E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Barnhill Das Mädchen, das den Mond trank
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7336-5063-6
Verlag: FISCHER Sauerländer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-7336-5063-6
Verlag: FISCHER Sauerländer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kelly Barnhill erhielt für ihre Kinderbücher bereits zahlreiche Auszeichnungen, für »Das Mädchen, das den Mond trank« neben vielen Leserpreisen auch die renommierte Newbery Medal. Sie lebt in Minnesota mit ihren drei Kindern, ihrem Ehemann, und einem etwas launischen Hund. Sie liebt es zu wandern, ist eine schnelle Läuferin und eine furchtbar schlechte Gärtnerin.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 2, … in dem eine unglückselige Frau den Verstand verliert
Ältestenratsvorsteher Gherland ließ sich Zeit an diesem Morgen. Schließlich war nur einmal im Jahr Tag des Opfers, und Gherland war stets darauf bedacht, für die feierliche Prozession zum Haus der betroffenen Familie wie aus dem Ei gepellt auszusehen. Die anderen Ratsherren hielt er dazu an, es ihm gleichzutun. Es war wichtig, dem Volk etwas zu bieten.
Er tupfte sich sorgfältig Rouge auf die schlaffen Wangen und umrandete seine Augen dick mit schwarzem Puder. Dann überprüfte er seine Zähne im Spiegel auf etwaige Essensreste und sonstige Verunstaltungen. Er liebte seinen Spiegel. Es war der einzige im gesamten Protektorat. Nichts bereitete Gherland mehr Vergnügen, als etwas zu besitzen, das niemand sonst hatte. Er fühlte sich gern wie etwas Besonderes.
Der Ältestenratsvorsteher nannte einige solcher einzigartigen Dinge sein Eigen. Das war einer der Vorzüge seines Amts.
Das Protektorat – von manchen Schilf-Imperium genannt, von anderen Traurige Stadt – lag eingepfercht zwischen einem heimtückischen Wald auf der einen Seite und einem riesigen Sumpf auf der anderen. Die meisten Bewohner des Protektorats verdankten ihr Auskommen dem Sumpf. Sumpfkennern winke eine rosige Zukunft, predigten die Mütter ihren Kindern. Nun ja, oder zumindest eine Zukunft, und das war besser als nichts. Im Frühling strotzte der Sumpf vor jungen Zirintrieben, im Sommer vor Zirinblüten und im Herbst vor Zirinknollen – ganz zu schweigen von einem großzügigen Angebot an Heil- und (mit etwas gutem Willen) magischen Pflanzen, die man erntete, trocknete, bündelte und an die Händler jenseits des Waldes verkaufte, bevor diese die Sumpfprodukte weiter in die Freien Städte transportierten. Der Wald selbst war lebensgefährlich und nur auf der sogenannten »Allee« zu durchqueren.
Die Allee gehörte dem Ältestenrat.
Oder anders ausgedrückt: Die Allee gehörte Ältestenratsvorsteher Gherland, und seine Kollegen durften auch daran teilhaben. Dem Ältestenrat gehörte auch der Sumpf. Und die Obstgärten. Und jedes Haus im Protektorat. Jeder Marktplatz. Bis hin zum letzten kleinen Gemüsebeet.
So kam es, dass die Familien im Protektorat ihre Schuhe aus Schilf fertigten. So kam es, dass sie in mageren Zeiten ihren Kindern zähen Sumpfbrei vorsetzten, in der Hoffnung, dass er sie stark machen würde.
So kam es, dass die Ratsherren und ihre Familien, die von Fleisch, Butter und Bier lebten, die Einzigen waren, die groß und stark und rotwangig wurden.
Es klopfte an der Tür.
»Herein«, murmelte Ältestenratsvorsteher Gherland, der gerade die Falten seiner Robe zurechtzupfte.
Es war Antain. Sein Neffe. Er war Ältestenratsanwärter, wenn auch nur wegen eines Versprechens, das Gherland in einem schwachen Moment der unmöglichen Mutter des beinahe ebenso unmöglichen Jungen gegeben hatte. Obwohl, das war nicht ganz fair. Antain war ein netter Bursche von knapp dreizehn Jahren. Er arbeitete hart und lernte schnell. Er konnte gut rechnen, hatte geschickte Hände und vermochte aus dem Stand, eine Bank für einen müden Ratsherrn zusammenzimmern. Ob Gherland wollte oder nicht, der Junge wuchs ihm immer mehr ans Herz.
Antain hatte Flausen im Kopf. Die wildesten Ideen. Und . Gherland zog die Brauen zusammen. Der Junge war – nun, wie sollte er es ausdrücken? . Wenn das so weiterging, würde er der Sache ein Ende machen müssen, Verwandtschaft hin oder her. Bei dem Gedanken wurde ihm das Herz schwer.
»ONKEL GHERLAND!« In seinem unausstehlichen Enthusiasmus fegte Antain seinen Onkel beinahe von den Füßen.
»Nicht so stürmisch, Junge!«, fuhr der Ältestenratsvorsteher ihn an. »Das hier ist ein ernster Anlass!«
Der Junge riss sich augenscheinlich zusammen und wandte sein vor Eifer glühendes, welpenhaftes Gesicht zu Boden. Gherland widerstand dem Drang, ihm den Kopf zu tätscheln. »Man hat mich geschickt«, fuhr Antain nun mit halbwegs gedämpfter Stimme fort, »um dir zu sagen, dass die anderen Ratsherren bereit sind. Und dass das Volk am Straßenrand versammelt ist. Alle sind gekommen.«
»Alle? Keiner versucht, sich zu drücken?«
»Ich bezweifle, dass das nach letztem Jahr je wieder einer versuchen wird«, entgegnete Antain und erschauderte.
»Zu schade.« Gherland wandte sich wieder dem Spiegel zu und frischte ein letztes Mal das Rouge auf. Er genoss es, den Bürgern des Protektorats hin und wieder eine Lektion zu erteilen. Das schaffte klare Verhältnisse. Stirnrunzelnd betastete er die herabhängende Haut unter seinem Kinn. »Gut, Neffe«, sagte er dann und ließ im Umdrehen gekonnt seine Robe flattern – ein Kunststück, das zu beherrschen ihn mehr als ein Jahrzehnt Übung gekostet hatte. »Dann sollten wir uns sputen. So ein Baby opfert sich schließlich nicht von selbst.« Und schon schritt er würdevoll nach draußen auf die Straße, während Antain hinter ihm herstolperte.
Für gewöhnlich wurde der Tag des Opfers mit der gebotenen Würde und Feierlichkeit begangen. Die Kinder wurden widerstandlos ausgehändigt. Die gramgebeutelten Familien trauerten in aller Stille, während sich in ihren Küchen Eintöpfe und andere nahrhafte Speisen stapelten und die tröstenden Arme der Nachbarn ihr Bestes taten, um den Verlust zu lindern.
Normalerweise brach niemand diese Regeln.
Normalerweise.
Ältestenratsvorsteher Gherland presste die Lippen zusammen. Er hörte das Brüllen der Mutter schon, ehe die Prozession auch nur die betreffende Straße erreicht hatte. Die Bürger am Wegesrand waren unruhig.
Am Haus der Familie angekommen, bot sich dem Ältestenrat ein erstaunliches Bild. Ein Mann mit zerkratztem Gesicht, geschwollener Unterlippe und kahlen Stellen auf dem Kopf, wo ihm offensichtlich büschelweise die Haare ausgerissen worden waren, empfing sie an der Tür. Er versuchte zu lächeln, doch seine Zunge schnellte immer wieder reflexartig an die Stelle, wo bis vor kurzem noch ein Schneidezahn gesessen hatte. Der Mann sog die Lippen ein und vollführte eine kleine Verbeugung.
»Verzeihen Sie, meine Herren«, sagte der Mann, vermutlich der Vater. »Ich weiß gar nicht, was in sie gefahren ist. Es ist, als hätte sie den Verstand verloren.«
Als die Ratsherren das Haus betraten, sahen sie über sich in den Dachbalken eine Frau hocken, die aus voller Kehle heulte und kreischte. Ihr glänzend schwarzes Haar peitschte ihr ums Gesicht wie ein Nest sich windender Schlangen. Einem in die Enge getriebenen Tier gleich fauchte die Frau sie an. Während sie sich mit einem Arm an der Decke festhielt, drückte sie sich mit dem anderen ein Baby an die Brust.
»VERSCHWINDET!«, schrie sie. »Ihr bekommt sie nicht. Schande über eure Namen, soll der Teufel euch holen! Schert euch aus meinem Haus, oder ich reiße euch die Augen aus dem Kopf und werfe sie den Krähen zum Fraß vor!«
Die Ratsherren starrten mit offenen Mündern zu ihr hoch. Sie konnten es nicht glauben. Niemand kämpfte um ein todgeweihtes Kind. Das war einfach nicht üblich.
(Antain fing an zu weinen und gab sich die größte Mühe, es vor den Erwachsenen im Raum zu verbergen.)
Geistesgegenwärtig zwang Gherland einen verständnisvollen Ausdruck auf sein zerfurchtes Gesicht. An die Mutter gewandt hob er die Hände, um zu demonstrieren, dass er ihr nichts Böses wolle. Innerlich jedoch fletschte er die Zähne. All diese Freundlichkeit würde ihn noch ins Grab bringen.
»Armes verwirrtes Mädchen. sind es doch nicht, die dir dein Kind nehmen«, sagte Gherland so geduldig, wie er nur konnte. »Sondern die Hexe. Wir tun bloß, was sie von uns verlangt.«
Die Mutter stieß einen drohenden Laut aus, der tief aus ihrer Brust zu kommen schien, wie das Knurren eines Bären.
Gherland legte dem fassungslosen Ehemann die Hand auf die Schulter und drückte sanft zu. »Mir scheint, du hast recht, mein Freund: Deine Frau hat tatsächlich den Verstand verloren.« Er bemühte sich, seine Wut unter vorgetäuschter Sorge zu verbergen. »Eine äußerst seltene Reaktion, keine Frage, aber nichts, was wir noch nicht gesehen hätten. Jetzt ist Fingerspitzengefühl gefragt. Was deine Frau braucht, sind tröstende Worte, keine Vorwürfe.«
»LÜGNER!«, kreischte die Frau. Das Baby begann zu weinen, und die Mutter kletterte noch höher, bis sie mit den Füßen auf zwei parallel verlaufenden Balken stand, den Rücken an die Dachschräge gepresst, um sich und das Kind außer Reichweite der Männer zu halten. Dann wiegte sie das Baby sanft hin und her. Das kleine Mädchen beruhigte sich sofort. »Wenn ihr sie mir wegnehmt«, knurrte sie, »werde ich sie finden. Ihr werdet schon sehen. Ich werde sie finden und sie zurückholen.«
»Und es mit der Hexe aufnehmen?«, lachte Gherland. »Ganz allein? Ach, du traurige verlorene Seele.« Seine Stimme klang honigsüß, sein Gesicht jedoch war rot wie ein glühendes Stück Kohle. »Dein Kummer hat dir den Verstand geraubt. Aber Kopf hoch. Wir werden alles tun, um dich davon zu kurieren. Wachen!«
Er schnippte mit den Fingern, und ein Trupp bewaffneter Wachen stürmte das Haus. Es war wie immer eine Spezialeinheit der Schwestern des Sterns. Jede von ihnen trug einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken sowie ein kurzes, scharfes Schwert am Gürtel. Ihre langen geflochtenen Zöpfe waren straff um ihre Taillen geschlungen und festgesteckt – ein Symbol für die Jahre, die sie mit Meditation und...




