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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 65, 95 Seiten

Reihe: Film-Konzepte

Becker Christian Petzold

E-Book, Deutsch, Band 65, 95 Seiten

Reihe: Film-Konzepte

ISBN: 978-3-96707-644-8
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Es gebe die Maler, die Musiker und die Literaten unter den Filmemachern – er selbst sei natürlich ein Literat, sagte Christian Petzold einmal in einem Interview. Man erkennt einen typischen Petzold-Film an seiner Sachlichkeit. Es wird auf pompöse Effekte und kinematografische Spielereien verzichtet, stattdessen aber durch subtile Narration eine zweite Ebene eröffnet: die der emotionalen Abgründe, der unaufgearbeiteten Geschichte und Morde. Beispiele hierfür sind "Phoenix" (2014), "Transit" (2018) und die drei "Polizeiruf-110"-Filme (2015-2018). Die Liebe ist das Band, das unwahrscheinliche Wendungen stiftet, etwa in "Jerichow" (2008) und "Undine" (2020). Die Cinephilie Petzolds übersetzt sich in eine intellektuelle Reflexivität, die die Erwartungsspielräume des Publikums erweitert. Ganz fundamentale Themen wie das der Schuld werden so neu verhandelt, beispielsweise in "Wolfsburg" (2003). Petzold ist ein Filmemacher, der sensibel für Geschlechterrollen ist und der es vermag, Stereotype und Haltungen aufzubrechen, ohne zu provozieren. Die sechs Beiträge des Bandes widmen sich den bislang weniger erforschten Filmen und Themen, wie dem Einsatz der Musik, und folgen in exemplarischen Detailanalysen den Spuren der Filmgeschichte in seinen Arbeiten.
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Iakovos Steinhauer Die Hörbarkeit des Transzendenten in den Filmen Christian Petzolds
Nähert man sich der Frage nach der Bedeutung der Musik in den Filmen Christian Petzolds, so fällt ihr diskreter und durchdachter Einsatz in der Bilddramaturgie und -syntax auf und das Feingefühl, mit dem der Filmemacher in Kooperation mit dem in der Mehrzahl seiner Filme mitwirkenden Komponisten Stefan Will die Musik behandelt, bzw. wie er den musikalischen Sinn in den Dienst der filmischen Darstellung stellt. Ist der verstärkte Einsatz einer Musik, die ihre Quelle im Bild hat, die durch die Filmnarration motiviert oder erklärt wird, sicherlich ein deutlicher Hinweis darauf, dass Petzold die Funktion der Musik nicht auf ihre direkte Wirkung auf den Filmzuschauer bezweckt, sondern vielmehr ihre Bedeutung als Teil eines kinematografisch vermittelten, »realen« Lebens in den Vordergrund stellt, so wird seine Hauptintention im Hinblick auf die musikalische Gestaltung anschaulich: Die Musik soll dazu beitragen, die Komplexität des ästhetischen Phänomens »Film« kenntlich zu machen, dabei, bedingt durch ihre ungegenständliche Natur, die Virtualität des Filmraums, seine ambivalente, sowohl äußerlich als auch innerlich erlebte Struktur kenntlich bzw. auch emotional erfahrbar zu machen. Der filmische Raum
Die Ästhetik der Musik in den Filmen Petzolds zu analysieren, setzt eine Auseinandersetzung mit der spezifischen Weise voraus, wie sich der filmische Raum in seinen Filmen konstituiert. Anhand der eigenen Aussage des Filmemachers wird dabei deutlich, dass dieser Raum sich nicht wie im Theater im hic et nunc der Darstellung erschöpft, sondern Personen, Orte und Handlungen in einem Tiefenraum platziert, der einen über die konkrete Szene hinausgehenden, nicht unmittelbar überschaubaren, enigmatischen Gesamtzusammenhang »erahnen« lässt. »Und ich versuche immer (, sic!) den Raum sichtbar zu machen. Und zwar nicht als Totale. Oft stehen die Figuren vor unscharfen, nur erahnbaren Räumen. Dadurch wirken die Räume tief. Die Figuren sind also keine Theaterfiguren, die vor Kulissen stehen. Sie sind in akustischen und auch optischen Räumen und Tiefen, die wir nicht komplett lesen und begreifen können, die wir uns aber virtuell weiterspinnen. Mir kommt es also darauf an, den Menschen im Raum zu haben und nicht den Schauspieler.«1 Der sichtbare Raum der filmischen Repräsentation wird also durch einen virtuellen Raum ergänzt, der nicht nur als Off der Szene, sondern als erweiterter Handlungs- und Imaginationsraum wirksam wird. Dass nun die filmische Darstellung dieses virtuellen Filmraums sich keiner unkonventionellen Filmtechnik bedient, nicht mit »Nebel oder Unschärfen« auf das Unheimliche, den Traum, das Imaginäre hindeutet, sondern sie mit der Realität »vermischt«2, dabei nüchtern und exakt auf die Objekte und Figuren blickt, gehört zu den Hauptmerkmalen von Petzolds Filmästhetik. Man könnte sie mit einem Begriff Max Beckmanns als »transzendente Sachlichkeit«3 bezeichnen, in der die Spannung zwischen einem akribischen und realitätsnahen Blick auf die Menschen und die Natur und einer zugleich aufgerufenen inneren, metaphysischen Erschütterung spürbar wird. So schreibt etwa Karl Prümm: »Das Phantastische und das Reale – das sind die beiden Grundpole, zwischen denen sich die Filme von Christian Petzold bewegen. (…) Die genau abgetasteten Oberflächen, die Materialität der Dinge, die Konkretion der Bauten und der Räume, die mit dokumentarischem Gestus aufgezeichneten Alltäglichkeiten werden unterminiert durch die Figuren, die nicht nur im Realen verankert sind, sondern aus anderen Sphären kommen und anderen Welten zustreben. Grenzüberschreitungen und Unschärfen sind die entscheidenden Qualitäten von Christian Petzolds filmischer Poetik. Das Reale gewinnt phantastische, das Phantastische reale Konturen.«4 In ihrer Gestaltung des Visuellen und Akustischen sind Petzolds Filme geprägt von einem »unscharfen«, mehrdeutigen Duktus, in dem diese Pole zueinander durchlässig werden – etwa, wenn das faktisch Konkrete in der räumlichen Darstellung »vertieft« wird. Angestrebt wird keine klare Trennung von Vorder- und Hintergrund, von Gestalt und Kontext, sondern der fließende Übergang zwischen den Ebenen der Darstellung. Die Personen und Gegenstände verwandeln sich so in »Aggregatzustände«5, die sich einander anzuschmiegen und zu verändern scheinen. Sie werden zu Bestandteilen »hybrider Räume«, in denen sich »Vorstellung und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, virtuelle und reale Welt, Diesseits und Jenseits vermischen«.6 In Petzolds Filmen können sich die Gegenstände miteinander austauschen, kann die Natur des Waldes mit den Häusern der Stadt kommunizieren, kann sich die »Feuchtigkeit und Kälte der Natur«7 auf die Menschenlandschaft übertragen, und, umgekehrt, die menschlichen Gefühle die Umgebung »infizieren«, wie Petzold selbst beschreibt: »Die Figuren haben einen eigenen Raum. Dadurch, dass die ein Gefühl haben oder gerade einen Schrecken in sich spüren, Liebe oder Kälte, infizieren die ihre Umgebung. Und diese infizierte Umgebung muss ich mitfilmen können. Oder ahnen können. Ich muss mich in eine gewisse Position dazu begeben. (…) Aber das Haus ist irgendwie wie so ein virtuelles Haus im Kopf; wie von Kindern, die es nicht zeichnen könnten, die aber eine Vorstellung davon haben. Und diese Infantilität dieses Blickes auf das Haus, das hat auch ein bisschen etwas damit zu tun, wie ich mir Räume vorstelle. Die Gefühle und die Liebe der Menschen, der Hass oder die Rachsucht verändern die Räume.«8 Petzold macht keinen Hehl daraus, dass es in seinen Filmen Räume gibt, die als virtuelle Räume fungieren, Räume, die durch ihre Funktion a priori geprägt sind, ohne jegliches menschliches Zutun als Atmosphären ohne feste Struktur und Inhalt erlebt zu werden. Als »Nicht-Orte«9 bzw. als Orte, deren eigene Identität und Qualität nicht im Vordergrund des Wahrnehmungsinteresses steht, sind sie dazu da, Übergänge zu schaffen, Vorgänge zwischen festgelegten Orten und Situationen zu ermöglichen. Das Auto in DIE INNERE SICHERHEIT (2000), das Hotelzimmer in YELLA (2007), der Zug, die Straßen, die »Vermischungszone«10 Hafenstadt Marseille in TRANSIT (2018), der Stausee in UNDINE (2020) sind solche Orte, die jeweils auf ihre spezifische Weise vorübergehende, unvollkommene, zweckmäßige Übergangsräume erzeugen. Diese Räume verschaffen einen anderen Zugang zur Handlung, die dadurch von der Erwartung an Zukünftiges oder durch eine erinnerte Vergangenheit mitbestimmt wird. Als virtuelle Orte lassen sie das gegenwärtig Erlebte nicht als Moment eines zeitlichen Kontinuums wahrnehmen, sondern verweisen in jedem Augenblick auf etwas, das nicht mehr oder noch nicht ist. Die Musik und das Virtuelle
Dass der angedeutete, als unbestimmte Gesamtheit gezeigte unvollständige Raum eben kein statischer, bekannter, voll erschlossener Raum ist, nämlich keine Entität darstellt, die den Betrachter befriedigt, dadurch ihn eher passiv das Erlebte wahrnehmen und erkennen lässt, sondern ihn dazu animiert, diesen Raum »virtuell weiterzuspinnen«11, ist eine Eigenschaft des filmischen Raums bei Petzold, die direkt in die Musikproblematik seiner bzw. Stefan Wills Arbeit führt. Die für Petzold wichtige Spannung zwischen Offenheit und Detailgenauigkeit des Films bildet die Voraussetzung für den diskreten Einsatz musikalischer Klänge und Geräusche in seinen Filmen. Diese sind meistens als diegetische Musik oder Geräusch in das Visuelle eingearbeitet und dadurch unmittelbar mit dem Handlungsgeschehen, den Schauplätzen und den Personen verbunden; so entzieht sich die Tonsphäre der in der klassischen Filmmusik häufig dominanten Aufgabe, eine bestimmte emotionale Wirkung auf den Zuschauer auszuüben. Petzold will nicht, wie er in einer Bemerkung zu TOTER MANN (2001) klar stellte, »den »Rhythmus mit Musik aus dem Off vorgeben, sondern ihn aus der Szene selbst gewinnen«.12 Die Musik verfolgt vielmehr selbst eine Erzählstrategie: Dadurch, dass sie meistens aus einer musikalischen Idee, einem Thema, das mehrfach in identischer oder variierter Form wiederholt wird, besteht, ist sie dem Erzählprinzip von Petzolds Filmen ähnlich.13 Zwei musikalische Gestaltungsmittel haben eine zentrale Bedeutung bei der Filmmusikstrategie Petzolds. Zum einen ist es der »Song«, ein musikalisches Thema nämlich, dessen Bekanntheit sowohl von den Filmfiguren als auch vom Zuschauer vorauszusetzen ist. Wie das Abendlied von Hans Dieter Hüsch, das Georg in TRANSIT im reparierten Radio hört, ihn durch das Mitsingen in seine Vergangenheit versetzt, bildet der Song einen Referenzpunkt, einen fixen Orientierungspunkt für die Erzählung. Im Deleuze’schen Sinne fungiert der durch seine Wiederholung im kollektiven und auch persönlichen Gedächtnis verankerte Song als »Ritornell«, bildet ein Gefüge, das Erinnerung, Vertrautheit und Sicherheit vermittelt: »Ein Kind, das im Dunkeln Angst bekommt, beruhigt sich, indem es singt. Hat es sich verlaufen, versteckt es sich, so gut es geht, hinter dem Lied, oder versucht, sich recht und schlecht an seinem kleinen Lied zu orientieren. Dieses Lied ist so etwas wie der erste Ansatz für ein stabiles und ruhiges, für ein stabilisierendes und beruhigendes Zentrum mitten im Chaos«.14 So kann musikalisches Erzählen bei Petzold bereits dann...


Schweinitz, Jörg
Jörg Schweinitz ist emeritierter Professor für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Er ist Mitherausgeber der "Film-Konzepte", der Zeitschrift "Montage AV" sowie mit Margrit Tröhler der Reihe "Zürcher Filmstudien".

Becker, Andreas
Andreas Becker ist seit 2016 Visit. Associate Professor and der Keio-Universität Tokio. Zuvor leitete er u.a. das DFG-Projekt "Yasujiro Ozu und der westliche Film"

Liptay, Fabienne
Fabienne Liptay ist Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u. a. Aspekte der Bildlichkeit und Erzähltheorie des Films sowie die Wechselbeziehungen zwischen den visuellen Medien und Künsten.

Andreas Becker ist seit 2016 Visit. Associate Professor and der Keio-Universität Tokio. Zuvor leitete er u.a. das DFG-Projekt "Yasujiro Ozu und der westliche Film"


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