E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Beck / Saygin / Alef Berlin Noir
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95988-112-8
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-95988-112-8
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
»Wozu die deutsche Kriminalliteratur in der Lage ist, zeigt der fantastische Band ?Berlin Noir?. Besser kann man sich nicht durch Berlin führen lassen.« Thekla Dannenberg, Perlentaucher Ein spannendes literarisches Städteporträt und eine tiefschwarze Liebeserklärung an eine Stadt, die vor allem eines ist: keine Sekunde langweilig. 13 Kurzgeschichten, 13 Blickwinkel, 13 Stadtviertel - und 13 faszinierende Teile eines größeren Puzzles. Das Verbrechen zieht seine blutige Spur vom noblen Grunewald bis in den tiefsten Wedding, vom beschaulichen Altglienicke über das bunte Kreuzberg bis ins lebendige Friedrichshain, spürt den tödlichen Geheimnissen der Geschichte nach und setzt die Gegenwart als dunkel schimmerndes Kaleidoskop neu zusammen. Eine junge Frau aus gutbürgerlichem Zuhause endet in der Obdachlosenszene um den Bahnhof Zoo; eine Schießerei zwischen einem Ex-Bullen und einem Kleinganoven endet tödlich; die zarte Liebesgeschichte zwischen einer Boutiquebesitzerin und einem ehemaligen Kindersoldaten wird durch einen notwendigen Mord gestört - und wer weiß, was es mit der Leiche auf sich hat, die ein Barmann in der Kühltruhe einer Absturzkneipe findet ... »Berlin Noir« - so vielfältig wie die Stadt. Unberechenbar, überraschend, tragisch und komisch. Ein substanzieller Baustein der Berlin-Literatur. Aktuell und originell, wie Berlin selbst.
Thomas Wörtche, geboren 1954, Publizist, Literaturwissenschaftler, Kritiker, Herausgeber. Heute ist der Erfinder der Krimireihe metro (Unionsverlag) als Krimi-Herausgeber beim Suhrkamp Verlag tätig.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Dora
Von Zoë Beck
Bahnhof Zoo
Sieh sie dir an. Auch wenn es schwerfällt. Du willst sie nicht ansehen, weil sie stinkt und vor Dreck strotzt. Du glaubst zu wissen, was du sehen wirst, aber sieh sie dir trotzdem an. Warte nicht, bis die Frau von der Bahnhofsmission ihr aufhilft, sie stützt, damit sie nicht gleich wieder umfällt, und sie in die geschützten Räume schleppt, wo sie ihr die Kleidung vom Körper schneiden muss, wo sie sie wäscht und ihr etwas Neues zum Anziehen gibt. Es ist natürlich nichts Neues, sondern abgelegtes Zeug von Fremden, aber für sie ist es etwas Neues, sie wird es vielleicht zwei, drei Tage tragen, bis man ihr die Sachen wieder vom Körper schneidet, weil sie nicht mehr in der Lage ist, sich auszuziehen, weil die Sachen von Dreck und Siff und Blut und Sperma und Kotze so starr sind, dass man sie nur noch vom Körper schneiden und wegwerfen kann. Man kennt sie dort, man weiß, wie es läuft. Man ist froh, wenn sie kommt, manchmal wird sie von jemandem von der Bahnhofsmission gefunden und mitgenommen. Manchmal schreit sie dann und schlägt um sich, stundenlang, und man holt jemanden, der sie einweist, wenigstens für ein paar Tage, bis sie sich selbst entlässt oder einfach verschwindet. Man hofft hier, sie würde länger in der Klinik bleiben, so lange, bis sie ganz gesund ist, falls es so etwas gibt, ganz gesund. Seit einer, der in der Mission arbeitet, sie zufällig sah, nachdem sie ganze fünf Tage am Stück in der Klinik war, und dann allen erzählte, er habe sie erst gar nicht erkannt, weil sie so jung und schön ausgesehen hatte, wünschen sich das alle hier. Deshalb, sieh sie dir gut an. Irgendwo da, unter dem Dreck und dem Gestank, gibt es sie noch. Mit Anfang zwanzig hat sie ihre Tabletten genommen. Nicht immer, aber es gab diese stabilen Phasen. Es gab sogar ganze Monate am Stück, in denen nichts mit ihr passierte. Ich weiß noch, dass wir vor anderthalb Jahren wirklich dachten: Jetzt ist alles gut. Jetzt wird unser Leben wieder normal, und ihr Leben auch. Wir dachten: Sie nimmt noch eine Zeit lang die Tabletten, und dann ist das Thema aus der Welt. Diese Sehnsucht nach dem Normalen. Als wäre jemals irgendetwas normal gewesen. Vor anderthalb Jahren, als wir uns in dieser Zuversicht eingerichtet hatten, kam der Anruf von einem ihrer Freunde. Komm sofort her, sagte er, komm einfach sofort her. Dann war das Gespräch beendet. Ich hatte im Hintergrund Stimmen gehört, laut und wirr durcheinander. Campus eben, dachte ich. Cafeteria. Ich war gerade in der Bibliothek, ich hatte es nicht weit und stieg aufs Fahrrad. Als ich fünf Minuten später am Institut für Mathematik der FU in der Arnimallee ankam, spielte sich vor dem Gebäude eines der Horrorszenarien ab, die ich mir auf dem Weg dorthin versucht hatte, aus dem Kopf zu schlagen. Dora stand auf den Stufen, die zum Eingang hinaufführten. In jeder Hand eine Glasflasche, die sie wie eine Waffe auf ihre Kommilitonen richtete, die sich am Fuß der Treppe versammelt hatten. Dabei rief sie auf Englisch: I’ll kill you! You fuckin’ Nazis! Mir wurde schlecht, nicht weil ich Angst hatte, dass sie ihren Kommilitonen wirklich etwas antun würde, sondern weil ich sah, dass sie sich eingenässt hatte und es selbst nicht zu merken schien. Ich sah, dass ein Typ, der am Rand der kleinen Gruppe stand, Fotos mit seinem Handy machte. Als großer Bruder hat man Verantwortung und muss Entscheidungen treffen. Meine Entscheidung war: Erst dem Typen das Handy abnehmen, dann meine Schwester einsammeln. Der Typ wollte mir sein Telefon nicht ohne Weiteres überlassen. Es kam zu einer kurzen Rangelei, von der die anderen kaum etwas mitbekamen. Ich steckte das Gerät in die Hosentasche, packte meine Schwester am Arm und zog sie ins Institutsgebäude. Dort nahm ich ihr die Flaschen ab, stellte sie neben der Tür auf den Boden, führte sie zur Toilette und bat sie, sich ein bisschen zu waschen. Wenn man Englisch mit ihr sprach, funktionierte es ganz gut. Einer ihrer Kommilitonen legte seine Hand auf meinen Arm und reichte mir ihren Rucksack. Ich bedankte mich, suchte darin nach ihren Tabletten, fand nur das Rezept, ausgestellt vor einem Monat. Und fand zum Glück ihre Sportkleidung, die ich ihr in die Toilette reichte, sodass sie sich umziehen konnte. Sie schimpfte immer noch auf die Nazis, klang aber etwas ruhiger und wollte wenigstens niemanden mehr töten. Wir gingen zur nächsten Apotheke in Dahlem Dorf. Wir setzten uns in den Biergarten der Luise, ich gab ihr eine von ihren Tabletten und sagte, sie müsse sie nehmen, um sich gegen die Nazis zu schützen. Wie immer war sie erst misstrauisch, nahm sie aber schließlich doch. Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis die Stimmen in ihrem Kopf still waren, und ein paar Tage, bis sie stabil war. Wenn du sie ansiehst, denk daran, wie jung sie noch ist. Du wirst glauben, sie sei mindestens zwanzig Jahre älter. Das macht der Dreck in ihrem ausgemergelten Gesicht. Ihre hohlen Wangen. Die leeren Augen. Sie isst kaum, dafür trinkt sie, weil sie die Stimmen nicht mehr hören will, und manchmal, wenn sie irgendwie Geld aufgetrieben hat, kauft sie sich Drogen, egal welche. Alles ist ihr recht, solange es stärker ist als die Stimmen. Dora hörte die Stimmen zum ersten Mal in Südamerika. Jedenfalls glauben wir das. Wir waren nicht dabei, und sie hat uns nie viel darüber erzählt, aber der Freund, mit dem sie in den Semesterferien dorthin gereist war, glaubte es auch. Wir haben es uns so zusammengereimt: Irgendwo hat sie irgendwie die falsche Droge erwischt, sie hatte zu diesem Zeitpunkt so gut wie keine Erfahrung mit Rauschmitteln gemacht, und diese Droge muss in ihrem Gehirn irgendetwas ausgelöst haben. Die Ärzte, mit denen wir gesprochen haben, sagten, dass sie längst in einer Frühphase ihrer Erkrankung gesteckt haben musste und es sowieso dazu gekommen wäre. Nach ihrer Rückkehr aus Südamerika wirkte sie gehetzt. Sah sich ständig um, sprach leise, weigerte sich zu telefonieren. Sie räumte Radio und Fernseher aus ihrem Zimmer, schloss den Computer und das Handy weg. Verdunkelte das Fenster. Führte Selbstgespräche. Wir brachten sie zu den besten Ärzten und begleiteten sie zu den renommiertesten Therapeuten. Sie bekam Tabletten, die sie schluckte, bis ihr ein Therapeut sagte, sie müsse sie nicht nehmen, wenn sie sie nicht nehmen wolle. Sie hörte auf, sie zu nehmen, und fing drei Wochen später an, im Hinterhof Nazis zu suchen, die sie abknallen wollte. Wir brachten sie zu einem anderen Therapeuten und verklagten den, der ihr die Tabletten ausgeredet hatte. Es gab schlechte Phasen, aber auch gute. Sie konnte weiterstudieren, und immer seltener hörte sie die Stimmen. Sie benutzte sogar einen Laptop und freundete sich wieder mit dem Internet an. Früher hatte sie es so sehr geliebt, dieses Internet. Früher, das war vor Südamerika, und die Ärzte fragen immer wieder nach dieser Zeit, nach den ersten Anzeichen. Früher, da gab es nichts, was sie nicht fotografierte und sofort postete. Keinen Schritt machte sie, ohne die Welt darüber zu informieren, wo sie warum war, was sie aß und trank, warum sie lachte und wer mit ihr lachte. Ihr Instagram-Account hatte zu dieser Zeit fast zweitausend Follower. Dora war ein kleiner Star. Früher war sie laut, vorlaut, unser Bruder Bela nannte sie eine Rampensau. Hätte sie, wie er, eine musikalische Ader, sie wäre die geborene Operndiva. Er versteckte sich hinter seinem Kontrabass. Sie machte die Cafés auf dem Ku’damm unsicher, am liebsten aber war sie in der Lang Bar im Waldorf Astoria. Dort hielt sie Hof für diejenigen unter ihren Bewunderern, die sich diesen Ort leisten konnten. Oder die alles tun würden, um ein Selfie mit ihr posten zu können. Sie scheute sich nicht, die Promis, die dort auftauchten, anzusprechen, um dann ihrerseits Selfies mit ihnen zu machen. Mit der Gedächtniskirche im Hintergrund oder mit dem Zoo Palast. Im Sommer saß sie auf der Dachterrasse und fotografierte sich mit ihrer Gefolgschaft, im Hintergrund die beleuchteten Baustellen rund um den Bahnhof Zoo. Sie liebte es dort. Deshalb schläft sie häufig hier, unter der Eisenbahnbrücke, neben der Bäckerei. Wenn du dich umsiehst, wirst du hier kaum Frauen sehen. Die Frauen versuchen, nachts von der Straße wegzubleiben. Oder sie schauen nach Ecken, in denen sie nicht so leicht gefunden werden. Die meisten versuchen, irgendwo unterzukommen. Im Frauenhaus, im Obdachlosenheim, in Einrichtungen nur für Frauen. Manche gehen mit einem Mann nach Hause und bleiben bei ihm, solange sie ihn gerade noch ertragen können, sie lassen mit sich machen, was immer er will, damit sie ein Dach über dem Kopf haben. Bei den Frauen ist die Scham oft größer als bei den Männern. Die Scham, aber auch die Angst davor, auf der Straße zu schlafen. Weil sie öfter überfallen werden. Weil sie vergewaltigt werden. Ich habe mich erkundigt. Dora empfindet keine Scham mehr. Sie hat nichts mehr, was sie schützen oder verstecken will. Manchmal hat sie in solchen Einrichtungen übernachtet, aber wenn wir sie gesucht haben, war sie meistens hier, und wenn uns die Bahnhofsmission ihretwegen kontaktiert hat, wurde uns meistens gesagt, dass man sie direkt um die Ecke gefunden hatte. Man kannte sie, man kannte uns. Einmal war sie mehrere Wochen verschwunden, und niemand hier konnte uns sagen, wo sie war oder wann man sie zuletzt gesehen hatte. Wir fragten in allen Geschäften und Absturzkneipen nach ihr, zeigten sogar Passanten ihr Bild. Wir telefonierten die Krankenhäuser und sämtliche Notunterkünfte ab. Wir...