Becher / Wagner | New Yorker Novellen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 408 Seiten

Becher / Wagner New Yorker Novellen


Neuausgabe 2020
ISBN: 978-3-7317-6176-1
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 408 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6176-1
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Mit den 1950 erstmals publizierten 'New Yorker Novellen' gilt es, ein bedeutendes Werk der deutschsprachigen Exilliteratur neu zu entdecken.Der noch 1945 in New York begonnene 'Zyklus in drei Nächten' umfasst die drei Novellen 'Nachtigall will zum Vater fliegen', 'Der schwarze Hut' und 'Die Frau und der Tod'. Ob Hans Heinz Nachtigall, der im Exil einen märchenhaften Aufstieg vom erfolglosen Dichter zum gefragten Psychiater der New Yorker Upper Class erlebt, jedoch Verrat gegenüber seinem in Europa zurückgelassenen Vater empfindet, ob der joviale Börsenmakler Alois Altkammer, der für seine verstorbene Frau eine bizarre Totenfeier veranstaltet, ob der seines Gehörs beraubte jüdische KZ-Häftling Dr. Klopstock oder der vom Krieg heimgekehrte Pilot Happy Slocum: Bechers Geschichten handeln von einsamen, durch Erfahrungen der Entwurzelung gezeichneten Außenseitern, die um einen biographischen oder künstlerischen Neuanfang in der Fremde bemüht sind.Mit einem bald ins Satirische, bald ins Groteske weisenden schwarzen Humor erzählt Becher bereits 20 Jahre vor seinem Meisterwerk 'Murmeljagd' in pointierter Form, die die Verwandtschaft zu George Grosz erkennen lässt, von den biographischen Erschütterungen inmitten einer Epoche der Entmenschlichung.'

Ulrich Becher, geboren 1910 in Berlin, studierte Jura und war der einzige Meisterschüler von George Grosz. 1932 erschien sein Debüt Männer machen Fehler, das 1933 von den Nationalsozialisten als sogenannte entartete Literatur verbrannt wurde. Becher verließ Deutschland, lebte in verschiedenen europäischen Städten und floh 1941 nach Brasilien. Er übersiedelte 1944 nach New York und kehrte 1948 nach Europa zurück, zunächst nach Wien, 1954 nach Basel, wo er 1990 starb.
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Erste Nacht: Nachtigall will zum Vater fliegenZweite Nacht: Der schwarze HutDritte Nacht: Die Frau und der TodEditorische NotizNachwort


1

»Ich finde es so wunderbar herrlich schön, Jüdin zu sein!«

Die Rossi rief es so verzückt schallend aus, daß Dr. Klopstock, der mit seiner Taubheit allein war in dieser schwarzgekleideten Gesellschaft, es verstand. Er brachte ein schales Lächeln zuweg und erwiderte mit der undifferenzierten Hofhundebellstimme derer, die ihr Gehör eingebüßt haben, bellte: »Wenn Sie in Dachau gewesen wären, liebe Dame, Dachau, ich meine Dachau, Kazet Dachau, in der Nähe von Freising, wie? wie?? ja in Dachau wie ich … oder wenn Sie die letzten Jahre im Warschauer Getto gesessen hätten, wie? Getto! Getto! Warschauer Getto!! … ja, dann … dann würden Sie’s vielleicht nicht so wunderbar herrlich schön finden, hauhauhau.«

Auch durch dies Letzte, schauerlich Gebellhafte, das ein höhnisches Gelächter sein mochte, ließ die Rossi sich nicht einschüchtern. »O doch«, schallte sie, »doch! Verstehn Sie mich nicht falsch, Doktor. Ich leide mit, ich leide ganz furchtbar mit. Ich habe Phantasie, ach, ich liebe die Phantasie, ich liebe …« Ihr ocker getünchtes Gesicht, das wie die Karnevalslarve war, die ein schönes Mädchen trägt, etwas wächsern und ein ganz klein weniges fratzenhaft, belebt allein von den lebenssprühenden dunklen Lichtern, die durch die Augenschlitze der Larve spähn, das Gesicht wandte sich zum Plafond; ihre reizend zierliche Gestalt straffte sich. »Ja!« Ein feierlicher Ausruf, leicht kanzelpredigerhaft, »ich bin stolz, furchtbar stolz auf unser Leiden. Ich bin stolz und glücklich, Jüdin sein zu dürfen. So glücklich!« Sie schüttelte sich in theatralischer Verzückung.

»Heute ist es zu Ende«, brummelte Dr. Klopstock.

»Heute, den fünften Mai Neunzehnhundertfünfundvierzig, Fünfundvierzig, ist es zu Ende …« Seine Stimme war zu kraftlosem Flüstern gesunken, übertäubt vom wirren Redelärm, der den Salon des Wallstreet-Maklers Alois Altkammer erfüllte. Der Hausherr schritt über weiche Teppiche her; seine entzündeten Glupaugen schwammen in Trunkenheit.

»Der Ärmste! Ein ausgesprochener Beau, nicht wahr?«

Dr. Klopstocks Horchgerät vermittelte das schwärmerische Geraun der Rossi nicht. Für solche Fälle hatte er eine Auswahl unverbindlicher Sprichwörter parat, die sich schlecht und recht auf alles reimten. Er bellte: »Gehupft wie gesprungen.«

»Ma chère«, verkündete Altkammer mit der Schnellvertraulichkeit der Betrunkenen (er hatte die Rossi erst heute nachmittag, gelegentlich der Beerdigung in Queens, kennengelernt), »vous êtes, äh – heureuse – äh – d’être juive? Tadellos. Tadellose Milch der frommen Denkungsart – so sagte man in Deutschland doch …« Er reichte der elektrisiert Aufspringenden den Kavaliersarm und lenkte sie mit – in Betracht seines Rauschs verdienstvoller – Sicherheit durch die Stehgruppen Schwarz tragender Gäste zu einem mit Likör- und Dessertweinflaschen beladenen Buffet. »Wie wär’s mit einer frommen Milch, hm, Rossi?« Er zwinkerte ihr schelmisch zu. »Rossi war doch der werte Name, richtig, hm?«

»Richtig«, gurrte sie fasziniert.

»Also, Rossichen, genehmigen wir uns eine fromme Milch von Marie Brizard, was?« Er schenkte zwei Kristallkelche aus einer bauchigen Flasche voll. »Prost!« Er feixte sie an. »Auf das Leben!«

»Es tut mir ja so schrecklich leid«, plapperte die Rossi etwas erschrocken. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, Mister Altkammer, Ihnen zu sagen, wie furchtbar schrecklich leid es mir tut. Ich hatte leider nicht das Glück mehr, Ihre Frau zu kennen, aber nach allem, was ich gehört habe – da gibt es nur e-i-n-e Stimme –, muß das ja gar kein Mensch gewesen sein. Kein Mensch, sondern ein Engel …«

Dem Makler sprang eine Träne aus dem Auge und versickerte in seinem Menjou-Schnurrbart. Er schwang den Kelch, brüllte rauh: »Auf das Leben!«

Dr. Klopstock war allein geblieben mit seiner Taubheit und einem Glas Irländerwhisky, das er in der Linken hielt, während er die Rechte krampfhaft in der ausgeweiteten Tasche seines an den Ellbogen glänzenden dunkelblauen Jacketts barg. In minuziösen Schlückchen nippte er sein Glas leer. Stets mit der Linken waltend, zupfte er ein Taschentuch hervor, in das hinein er die im Glas verbliebenen Eisstücke bündelte. Das improvisierte Kühlkissen preßte er ans rechte, drauf ans linke Ohr. In diesem stak eine aufs Trommelfell montierte schwarze Kapsel, von der ein schwarz umwickelter Draht hinablief, um unter dem zerwaschenen Hemdkragen zu verschwinden. Beide Ohrmuscheln waren verstümmelt zu rot glimmenden formlosen Klumpen.

Niemand achtete seiner Verrichtung.

2

Alois Altkammer, Le Baron, wie er sich mit Vorliebe titulieren ließ, hielt sich für den bestangezogenen Gentleman des New Yorker Bankviertels. Einst hatte er einen mausgrauen langhaarigen Homburghut – nebst Spazierstock, reversbesetzter Flanellweste und weißen Wildlederhandschuhen zu tragen – an der Börse zu kreieren getrachtet. Das Unternehmen war ein flop (Versager) gewesen, der Anblick des Halbzylinders hatte Kicherkaskaden geweckt. Seitdem hing der Langhaarige neben der Entreetür seines bestsituiert im Greenwich Village gelegenen Appartements, zum sichtbaren Zeichen der trotzigen Gewißheit, daß des Hutes Stunde dereinst kommen werde. Alois war ein gebürtiger Bayer, als Schwarzes Schaf einer Augsburger Industriellenfamilie, die sich ihre Königs-, Kaiser- und später ihre Hitler-Treue zugutehielt, Mitte der zwanziger Jahre nach Amerika entwandert. Er hatte sich im Bankwesen emporgewirtschaftet, als Baissespekulant zu den wenigen ›Überlebenden‹ des Schwarzen Freitags gehört und Helene von Dehn, eine halbschwedische Baltenbaronesse geheiratet. Der Titel seiner Frau zeugte ihm einen Adelspfiff. Die Altkammers stammten von den französischen Baronen d’Archambaud, flunkerte er, und murmelte Zusammenhangloses von Bayern, dem Verbündeten Napoleons, und bekannte auf Querfragen lachend, daß er ›keine Ahnung von Tuten und Blasen‹ habe, auch nicht von Geschichte, indessen sei er, genaugenommen, ein Marquis, sogar mehr als ein Marquis. Folgte er einer Einladung reicher Geschäftsfreunde zu einer Cocktailparty, zwang er den Butler mit Hilfe eines Dollarscheins, vor dem Paar in den Salon zu treten und wie ein Herold zu verkünden: »Le Baron et la Baronne d’Archambaud!«

Helene war eine schlanke weißhäutige Blondine, eine grazile nordische Anmut, sein livländischer Apfel, wie er sie benamte, seit sie ihm von jenen im europäischen Norden gedeihenden Äpfeln berichtet hatte, Äpfel, deren dünnhäutige Schale und zartes Fleisch durchsichtig waren, so daß das Kerngehäuse durchschimmerte. Er überhäufte Lena mit Schmuck und gewagtem Modetand, und wenn sie etwa zu einem auf einem Landsitz Neuenglands stattfindenden Frühlingsfest in über die Ellbogen reichenden fingerlosen schwarzen Spitzenhandschuhen erschien, mit einem feingewirkten schwarzen Pariser Strohhut, der den Radius eines Sonnenschirmes aufzuweisen hatte und von dem eine dicke Affenhaartroddel niederbaumelte wie ein schwarzer Männerbart … wenn sie betont kindlich lächelnd solch eine Provokation von einem schwarzen Hut vorführte … wenn sie unter dem wippenden Dach dieses gewagten Modestücks hintrippelte am starken Arm ihres aufgeputzten stattlichen rotgesichtigen Gemahls, wenn der Diener Le Baron et la Baronne krähte, wenn man ›kam, gesehn wurde und siegte‹, blähte der Stutzer seinen Menjou-Schnurrbart, buckelte nach allen Seiten wie ein gestiefelter Kater und liebte sich, Lena und das Leben.

Nach sieben Jahren einer Ehe, die bekanntermaßen sehr glücklich war trotz gelegentlicher Seitensprünge, die Altkammer, ein notorischer Geschlechtsprotz, jedermann, nicht zuletzt der nachsichtig lächelnden Helene beichtete – sein Leibspruch: ›Wir sind durch viel Schmutz gegangen, aber unser Auge ist dabei klar geblieben‹ –, nach sieben Ehejahren wurde Lena von einer schleichenden Krankheit befallen, einer noch unerforschten, unheilbaren Zivilisationskrankheit, die alljährlich an zweihunderttausend Amerikaner zu Tod brachte. Nicht mehr zu stillen vermochte sie den Liebesappetit ihres robusten Gemahls. Unter den Vorboten erster Schmerzen lächelnd – früher war ihr Lächeln Hochmut gewesen, der sich kindlich benahm, nun war es Schmerz – schanzte sie Alois ihre besten Freundinnen zu. Die geheimen Etagenbordelle Am Centralpark-West, die den Antiprostitutionsfeldzug des Bürgermeisters Fiorello La Guardia überdauert hatten, fanden in ihm einen treuen Stammkunden.

Seine kurzen, von einem langen Mittagmahl in einem griechischen Restaurant unterbrochenen Dienststunden verbrachte der Makler in dem auf die Hudsonmündung blickenden Kontor der Firma Webster, Altkammer & Davidoff. Um sich die Würde des Geistesarbeiters zu verleihen, trug er hier eine dickrandige Hornbrille, obschon er weder kurz- noch weitsichtig war. Glotzte, in den Drehsessel gefläzt, zwei bis drei Telephonhörer jonglierend, in deren Sprechmuscheln er in einem outrierten Oxford-Englisch Aktiengesellschaftsnamen und Kursziffern hineintölte, durch die Fensterscheibe seines Privatkontors in den dem Publikum zugänglichen Hauptraum hinaus, über die Scheitel der reglos wie im Kino auf Stühlen kauernden, fasziniert zur Wand starrenden Spekulanten hinweg. Zu eben der Wand hin, die von oben bis unten bedeckt war mit einem Klapperspiel sich stets verändernder Zahlen, wandweites Werk aus hunderten ins Neusachliche abgewandelten Kuckucksuhren gleichsam, deren Schnapptürchen allein keine geschnitzten Kuckucke entfuhren, sondern – teils von innen erleuchtete –...


Becher, Ulrich
Ulrich Becher, geboren 1910 in Berlin, studierte Jura und war der einzige Meisterschüler von George Grosz. 1932 erschien sein Debüt Männer machen Fehler, das 1933 von den Nationalsozialisten als sogenannte entartete Literatur verbrannt wurde. Becher verließ Deutschland, lebte in verschiedenen europäischen Städten und floh 1941 nach Brasilien. Er übersiedelte 1944 nach New York und kehrte 1948 nach Europa zurück, zunächst nach Wien, 1954 nach Basel, wo er 1990 starb.

Wagner, Moritz
Moritz Wagner, geboren 1985, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern und kuratiert u.a. den Teilnachlass von Ulrich Becher. Seine Dissertation trägt den Titel »Babylon - Mallorca. Figurationen des Komischen im deutschsprachigen Exilroman« (2017).

"Ulrich Becher, geboren 1910 in Berlin, studierte Jura und war der einzige Meisterschüler von George Grosz. 1932 erschien sein Debüt "Männer machen Fehler", das 1933 von den Nationalsozialisten als sogenannte entartete Literatur verbrannt wurde. Becher verließ Deutschland, lebte in verschiedenen europäischen Städten und floh 1941 nach Brasilien. Er übersiedelte 1944 nach New York und kehrte 1948 nach Europa zurück, zunächst nach Wien, 1954 nach Basel, wo er 1990 starb.Moritz Wagner, geboren 1985, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern und kuratiert u.a. den Teilnachlass von Ulrich Becher. Seine Dissertation trägt den Titel "Babylon - Mallorca. Figurationen des Komischen im deutschsprachigen Exilroman" (2017)."



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