wurde. Er verzeichnete seine Berechnungen auf dem Spezialpapier, das er mitgebracht hatte, um Karten darauf anzufertigen. Der Mond schien so hell, daß er das Licht der kleinen Gaslaterne am Boden des Korbes kaum benötigte. Sie konnten die Wüste unter sich fast so klar und deutlich sehen wie tagsüber. »Wir sind hier«, sagte Henri und zeigte Gascon die Koordinaten, die er auf dem Papier mit einem kleinen x markiert hatte. »Wo immer ›hier‹ auch sein mag.«
Als er mit seiner Arbeit fertig war, zog Henri eine kleine Flöte aus der Tasche, ein hölzernes Instrument, das er irgendwo auf einem Markt gefunden hatte. Er besaß keine musikalische Ausbildung, aber er hatte ein gutes Ohr und konnte nachspielen, was er gehört hatte. Manchmal erfand er auch selbst eine Melodie, die zu seiner Stimmung paßte. An diesem Abend ließ er seine Töne mit dem Ballon durch die Luft schweben, samtene Klänge, in denen die Freiheit und die Ruhe ihrer Reise eingefangen waren und die auf die schlafende Wüste unter ihnen hinabsanken. Gascon lehnte sich zufrieden in die Seile und lauschte mit geschlossenen Augen.
Die Nacht hindurch wechselten sie sich ab; der eine schlief, während der andere ein wachsames Auge auf ihr Fortkommen hatte. Es war eine Nacht des Friedens und der Ehrfurcht, in der die mondbeschienene Erde unter ihnen vorüberzog. Die Luft war kalt und frisch, und sie kauerten sich unter schweren Mänteln zusammen. Als die Morgensonne aufging, beschien sie Dünen, die so sattgolden leuchteten wie der Mond. Die der Sonne...