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E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Bausch Knast


12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0217-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0217-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
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Als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth beugt er sich im Kölner Tatort mit grünem Kittel mürrisch über Leichen. Nach Drehschluss fährt er zurück in sein richtiges Leben: Seit über 25 Jahren arbeitet Joe Bausch als Gefängnisarzt in Werl, einer der größten deutschen Justizvollzugsanstalten.Die Häftlinge vertrauen ihm. Sie erzählen von den dunklen Seiten des Lebens, lassen ihn tief in die Abgründe ihrer Seele blicken. Hautnah erlebt er Konflikte und Tragödien: Ein Mann in U-Haft hat Angst um seine schwangere Frau. Bei Joe Bausch legt er eine Lebensbeichte ab - und erhängt sich zwei Tage später. Ein Mörder gesteht weitere Verbrechen, weil er weiß, dass sein Arzt an die Schweigepflicht gebunden ist. Persönlich und eindringlich erzählt Joe Bausch zum ersten Mal von einer Welt mit ihren eigenen Regeln.

Joe Bausch, Jahrgang 1953, arbeitete über dreißig Jahre lang als Leitender Regierungsmedizinaldirektor in der Justizvollzugsanstalt Werl und ist bekannt als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth im Kölner Tatort.
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Arzt im Knast I

Der erste Gang

Im Februar 1987 machte ich mich zum ersten Mal auf den Weg von Bochum zur Justizvollzugsanstalt Werl, um meinen zukünftigen Arbeitsplatz in Augenschein zu nehmen. Der Weg zum Gefängnis war – wohl aus Rücksicht auf das Image der Stadt – damals noch nicht ausgeschildert. Alles, was ich wusste, war, dass der Knast irgendwo am Langenwiedenweg liegt. Schon nach kurzer Zeit hatte ich mich heillos verfahren, weshalb ich einen Passanten nach dem Weg fragte. Der grinste nur und meinte, da hätte ich wohl noch ein ganzes Stück vor mir: Er habe schon einige gesehen, die seien vor ein paar Jahren hier entlanggefahren und seien bis heute noch nicht zurückgekommen. Haha! Wirklich ein guter Witz. Am Ende hat er mir dann doch den richtigen Weg gewiesen, und kurze Zeit später tauchte vor mir das gewaltige Areal auf.

Die JVA befindet sich auf einem knapp fünfzehn Hektar großen Gelände, die ältesten Gebäude stammen aus dem Jahr 1906. Ein altehrwürdiger Kasten mit drei Hafthäusern, in denen rund 630 Einzel- und 240 Gemeinschaftszellen untergebracht sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente Werl den Alliierten als Knast für verurteilte Kriegs- und NS-Verbrecher; bis 1969 war es ein berüchtigtes Zuchthaus, spezialisiert auf harte Fälle. Ständig modernisiert und erweitert, ist Werl heute eine der größten Justizvollzugsanstalten in Deutschland.

Und hier sollte ich nun also arbeiten, als Hausarzt all derer, die man früher gerne als »Abschaum der Nation« bezeichnete. Ich hatte gemischte Gefühle und nur unter der Bedingung zugesagt, dass ich von einem Tag auf den anderen kündigen könne, denn ich war mir nicht sicher, ob ich diese Aufgabe packen würde. Klar, sie war spannend und interessant, eine große Herausforderung. Doch der Job erschien mir wie der berühmte Sprung ins kalte Wasser. Außer einem erfolgreich absolvierten Medizinstudium hatte ich kaum etwas vorzuweisen, meine praktischen Erfahrungen – ich hatte bereits zwei Jahre als Assistenzarzt in einem Krankenhaus und einer Privatklinik gearbeitet – wirkten angesichts der Größe der neuen Aufgabe beinahe kläglich. Ich sollte zunächst zweimal in der Woche Sprechstunden für Strafgefangene abhalten, die mit allen Wassern gewaschen waren und jede Unsicherheit vermutlich gnadenlos ausnutzen würden. Wie ich zu ihnen ein Vertrauensverhältnis aufbauen sollte, war mir schleierhaft. Zumal ich zumindest in der Anfangszeit sicher von allen Seiten kritisch unter die Lupe genommen werden würde. Nicht nur von den Häftlingen, auch von den übrigen Ärzten, den Pflegern und den Bediensteten. Das liegt in der Natur der Sache, im Knast muss man einfach auf der Hut sein, bis man weiß, wie der andere tickt.

Angst vor der neuen Aufgabe hatte ich aber nicht. Es war eher eine gespannte Neugier, die mich erfasste, je näher ich dem Knast kam. Ob meine zukünftigen Patienten wirklich so waren, wie sie in der Zeitung beschrieben wurden? Wie benahmen sich all diese Mörder, Dealer und Halsabschneider im Alltag in der Haftanstalt? Wie war es, einem Mörder direkt gegenüberzusitzen? Gab es den geborenen Verbrecher, dem nicht mehr zu helfen war? Die Gedanken in meinem Kopf wirbelten wild durcheinander.

Nachdem ich meinen Wagen geparkt hatte, ging ich zur Personalpforte und schellte. Per Gegensprechanlage wurde mir mitgeteilt, dass mich der Sanitätsdienstleiter gleich abholen würde. Als sich die Tür geöffnet und ich die Schleuse zum Vorhof passiert hatte, fiel mein Blick zuerst auf die imponierende Fassade der Anstaltskirche mit dem in den Himmel ragenden Turm. »Beten und büßen«, das war das Konzept deutscher Zuchthäuser bis Ende der sechziger Jahre. Vor mir lag nun derselbe Weg, den jeder neue Gefangene zu gehen hat. Türen wurden auf- und hinter mir wieder zugeschlossen, dann betrat ich den Vorraum mit den sogenannten Transporterzellen. In diesen Zellen werden Gefangene untergebracht, die weiterverlegt werden sollen oder eben erst im Knast angekommen sind und sich sozusagen noch in der Warteschleife befinden.

Als Nächstes passierten wir die Kammer. Hier werden Neuankömmlinge ein- oder umgekleidet, hier werden ihre privaten Sachen gefilzt, hier wird darüber entschieden, was sie auf die Zelle mitnehmen dürfen und was nicht. Alles, was bei der Überprüfung durchfällt, wird in Säcke oder in Kartons gegeben, die anschließend vor den Augen des Delinquenten verplombt oder versiegelt werden, bevor sie bis zu dessen Entlassung in einem großen siloartigen Raum gelagert werden. Mit seiner kargen Erstausstattung unter dem Arm verlässt der Täter die Kammer und betritt einen schmalen Flur, der nach ungefähr vierzig Metern ins Zentrum des alten Zuchthauses führt, eines beinah sakral anmutenden Kreuzbaus. Hier treffen die vier Seitenflügel aufeinander. Über mir die engmaschigen Sicherheitsnetze, vor mir vier Etagen mit Treppen und Balustradengängen rechts und links, an denen entlang sich nach beiden Seiten die Zellen reihen. So sieht über hundert Jahre alte preußische Gefängnisarchitektur aus. Sie erschien mir wie ein abweisendes Labyrinth.

Mein Weg brachte mich weiter über den Zellentrakt des C-Flügels in den eingeschossigen Anbau, in dem sich das Lazarett befindet. Da meine Sicherheitsüberprüfung damals noch lief, war ich bei meinem ersten Gang natürlich nicht im Besitz eines eigenen Schlüssels. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sich ein Gefangener fühlt, der zum ersten Mal diesen Weg gehen muss – in dem Bewusstsein, dass er die nächsten Jahre keine einzige Tür mehr selbst öffnen oder hinter sich schließen wird. Für mich war dieses Gefühl der Ohnmacht vierzehn Tage später beendet, als ich meinen eigenen Schlüssel erhielt. Jetzt war ich einer von denen, die an einem Bund große, blank abgewetzte Schlüssel tragen; deren schepperndes Geräusch hat mich lange verfolgt. Überhaupt gewöhnte ich mich nur allmählich an den Mikrokosmos Gefängnis mit seinen zahllosen Regeln. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich dieser Realität stets nach Dienstschluss entfliehen konnte. Ich war nur der Arzt, kein Gefangener, der am Abend in seiner Zelle eingeschlossen wurde.

Als ich meinen eigenen Schlüssel erhielt, empfand ich das wie die Aufnahme in einen Orden: Ich hatte jetzt Schlüsselgewalt. Die einen haben einen Schlüssel, die anderen nicht. Nicht nur für die Gefangenen hat der Schlüssel einen Symbolwert, auch wenn dieses kleine Ding letztendlich nur darüber entscheidet, ob man etwas so völlig Banales tun kann, wie eine Tür zu öffnen. Im Gefängnis trennen Türen Welten.

Der Inhaftierte gibt im Knast nicht nur seine Klamotten ab, sondern beinahe jede Form der Eigenständigkeit, fast alles ist fremdbestimmt. Was soll’s, mag man denken, hat sich der Kerl doch selbst zuzuschreiben. Dieses Gefühl der Ohnmacht wirkt noch lange nach, auch in Freiheit. Ich erinnere mich gut daran, dass mir ein ehemaliger Patient und Insasse der JVA einige Monate nach Ablauf seiner Haft ein Foto schickte. Das Bild zeigte ihn stolz wie Bolle mit einem Schlüssel in der Hand vor einer Wohnungstür. Auf der Rückseite des Fotos stand: »Hallo Doc, das ist die erste Tür, die ich nach 22 Jahren wieder selbst auf- und zugeschlossen habe.«

Jede Tür, die der Gefangene auf seinem langen Weg bis zu seiner Zelle passieren muss, bestätigt ihm aufs Neue seine Unfreiheit. Zwischen mir und der Freiheit liegt nicht nur eine verdammt hohe Mauer mit bewaffneten Turmposten, Überwachungskameras und Stacheldraht. Zwischen mir und der Freiheit liegt Tür auf Tür auf Tür auf Tür …; es ist, als entferne man sich mit jeder Tür einen Schritt weiter von der Welt der anderen, bis man, in der Zelle angekommen, nur noch auf sich selbst reduziert ist. Das mag durchaus Sinn der Sache sein, schließlich ist Haft keine Butterfahrt. Der Gesetzgeber will abschrecken. Schmerzliche Eingriffe in persönliche Freiheiten sind ein Mittel, um Reue und Einsichtsfähigkeit zu fördern. Höflichkeit und Demut sind Haltungen, die jeder Gefangene schnell verinnerlichen sollte. So müssen Häftlinge im Abstand von anderthalb Metern vor der jeweiligen Tür warten, bis der Vollzugsbedienstete sie aufgeschlossen hat. Erst nach einer Aufforderung dürfen sie hindurchgehen und haben anschließend im gleichen Abstand zu warten, bis die Tür wieder verriegelt ist. Begleitet von einem Beamten marschieren sie den Gang entlang, bis ihnen die nächste Tür den Weg versperrt. Dieses Ritual wiederholt sich täglich unzählige Male. Es gibt keinen Insassen, der irgendeinen Weg außerhalb der Zelle alleine gehen darf. Der einzige Schlüssel, der sich während der Haft in seinem Besitz befindet, ist der für das Vorhängeschloss am Spind und hin und wieder der für die Zellentür. Das mag irritieren, hat aber einen konkreten Sinn. In Zeiten der »Freizügigkeit«, also den Stunden zwischen 18 und 20 Uhr, in denen sich die Gefangenen wochentags auf den Fluren und in den Teeküchen frei bewegen können, tragen sie selbst dafür Sorge, ihren Haftraum hinter sich zuzuschließen, damit sie nicht beklaut werden. Das funktioniert aber nur in diese eine Richtung. Von innen haben sie keine Möglichkeit, die Zellentür aufzuschließen. Sie wird sich nur zu festgelegten Zeiten oder im Notfall öffnen.

Der dumpfe Klang, wenn die schweren Türen ins Schloss fallen, die scheppernden Schlüssel, die das Personal am Hosenbund trägt, waren auf meinem ersten Gang die lautesten Geräusche. Dafür, dass sich in diesem Knast knapp tausend Leute tummelten, war es erstaunlich ruhig. Hier und da ein Murmeln, mehr nicht....


Bausch, Joe
Joe Bausch, Jahrgang 1953, arbeitete über dreißig Jahre lang als Leitender Regierungsmedizinaldirektor in der Justizvollzugsanstalt Werl und ist bekannt als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth im Kölner Tatort.

Joe Bausch, Jahrgang 1953, arbeitet als Regierungsmedizinaldirektor in der Justizvollzugsanstalt Werl und ist bekannt als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth im Kölner Tatort.



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