Baumgartner / Kolland / Wanka | Altern im ländlichen Raum | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 232 Seiten

Baumgartner / Kolland / Wanka Altern im ländlichen Raum

Entwicklungsmöglichkeiten und Teilhabepotentiale

E-Book, Deutsch, 232 Seiten

ISBN: 978-3-17-023900-5
Verlag: Kohlhammer
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Lebenssituation älterer Menschen im ländlichen Raum ist einem starken Wandel unterworfen. Zu diesem Wandel gehören demographische Veränderungen, die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen und mehr Bildung. Damit steigen der Wunsch und die Fähigkeit zur sozialen Teilhabe älterer Menschen. Das Buch bietet auf der Basis eigener empirischer Forschung einen Zugang zu den Potentialen des Alters in ländlichen Gemeinden.
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Einleitung
Wenn wir in diesem Buch das Konzept der sozialen Teilhabe theoretisch entwickeln und anhand empirischer Daten verdichten, dann geht es uns darum, eine Dimension erfolgreichen Alterns soziologisch vertiefend aufzuarbeiten. Über die soziale Teilhabe entfaltet sich das Alter(n)spotential zur wirkmächtigen Kraft gesellschaftlichen Handelns. Und über die soziale Teilhabe überschreitet das Individuum physiologische Bedingtheit und psychologische Entwicklungsorientierung. Das Private wird öffentlich. Physische und psychische Bedingungen sind jedoch nicht als Voraussetzung oder vorauslaufende Prozesse sozialer Teilhabe zu verstehen, sondern stehen in einem steten Wechselwirkungszusammenhang mit sozialen Beziehungen. Sie wirken auf die Vergesellschaftung des Individuums. Das gilt für den gesamten Lebenslauf. Zwar haben verschiedene Alternsforscher herausgearbeitet, dass im höheren Alter – aufgrund der unvollendeten Humanontogenese (Paul B. Baltes) – biologische und physiologische Veränderungen das soziokulturelle Potential menschlicher Entwicklung einschränken, jedoch kann daraus nicht auf eine Ent-Gesellschaftung des Alters geschlossen werden. Mag sich auch die Zahl der sozialen Kontakte verändern, so kann nicht von einer grundlegenden Desozialisation im Alter gesprochen werden. Körperlich und gesundheitsbedingter sozialer Rückzug sind – so unsere These – keine natürliche Folge des Alterns, sondern über weite Strecken sozial konstruiert und konstituiert. Mit dieser Behauptung schaffen wir ein Fundament für eine optimistischere Sicht auf das Altern. Denn sehen wir Gebrechlichkeit und Immobilität nicht nur als geriatrische Diagnose, sondern als sozial bedingt, erweitert sich das Spektrum der Interventionsmöglichkeiten. Werden eingeschränkte soziale Beziehungen ausschließlich als Folge gesundheitlicher Belastungen gesehen, wird Altern primär zum medizinischen Problem und es geht vorwiegend um die Behandlung einer Krankheit. Wir wollen diese Sichtweise modifizieren und statt einer eher pathogenetischen die salutogenetische Perspektive in den Vordergrund rücken. Um die Stränge der medizinischen und sozialen Intervention zusammenzubringen schlagen wir eine Sozialgeriatrie vor. Nach dieser ersten Begründung des Konzepts der sozialen Teilhabe aus der alternswissenschaftlichen Perspektive wollen wir in einem zweiten Schritt den sozialräumlichen Bezug herstellen. Der sozialräumliche Bezug unterstützt eine salutogenetische Perspektive und nimmt das Individuum in seiner Ortsgebundenheit in den Blick. Hat die alternswissenschaftliche Perspektive mit ihrer Verortung des Individuums in einem Lebens(ver)lauf die Zeit als Referenz, so ist das Individuum aus sozialräumlicher Perspektive eines, welches von Räumen physisch und symbolisch beeinflusst wird und diese umgekehrt ergreift und bewohnt. „Wir wohnen nicht“, heißt es bei Martin Heidegger, „weil wir gebaut haben, sondern wir bauen und haben gebaut, insofern wir wohnen, d.h. die Wohnenden sind.“ (1994: 143) Markierungen in der Zeit – im Lebenslauf – und im Raum schaffen Identität und Sicherheit. Wenn wir uns fragen, wer wir sind, wir unser Gewordensein bedenken, dann bedenken wir seit der Moderne Phasen und Übergänge. Wir denken an Kindheit, Jugend, Erwachsenensein, Alter. Wenn wir uns räumlich verorten, dann denken wir an Landmarks. Wer im ländlichen Raum lebt, denkt an Kirchtürme, Bergspitzen, Bäche, Friedhöfe. Mit diesen Landmarks ist das Gefühl des „Daheim-Seins“ verknüpft. Dieses Gefühl des „Daheim-Seins“ bedeutet: Ich gehöre (hier)hin! Ich habe einen Platz. Soziale Räume bezeichnen in der Wissenschaftstradition der Soziologie seit Georg Simmel (1908) nicht einfach Territorien im physikalisch-geografischen Sinn, sondern räumlich bezogene und erfahrene Kontexte sozialen Handelns. Erst über die Tätigkeit des Menschen wird ein Territorium zum sozialen Raum und die Menschen erfahren dementsprechend den Raum als Ortszusammenhang von zugänglichen Möglichkeiten und einschränkenden Verwehrungen. „Wenn eine Anzahl von Personen innerhalb bestimmter Raumgrenzen isoliert nebeneinander haust“, so Simmel (1908: 460; http://socio.ch/sim/unt9a.htm, Zugriff: 15.3.2013), „erfüllt (eben) jede mit ihrer Substanz und ihrer Tätigkeit den ihr unmittelbar eigenen Platz, und zwischen diesem und dem Platz der nächsten ist unerfüllter Raum, praktisch gesprochen: Nichts“. Erst wenn Menschen in Wechselwirkung treten, ist der Raum erfüllt. Der soziale Raum ist Ort gesellschaftlicher Strömungen, Entwicklungen, Kulturen und Widersprüche. Struktureller Wandel verändert die Arbeitswelt, Raumplanungen verändern Lebensräume, Arbeitslosigkeit verändert das soziale Miteinander, Umwelteinflüsse verändern die Lebensqualität und der demographische Wandel verändert die Alterstruktur im Lebensraum. Kommt es in bestimmten Gebieten und Gegenden zu starken demographischen Verschiebungen etwa aufgrund von Ab- oder Zuwanderung, dann formen sich Konflikte, die als sozialräumlich entstandene zu behandeln sind. Sozialraum beschreibt die Wechselwirkung zwischen der sozialen Situation seiner Bewohnerinnen und der räumlichen Beschaffenheit. Einerseits prägt das „Soziale“ den Raum, andererseits wiederum prägt auch der Raum das „Soziale“. Es handelt sich also um eine sozial konstruierte, relationale Anordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten (Löw, 2007). Personen erschaffen und modifizieren Räume und werden durch solche Räume in ihrem Handeln beeinflusst. Sehr deutlich sichtbar ist das etwa in Pflegeheimen, die je nach ihrer räumlichen Beschaffenheit soziale Beziehungen stimulieren oder reduzieren können. Es sind verschiedene „sozialökologische“ Qualitäten, die die Handlungsmöglichkeiten der Individuen bestimmen. Sie erlauben mehr oder weniger Eigentätigkeit, fördern oder verhindern Partizipation, eröffnen Gelegenheiten für Erfahrungen und Erlebnisse und bestimmen die Lern- und Entwicklungschancen. Räume sind nicht wertfrei, in ihnen finden sich gesellschaftliche Dimensionen und Funktionsbestimmungen in Form von „kodifizierten Regelungen, Machtbefugnissen, Herrschafts- und Eigentumsansprüchen“ (Böhnisch/Münchmeier, 1990: 58) wieder. Wie soziale Räume in den verschiedenen Lebensphasen angeeignet werden, hängt einerseits mit den lebensphasenspezifischen Ansprüchen und Erwartungen, aber auch mit den räumlichen Sozialordnungen der Gesellschaft zusammen. Kinder entwickeln sich vor allem dadurch, dass sie ihre Lebensräume immer mehr erweitern (vgl. Deinet/Reutlinger, 2004). Die scheinbar tote sozialräumliche Welt verwandelt sich in ein je individuelles sozialräumlich-personales Erlebnissetting. Im Jugendalter verläuft der sozialräumliche Aneignungsprozess vor allem über die peergroup und die von ihr vermittelte gemeinsame Aneignung von Räumen und Stilen. Für Erwachsene in der Phase der Kindererziehung ist der sozialräumliche Kontext über die Kinder gegeben, zum Beispiel über Kinderspielplätze oder über erlebte soziale Ausgrenzung, wenn etwa die Kinder zu laut sind. In der Lebensphase des Alters, in der die sozialen Funktionen und Rollen zurücktreten oder aufgegeben werden, spielt die sozialräumliche Dimension eine umso wichtigere Rolle. Im Alter nehmen die meisten Menschen einen räumlichen Bruch wahr. Der Weg zur Arbeit entfällt und damit auch eine bestimmte Form der Nutzung des Sozialraums. Es findet eine Art territorialer Rückzug statt, der gleichzeitig von territorialer Expansion begleitet wird. Gemeint ist damit, dass die unmittelbare Wohnumgebung zu einem wesentlichen Lebensraum wird. Alte Menschen leben stärker in der räumlichen Nahwelt, mit zunehmendem Alter steigt also die Distanzempfindlichkeit und Nahräumlichkeit (Rüßler, 2007). Die Erforschung von sozialräumlichen Zusammenhängen muss die Deutungen und Handlungen der verschiedenen Generationen zu verstehen versuchen, aber auch die gesellschaftlichen Strukturen „als Botschaften, die in den Räumen sind“ (Böhnisch/Münchmeier, 1990: 13) ergründen. Dieses Spannungsfeld zwischen Aneignung und gesellschaftlicher Verfasstheit von Sozialräumen mit ihren gesellschaftlichen Funktionszuschreibungen, Regelungen und Geboten kann mit Hilfe des sozialökologischen Ansatzes erfasst werden. Dieser geht davon aus, dass Umwelt das Verhalten definiert, damit Handeln beeinflusst und umgekehrt. Damit wird eine kontextorientierte Betrachtung der Lebenssituation der verschiedenen Altersgruppen möglich. Das Ziel der sozialräumlichen Verfahren ist es demnach, Verständnis dafür zu entwickeln, wie die Lebenswelten sozialer Gruppen in engem Bezug zu ihrer Gemeinde stehen und welche Sinnzusammenhänge, Freiräume oder auch Barrieren die verschiedenen sozialen Gruppen in ihren Gesellungsräumen erkennen (Krisch, 2009). Der Fokus des Erkenntnisinteresses richtet sich auf die Deutungen, Interpretationen, Handlungen und Tätigkeiten von älteren Menschen im Prozess ihrer Aneignung von Räumen in der Gemeinde und über diese hinaus. Der sozialökologische Ansatz und das Konzept der Aneignung bilden auch Brücken für den aktuellen Diskurs zum lebenslangen Lernen im Alter. Lebenslanges Lernen geht nämlich von alltäglichen Handlungsvollzügen in der Lebenswelt aus. Aneignung ist das Muster für die Bildung des Subjekts im sozialen Raum. Der gesellschaftliche Raum ist Aneignungs- und Bildungsraum. Der unmittelbare Sozialraum ist gewissermaßen der/die 3. Pädagoge/Pädagogin.1 Nicht nur die Lehrenden und Lernenden beeinflussen das Lerngeschehen, sondern auch die unmittelbare Umwelt. Über die alters-, geschlechts- und lebenslagenspezifisch tätige Auseinandersetzung mit der räumlich vermittelten Umwelt werden Bildungsprozesse (vgl. Deinet/Reutlinger, 2005)...


Mag.a Katrin Baumgartner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei diversen soziologischen Projekten in Wien. Dr. Franz Kolland ist Professor für Soziologie und Sozialgerontologie an der Universität Wien. Mag.a Anna Wanka ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie in Wien.


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