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E-Book, Deutsch, 511 Seiten
Beck Eine andere Welt
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-406-81001-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bücher, die in die Zukunft weisen
E-Book, Deutsch, 511 Seiten
ISBN: 978-3-406-81001-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
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Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jonathan Beck leitet seit 2015 bei C.H.Beck den Verlagsbereich "Literatur - Sachbuch - Wissenschaft".
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FRIEDRICH II.
Von Oliver Jungen
Plötzlich, in der Mitte des 13. Jahrhunderts, war sie da: die empirische Wissenschaft modernen Zuschnitts, wenn auch noch in einer Protoversion. Das maximal Unwahrscheinliche daran: Ihr Nestor war kein Geringerer als der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches persönlich. Was De arte venandi cum avibus, das Falkenbuch Kaiser Friedrichs II., auszeichnet, ist der rein experimentelle Wissenszugang: Erkenntnisinteresse, Beobachtungen, Versuche, Gegenproben, Ordnung der Daten, Didaktik. Schwindelerregend entsakralisiert geht es dabei zu; nirgends nimmt dieser Autor Bezug auf Gott, nichts deutet er christlich allegorisch aus. Auch den «Fürsten der Philosophen» lässt Friedrich nicht unbesehen gelten. Es heiße bei Aristoteles ja oftmals nur, «daß man es so gesagt hätte» (wie Carl Arnold Willemsen treffend übersetzt), doch bloßes Hörensagen sei keine «Ars».
«Gewißheit erlangt man nicht durch das Ohr.» Welch ein Donnersatz schon im Prolog zum ersten der sechs Bücher, der nur von jemandem kommen konnte, der es – durchaus auch despotisch – mit dem halben Weltkreis aufzunehmen imstande war. Und der weder Papst noch Hölle fürchtete. Denn dieser Satz allein fegte die gesamte theologische Autorität im Abendland beiseite, die sich seit Paulus allein auf das Gotteswort berief. Es ist wenig verwunderlich, dass Nietzsche den Stauferkaiser aus Apulien, das «Staunen der Welt», glühend verehrte. Allerdings war dessen eigenes Zeitalter noch nicht bereit für die volle Modernität. Ein halbes Jahrtausend musste Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen darauf warten, überhaupt wahrnehmbar rezipiert zu werden. Außen vor bleiben soll hier die komplizierte Überlieferung: Es gibt eine Sechs-Bücher-Familie, die auf einen 1248 vor Parma verloren gegangenen kaiserlichen Archetypen zurückgehen soll (was zumindest zwei renommierte Autoren des Verlags C.H.Beck anzweifeln), und die Zwei-Bücher-Linie, ausgehend von der – heute wertvollsten – Kopie, die Friedrichs Sohn Manfred von den ersten beiden Büchern anfertigen ließ. Erst vom 18. Jahrhundert an zog das Falkenbuch dann seine Kreise. Doch auch die bald stürmische Umarmung ging an einem wichtigen Aspekt vorbei. So ist Ernst Kantorowicz unbedingt zuzustimmen, wenn er «die absolute Sachlichkeit» hervorhebt, die alle «kosmisch-astralen Enzyklopädien» der Zeit überstrahle, aber er begreift das Buch ausschließlich als «Ornithologie». Das ist es natürlich auch, zumal in den beiden ersten Büchern, bevor sich der Autor genauer den Aspekten der Jagd zuwendet. Falknern gilt die Schrift bis heute als Lehrbuch auf Augenhöhe. Vielleicht handelt es sich überhaupt um den mittelalterlichen Kodex mit der längsten fachlichen Gültigkeit; dabei bis in jeden Nebensatz so glasklar verständlich, als sei es erst gestern geschrieben worden. Davon kann man sich auch anhand der fulminanten (und einzigen) deutschen Übersetzung des Gesamttexts nebst detaillierter Kommentierung durch Willemsen überzeugen, die ein eigenes Buchereignis darstellt. Nur Buch 1 und 2 (die Manfred-Handschrift) waren 1756 schon einmal übertragen worden.
Natürlich gab es Vorarbeiten, einerseits Traktate zur Falkenjagd aus dem arabischen Raum, allen voran den sogenannten Moamin, den Friedrich übersetzen ließ, andererseits die frühscholastische Wissenschaftssystematik in der Denkschule von Hugo von St. Viktor. Aber nie zuvor hatte ein Buch über Falknerei einen so breiten Fokus. Die arabischen Traktate konzentrierten sich auf Haltung und Heilung der Falken. Im christlichen Kontext lag seit den Kirchenvätern ein Verdikt auf der Jagd, auch wenn der Adel sie immer weiter betrieben hat. In den überschaubaren Falkentraktaten aus dem Westen findet sich daher ebenfalls vor allem Medizinisches; dafür gab es Bedarf, denn Falken waren äußerst wertvoll. Friedrich aber thematisiert die Jagd selbst in allen Einzelheiten. Zudem werden allein in der Manfred-Handschrift weit mehr als hundert Vogelarten – die meisten davon Beutevögel – zoologisch identifizierbar erfasst, nicht zuletzt durch mehr als neunhundert zeituntypisch realistische Abbildungen. Kurz, es handelt sich «um das kompetenteste Falkenbuch, das je verfasst worden ist» (Olaf B. Rader).
Und doch gibt es noch etwas, das über all diese Pionierleistungen in Sachen empirischer Naturerforschung und Systematisierung hinausweist, denn Friedrichs Buch steht nicht zuletzt für eine kopernikanische Wende im Verhältnis des Menschen zur Natur. Dass die Rechnung ganz offen ohne Gott gemacht wird, ist nur ein Aspekt dieser Wende. Der profane Blick hängt allerdings eng mit der zentralen Frage zusammen, welche Stellung dem Menschen in der Welt zukommt, wenn diese nicht als Schöpfung begriffen wird, sondern als Beschreibung der «Dinge, die sind, so wie sie sind». Und es zeigt sich, dass jener mythische Herrscher, der auf Diplomatie setzte, wo sie ihm nutzte, aber auf das Schwert, wo es schärfer war, zugleich als Vertreter einer neuen, selbst heute progressiv wirkenden Demut gelten darf.
Friedrichs gut erforschtes Werk zur Beizjagd auf diese Weise noch einmal neu in den Blick genommen zu haben, ist vor allem dem Berliner Mediävisten Michael Menzel zu verdanken. Für Friedrich, so das Ergebnis dieser Untersuchung, muss der menschliche Jäger von außen in den Naturablauf eindringen, denn zwischen Mensch und Vogelwelt gibt es eine unaufhebbare Distanz. Was die Tiere instinktiv wissen, muss der Mensch erst lernen. Das war ganz praktisch gemeint, schließlich steht am Beginn der Falkenjagd die eigenhändige Aufzucht der Jungvögel. Der Falkner, der ihnen die Eltern ersetzt, muss seine Raubtiere das Jagen lehren, und zwar auf Vogelart – mit dem einzigen Zusatz, den Arm des Falkners als Start und Ziel der Jagd zu akzeptieren. Haben die Falken die Faust einmal verlassen, jagen sie «sui iuris». Die Natur existiert für Friedrich also unabhängig vom Menschen. Sie braucht ihn nicht. Und er tut gut daran, nicht in sie einzugreifen. Lediglich im Nachvollzug kann er an ihr teilhaben, wenn er geschickt ist. Genau das lehre die im Falkenbuch grundgelegte «Naturkunst» (Menzel). Da ist eine neuartige Hierarchie: Das Vorbild gibt die Natur ab. Ihr gilt es zum Ebenbild zu werden. Hier ist auch der Bezug zu Hugo von St. Viktor, der ebenfalls die Naturnachahmung zum Kennzeichen der menschlichen Betätigungen macht. Der Clou bei Friedrich, den Menzel konzise herausgearbeitet hat, besteht darin, dass die Beiz nicht nur als edelste Jagdform gilt, weil sie teuer und dem Adel vorbehalten ist, sondern dass er umgekehrt argumentiert: Durch Teilhabe an diesen «operationes nature» wird der Falkner geistig erhoben. Erst die Kunst, mit Vögeln zu jagen, adelt ihn. Da ist man fast schon bei Jean-Jacques Rousseau. Als wertlos hingegen erscheint die bis dahin den Menschen so genehme Universallegitimation: der Gottesbefehl, sich die Erde untertan zu machen.
Was aber könnte aktueller und gebotener sein, als die Natur – aus der der Mensch herausgerechnet ist; dafür hat er zu viel angerichtet – als das Vorgängige, Perfekte und Maßstabsetzende anzusehen? Die teils qualvollen Praktiken der Falkenabrichtung und die naheliegende Analogie zum Wesen der Herrschaft (auch ein Kaiser richtet seine Untertanen ab) einmal beiseitegelassen, kann das Falkenbuch Friedrichs II. damit nach fast 800 Jahren immer noch als zukunftsweisendes Manifest gelesen werden. Auf den Flügeln dieser Antitheologie lässt sich einer Zukunft entgegenfliegen, in der die Menschheit wieder von der Natur zu lernen bereit ist; in der sie sich diese dienstbar macht, ohne sie zu (zer)stören. Ein Zeitalter der Demut aus Bewunderung für die Dinge, «wie sie sind». Der Blick bleibt dabei, anders als bei Benjamins «Engel der Geschichte», nach vorn gerichtet, ins Offene, nicht auf die sich hinter uns türmenden Katastrophen; aber es ist derselbe Luftstrom vom Paradiese her, der beide antreibt, auch wenn die einen ihn Sündenfall nennen und die anderen Sturm der Erkenntnis.
Fußnoten
1 Friedrich II., De arte venandi cum avibus, ca. 1248. Deutsch: Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen. Unter Mitarbeit von Dagmar Odenthal übertragen und herausgegeben von Carl Arnold Willemsen, Frankfurt am Main...