E-Book, Deutsch, 212 Seiten
Baumgartner Bildung und politische Neutralität (E-Book)
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-0355-2338-6
Verlag: hep verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Spannungen im Zeitalter der Extreme
E-Book, Deutsch, 212 Seiten
ISBN: 978-3-0355-2338-6
Verlag: hep verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen.
Um politische Neutralität im Bildungsbereich ranken sich etliche Irrtümer. Der Autor nimmt sich des Wildwuchses an. Er setzt sich mit Populismus, Digitalisierung und Klimawandel auseinander und konzipiert ein pädagogisches und gesellschaftliches Verständnis der Begriffsfügung. Denn wenn es zu Spannungen zwischen schulischen Inhalten und politischen Weltbildern kommt, dann ist das – so die These – kein Problem der Schule, sondern eines der Politik und im gravierendsten Fall sogar eines der Demokratie.
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Ein politisches Hirngespinst
Am 12. Mai 2023 wurde die im Anschluss an das Postulat in Auftrag gegebene Sotomo-Studie zur politischen Neutralität an den Aargauer Mittelschulen publiziert. Die repräsentative Studie basiert auf zwei Online-Befragungen, in der zum einen die Schülerschaft, zum anderen die Lehrerschaft befragt und mit der Rektorin und den Rektoren der Aargauer Gymnasien Interviews geführt wurden.[37] Von den 6021 zur Teilnahme eingeladenen Schülerinnen und Schüler beantworteten 2270 die Fragen vollständig (37,7 %), von der Lehrerschaft 493 (58,4 %).[38] Erfragt wurden vor allem die Befindlichkeit und subjektive Einschätzungen zur Frage der politischen Neutralität an den Aargauer Kantonsschulen. Generell kommt die Studie zum Schluss, dass die Reibungsfläche, die sich wegen politischer Haltungen ergibt, deutlich kleiner ist als es die Maturarbeit der Badener Kantonsschüler nahelegt. Vermindert wird diese zunächst durch die Einschätzung, wo die politische Sozialisierung erfolgt. Hier nannten 94 Prozent der Lehrpersonen und 75 Prozent der Schülerschaft das Elternhaus als massgeblichen Einfluss, gefolgt vom Freundeskreis und den Sozialen Medien respektive Influencerinnen und Influencern.[39] Erst auf Platz vier wird die Schule als Einfluss für die politische Meinungsbildung genannt.[40] Eine persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit einer Unterrichtsstunde zur Geschichte der Rhetorik mag diesen Sachverhalt illustrieren. Nachdem den Schülerinnen und Schülern jeweils klargeworden ist, dass die antiken Ursprünge der Rhetorik in der Politik und dem Gerichtswesen liegen und es in beiden Bereichen des öffentlichen Lebens um Überzeugung geht, frage ich jeweils: «Warum ist das Unterrichtswesen nicht gleichermassen eine Quelle der Rhetorik?» Rasch kommt jeweils die sinngemäss wiedergegebene Antwort, dass es in der Schule nicht um Überzeugung gehe, dass Meinungen zwar präsentiert, aber nicht aufgedrängt würden und das Lernen im Fokus stehe. Mit diesem Gedanken ist die Schülerschaft sehr vertraut und er schlägt sich dementsprechend in der Umfrage nieder. Damit korrespondiert die von der Lehrerschaft in einer offenen Frage vertretene Haltung, dass die «eigene politische Haltung nicht in den Unterricht einfliesst».[41] Die Dimension des rein Meinungshaften und der politischen Haltung der Lehrerschaft spielen nur eine marginale Rolle. Dieser Befund legt meines Erachtens frei, wie zwanghaft der politische Diskurs ist, der den Schulen eine ideologische Färbung unterstellen will. Er ist auch ein Indiz für eine grundsätzliche Differenz zwischen Bildungssystem und Politik, der das nachfolgende Kapitel Aufmerksamkeit widmet. Die Sotomo-Studie lässt aber auch den Schluss zu, dass es Differenzen in der Wahrnehmung von Lehrerschaft und Schülerschaft gibt. So nehmen 65 Prozent der Lehrpersonen Debatten mit politischem Bezug als tolerant wahr, von den Lernenden allerdings nur 35 Prozent. Ebenfalls wird das Engagement in solchen Debatten von Lehrpersonen als deutlich höher gewertet. Die Beurteilung dieser Frage ist, wie die Studie festhält, von der «politischen Positionierung» abhängig: Schülerinnen und Schüler, die sich in der politischen Mitte oder auf der linken Seite des Spektrums positionieren, nehmen die Debatten im Schulzimmer als deutlich lehrreicher, engagierter und toleranter wahr als Schülerinnen und Schüler, die sich auf der rechten Seite des politischen Spektrums positionieren. Fast ein Fünftel der rechts positionierten Personen empfindet diese Unterrichtsstunden als ausgrenzend, von den anderen Schülerinnen und Schüler sehen das nur ganz wenige so […].[42] Ein belastbares Resultat der Befragung war diesbezüglich, dass der Druck der Peer-Gruppe sehr viel entscheidender ist als etwaige Sanktionen oder Kommentare seitens der Lehrpersonen. Offenbar ist die Toleranz, so auch Einzelvoten in den Befragungen, unter den Gleichaltrigen deutlich geringer. Dass eher am rechten Ende des politischen Spektrums denkende Lernende von dieser Intoleranz betroffen sind, hängt mit der Struktur der Schülerschaft zusammen. Diese verortet sich nämlich eher in der Mitte oder links als im rechtskonservativen Bereich.[43] Insgesamt 16 Prozent der Schülerinnen und Schüler fühlen sich in den Schulen gelegentlich benachteiligt, wobei die politische Einstellung und die Nationalität die meistgenannten Faktoren sind.[44] Allerdings entfallen die meisten Gründe auf individuelle und nicht näher spezifizierte Gründe, sodass nur ein kleiner Teil der Schülerschaft sich wegen seiner politischen Verortung im schulischen Leben diskriminiert fühlt.[45] Der Befund im Debattenverlauf und insbesondere die Differenz in der Wahrnehmung der Lehrpersonen und der Schülerschaft ist meines Erachtens das auffälligere Resultat. Offenbar gibt es einen Teil der Lernenden, der sich nicht zu beteiligen traut und der sich in schulischen Debatten nicht wahrgenommen oder repräsentiert fühlt. Ich will dazu einige Hypothesen ins Feld führen, die diesen Unterschied erklären könnten. Zunächst muss man einem sehr grundsätzlichen Gedanken Raum geben, den ich im Anschluss an den Soziologen Erving Goffman als das Theatrale und Rollenhafte der unterrichtlichen Kommunikationssituation bezeichnen möchte. Goffman schreibt bezüglich solcher eingespielten Situationen: «Alle Gruppenmitglieder tragen gemeinsam zu einer umfassenden Bestimmung der Situation bei, die weniger auf echter Übereinstimmung über die Realität beruht als auf echter Übereinstimmung darüber, wessen Ansprüche in welchen Fragen vorläufig anerkannt werden sollen.»[46] Gemeinsamkeitsstiftend ist also nicht der Fluchtpunkt der Authentizität, sondern eine Art Aushandlungspraxis, die Goffman «Arbeitsübereinstimmung» nennt.[47] Das bedeutet für den schulischen Rahmen, dass nicht alle Ansichten von den potenziellen Gesprächsteilnehmerinnen und Gesprächsteilnehmern als sozial erwünscht anerkannt werden und diese im Sinne einer Selbstselektion gar nicht geäussert werden. Das Motiv des sozialen Anschlusses wiegt mehr. Es bedeutet auch, dass nicht die Lehrperson allein die Orchestrierung einer solchen Kommunikationssituation kontrollieren kann, sodass für sie die blinden Flecken erheblich sein können. Es ist ein Emergenzphänomen des Plenums. Die Faktoren, die von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Studie geäussert worden sind, unterstützen das: Zweifel am eigenen Wissen, Vertreten einer anderen Meinung, Angst vor negativen Reaktionen.[48] Es ist das Theatrale mit all seinen Konditionen selbst, das als Effekt einer sozialen Dynamik die Preisgabe authentischer Haltungen manchmal verhindert. Weiter ist es ein Phänomen der Adoleszenz, dass junge Menschen sich eher von einem Ausscheren vom – angeblichen – Konsens scheuen und noch nicht gleichermassen mit gewachsenen Diskursen sowie den in ihnen gängigen Argumentationspraxen vertraut sind. Diese Unvertrautheit kann in Unterrichtsstunden originelle Perspektiven fördern, weil der vermeintlich naive Standpunkt, der aber bloss derjenige des Fragenden ist, andere Zugänge ermöglicht. Meist stellt diese Unvertrautheit aber wohl eine Hemmung für die Lernenden dar. Die Differenz in der Studie zwischen Lehrpersonen und Schülerschaft könnte aber auch in divergierenden Pluralismusvorstellungen begründet sein. Lehrpersonen argumentieren aus der Fachperspektive, die ein in langer Tradition gewachsenes Resultat diskursiver Aushandlungen darstellt und bereits zahlreiche Perspektiven ausgeschieden hat, etwa durch begriffliche Festlegung. Aus Sicht der Lehrperson mag deshalb das Ensemble sinnvoller und gültiger Argumentation zu einer Thematik bescheidener ausfallen als für Lernende, die in der Peer-Gruppe, der Familie und online mit einer Vielfalt und einem weiten Spektrum an möglichen Meinungen und Perspektiven sozialisiert worden sind. Aus ihrer Sicht stellt sich die Diskussion im Klassenzimmer möglicherweise als verarmte Debatte dar. Zur Differenz in der Wahrnehmung von Lehrerschaft und Lernenden mag auch beitragen, was in einer anderen Frage erhoben wurde, dass nämlich die Toleranz der Unterrichtenden ungleich grösser ist als die der Mitschülerinnen und Mitschüler. Es gehört zum pädagogischen Verständnis, die zuvor angesprochene Unvertrautheit der Lernenden mit gewachsenen Diskursen zu kennen und ohne überhebliche Scharfzüngigkeit, sondern mit Einfühlsamkeit auf «Fehler» zu reagieren. Die Selbsteinschätzung, tolerant zu sein, könnte auch dazu beitragen, dass Lehrpersonen die Diskussionen aufgrund ihrer eigenen Haltung als offener wahrnehmen als die Schülerschaft, die wahrscheinlich die bessere Einsicht in die Beziehungen der Lernenden untereinander und die entsprechenden Dynamiken haben. Lehrpersonen könnten die eigene pädagogische Haltung auf die Atmosphäre während solcher Debatten projizieren, was wohl allzu oft irreführend ist. Wenn sich mit Sicherheit etwas aus diesen Erhebungen ableiten lässt, dann ist es, sich der Theatralität schulischer Situationen und der Differenz zwischen erlebter Meinungsvielfalt der Schülerschaft und der Verengung des schulischen Fachdiskurses bewusst zu machen. Damit wird die Schwelle zum Eintritt in fachliche Diskurse schärfer fokussiert, was konkret bedeuten könnte, ohne allzu viele bereits steuernde Informationen, Meinungen und Haltungen zu einem Sachverhalt zu fragen und die Gewachsenheit einer wissenschaftlichen Disziplin von einem Standpunkt der...