E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Basile Die wundersame Reise eines verlorenen Gegenstands
Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-641-19502-1
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-19502-1
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit seine Mutter ihn als Kind verlassen hat, lebt der dreißigjährige Michele von der Außenwelt abgeschottet im Bahnhofshäuschen eines verschlafenen, idyllischen Dorfs in Italien. Seine einzige Gesellschaft sind die liegengebliebenen Gegenstände, die er im täglich ein- und ausfahrenden Zug einsammelt und in seinem Zuhause um sich schart. Doch dann begegnet ihm Elena, die sein Leben wie ein Wirbelwind auf den Kopf stellt und ihn aus seiner Einsamkeit reißt. Als er kurz darauf sein altes Tagebuch wiederfindet, das seine Mutter damals mitnahm, als sie aus seinem Leben verschwand, gibt dies den Anstoß für eine wundersame Reise quer durch Italien, die Micheles ganzes Leben verändern wird …
Salvatore Basile wurde in Neapel geboren und lebt heute in Rom, wo er als Drehbuchautor und Regisseur arbeitet. Seit über zehn Jahren lehrt er kreatives Schreiben an der »Alta Scuola in Media Communicazione e Spettacolo dell’Università Cattolica« in Mailand.
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1.
Sie hockten alle zusammen in dem dunklen Zimmer. Es war der letzte Abend im November, und auch heute fuhr der Interregio aus Piana Aquilana – Ankunft 19.45 Uhr – wieder pünktlich auf die Minute in den Bahnhof von Miniera di Mare ein.
Bewegungslos horchten sie auf das Schnaufen der Lokomotive und das metallische Kreischen der Bremsen, die in die Stille des Raums eindrangen. Auch als die Holzbohlen des Fußbodens unter dem Druck der sich festfressenden Bremsen und dem kraftvollen letzten Schnaufer der Maschine erzitterten, verharrten sie unerschütterlich auf ihren Plätzen. Dann war es wieder still.
Später würde sich die Tür der kleinen Wohnung öffnen, und der Mann aus dem Zug würde heimkommen.
Wie jeden Abend.
Die Fahrgäste waren schon dabei auszusteigen. Michele stand auf dem Bahnsteig und sah ihnen nach, wie sie sich in Richtung Ausgang entfernten, um nach Hause zu gehen oder wohin auch immer. Die erwartungsvollen Mienen der Reisenden waren ihm nur zu vertraut, die Art, wie sie sich umsahen, als würden sie zum ersten Mal in die Freiheit hinaustreten, als wäre die allabendliche Heimkehr eine immer wieder neue Erfahrung, ein unerwartetes Wunder.
Auf dem Weg zum letzten Waggon fiel sein Blick auf sein Spiegelbild in einem der Zugfenster. Er blieb stehen, um sein Gesicht zu betrachten: das Gesicht eines jungen Mannes von dreißig Jahren, umrahmt von kastanienbraunem Haar, das an den Schläfen allmählich dünner zu werden begann, und mit Augen, schwarz wie Ölpfützen. Wie immer trug er seine Eisenbahnerjacke, die ihm um die Hüften herum etwas weit zu werden begann.
»Michele …«
Hastig wandte er sich der wohlbekannten Stimme zu. Sie gehörte dem Kontrolleur, der zusammen mit dem alten Lokführer auf ihn zukam.
»Sag mal, du würdest mir nicht zufällig deinen überfälligen Urlaub vermachen? Ich habe gehört, du hast noch viel zu viele Tage übrig. Dann hätte wenigstens einer was davon. Was meinst du?« Im Gesicht des Kontrolleurs prangte ein ironisches, fast schon unverschämtes Grinsen.
Michele nickte kaum merklich und gab ein befangenes Lächeln zurück.
»Was würdest du auch damit anstellen? Du bist doch sowieso immer hier …«, fügte der Lokführer hinzu.
»Er hortet freie Zeit, weißt du das nicht? … Er ist ein Sammler nicht genommener Urlaubstage.«
»Ist ja offensichtlich, dass der Junge nicht gerade ein Genießer ist …«
Hässlich lachend entfernten sich die beiden Richtung Ausgang. Die Bahnstation blieb verlassen zurück.
Michele atmete erleichtert auf: Endlich gehörte der Zug nur ihm allein. Wie jeden Abend. Bis zum nächsten Morgen.
Er öffnete die Tür des letzten Waggons und trat ein. Vor ihm lag eine lange Flucht, die er auch heute wieder abzugehen hatte. Er atmete ein und setzte sich in Bewegung, um seinen abendlichen Kontrollgang zu beginnen, der ihn ans andere Ende des Zugs bis hin zur Lokomotive führen würde.
Wie immer drang ihm gleich zu Anfang der vertraute Geruch nach Metall und dem Kunstleder der Sitze in die Nase. Er liebte diesen Geruch, der immer gleich war und doch jeden Abend anders. Mit ihm verwoben war der Geruch der Fahrgäste, die den Zug tagsüber bevölkert hatten, nach ihren Kleidern, nach dem Essen, das sie verspeist hatten, und nach dem kalten Rauch der Zigaretten, heimlich geraucht an den offenen Fenstern in den Gängen. Und schließlich der Kaffee, der ihren mitgebrachten Thermoskannen entströmt war.
Stille. Eine Stille, die ihm Sicherheit gab. Keine Stimmen, keine Gesichter. Zwar erwarteten ihn neben den Gerüchen auch noch Abfälle und Essensreste, aber immerhin waren die Leute selbst verschwunden. Nur eine leise Ahnung von ihrem fernen, unbekannten Leben war noch in der Stille haften geblieben. Es gab niemanden, der hätte beobachten können, wie er von einem Waggon zum anderen ging, niemanden, der lästige Fragen stellte, niemanden, der ihn in die Verlegenheit brachte, erklären zu müssen, warum er ein so einsames Leben führte.
Sorgfältig prüfte Michele, ob alles in Ordnung war, schloss offen stehende Zugfenster, beseitigte Müll und polierte die verchromten Türgriffe.
Als er die Lokomotive an der Spitze des Zuges betrat, sammelte er ein paar nach Wein riechende Plastikbecher und eine fetttriefende Alufolie ein, um gleich darauf den Rückweg zum letzten Waggon anzutreten. Die letzte Etappe seiner Arbeit, das Abgehen der Sitzplätze, war gleichzeitig die, die er am meisten liebte. Es war, als hätten sich die Umrisse der Fahrgäste in die weichen Sitze gegraben und als könnte er sie nun, im Schutz seiner Einsamkeit, in aller Ruhe inspizieren.
Im dritten Waggon, bei Platz 24, stach ihm etwas ins Auge. Er ging näher heran und spürte diese leichte Erregung, die ihn stets befiel, wenn er auf etwas Außergewöhnliches stieß.
Eine kleine Puppe, etwa so groß wie eine Hand, aus schon etwas mitgenommenem Hartgummi. Sie hatte dicke Pausbacken und große blaue Augen, rund wie zwei Monde. Ihr grünes Kleid war aus grober Baumwolle und mit weißen und gelben Blumen gesprenkelt: Margeriten und Sonnenblumen.
Lächelnd nahm Michele sie an sich.
»Willkommen«, flüsterte er und steckte sie in seine Jackentasche.
Als er kurze Zeit später die Haustür öffnete, war immer noch alles unverändert. Jeder Gegenstand befand sich an seinem Platz.
»Tut mir leid für die Verspätung …«, murmelte er müde und schaltete das Licht an, sodass es im Zimmer plötzlich hell war. Langsam ging er zu einem Tisch in der Mitte des Raums und zog die Puppe aus seiner Tasche.
»Wir haben einen Neuzugang«, verkündete Michele und hielt sie in die Höhe, als wollte er sie den anderen Gegenständen vorführen, die er im Laufe der Jahre im Zug gefunden hatte und die sich auf den Regalen und Tischchen seiner Wohnung aneinanderreihten: Dutzende Regenschirme, jede Menge Stöcke, Brillen und Sonnenbrillen, Bücher, Mützen und Hüte, Armbanduhren, Chromfeuerzeuge, Jacken, Westen und Tücher, Kleidungsstücke in allen Größen, auf Kleiderbügeln und an Garderobenständern, Transistorradios und alte Fotoapparate, ein Tonbandgerät, vier Kassettenrekorder, zwei alte Autoradios, ein Handy mit kaputtem Display, mehrere Wollknäuel mit darin steckenden Stricknadeln, Unmengen von Korkenziehern, ein Boxhandschuh, ein paar Trinkflaschen, eine alte Trompete, Mundharmonikas, Steinschleudern, Spielzeugpistolen, ein Fahrradlenker und zu guter Letzt mehrere Rucksäcke und leere Koffer. Inzwischen waren all diese Dinge ein Teil seines Lebens.
Michele trat näher und legte die Puppe bei den anderen Spielsachen ab, die sich dort angesammelt hatten, darunter ein Teddybär, ein kleiner Holz-Pinocchio, eine einarmige Batmanfigur aus Gummi und ein Roboter. Schweigend betrachtete er die Komposition, dann glitt sein Blick weiter zu einem gerahmten Foto an der Wand: Es zeigte einen Mann von etwa vierzig Jahren mit traurigem Blick, der in einer Eisenbahneruniform steckte. Daneben eine junge Frau mit kastanienbraunem Haar, die einen lächelnden Jungen an der Hand hielt, die Augen schwarz wie zwei Ölpfützen. Das Foto war vor einem kleinen Haus aufgenommen, das auf die Bahnhofsgleise von Miniera die Mare hinausging, dem Licht nach zu urteilen an einem eher wolkigen Herbsttag.
Im Inneren des Hauses, desselben wie auf dem Foto, erklang das Dingdong der kleinen Pendeluhr. Michele fuhr zusammen, drehte sich um und fixierte das Zifferblatt. 20.30 Uhr. Abendessenszeit. Um Punkt 22 Uhr würde er schlafen gehen, um sich am nächsten Morgen um 6.15 Uhr für die Abfahrt des ersten und einzigen Zuges fertig zu machen. Er hatte sein Leben auf den Rhythmus der Bahnstation ausgerichtet, deren einziger Wärter er war. Ein Leben, getaktet nach Abfahrt und Ankunft des Interregio, der Miniera di Mare täglich um 7.15 Uhr verließ und den ganzen Morgen und den ganzen Vormittag seinem Ziel entgegenrollte, um schließlich um 12.45 Uhr in Piana Aquilana anzukommen. Drei Haltestellen waren auf dieser Reise vorgesehen: Solombra Scalo um 7.38 Uhr, Prosseto um 8.15 Uhr und Ferrosino um 9.20 Uhr. Pünktlich um 14.15 Uhr trat derselbe Zug dann die nachmittägliche Rückreise an und traf um 19.45 Uhr wieder in Miniera di Mare ein.
Michele war immer zur Stelle, sowohl, um dem Zug im Morgenlicht nachzublicken, als auch, um ihn bei Sonnenuntergang wieder in Empfang zu nehmen, zumindest im Sommer. Im Winter war es schon dunkel, wenn er abends in die Station einfuhr. Und dann also sein üblicher Kontrollgang. Wohltuende Routine.
Er ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm zwei Eier und einen Teller mit bereits vorgegartem Spinat heraus. Er stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd und gab einen halben Würfel Gemüsebrühe hinzu.
Dann breitete er eine Tischdecke über dem Küchentisch aus, holte den Teller mit dem Spinat, ein Glas und eine Flasche Mineralwasser, um dann noch eine Papierserviette sowie Gabel und Löffel dazuzulegen.
Er schlug die beiden Eier in einer Schüssel auf, salzte sie und verrührte sie mit einer Gabel. Anschließend ließ er sie in die kochende Brühe einlaufen.
Er rechnete mit drei Minuten Kochzeit, bis die Stracciatella schön weich würde und nicht zu viel von der Brühe verdampfte.
Während er den Eiern beim Gerinnen zusah, geschah etwas gänzlich Unvorhergesehenes. Es kündigte sich mit einem leisen, aber nachdrücklichen Geräusch an, einem Pochen, das ihm vorkam, als klopfte ein Vogelschnabel ans Fenster. Ein eigensinniges Rotkehlchen vielleicht. Es wäre nicht das erste Mal. Allerdings geschah das eher...




