E-Book, Deutsch, Band 2, 542 Seiten
Reihe: Historische Romane | Starke Frauen, die ihren Weg gehen
Becker Die Schatten von New Orleans
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7517-0301-7
Verlag: beHEARTBEAT
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, Band 2, 542 Seiten
Reihe: Historische Romane | Starke Frauen, die ihren Weg gehen
ISBN: 978-3-7517-0301-7
Verlag: beHEARTBEAT
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Oliver Becker stammt aus dem Schwarzwald und lebt mit seiner Familie in Frankfurt am Main. Er schreibt Historische Romane und Kriminalromane. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählt die Trilogie um die "Krähentochter" und unter dem Pseudonym Leo Born die Thriller mit Kommissarin Mara Billinsky.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Das Rabennest
Die Zellentür wurde mit einem dumpfen Knall hinter Cynthia Crane zugeschlagen. Gleich darauf ertönte das Rasseln, mit dem sich der Schlüssel im Schloss drehte. Beide Geräusche hallten mit einer Endgültigkeit nach, die Cynthia eisig unter die Haut kroch. Sie spürte Blicke auf sich und wagte es kaum, geradeaus zu sehen. Die fremden Schemen auf den Pritschen nahm sie nur aus den Augenwinkeln wahr. Kein Wort ertönte, kein einziger Ton, und nie zuvor war Cynthia Lautlosigkeit derart bedrohlich erschienen. In der Zelle roch es nach Schweiß und dem feuchten, fauligen Stroh, aus dem die Matratzen bestanden. Es herrschte eine matte Dunkelheit, in der sich das einzige Fenster als graues Viereck abzeichnete. Unsicher bewegte sich Cynthia auf die kleine vergitterte Öffnung zu, hinter der sich der Himmel schwarz färbte. Sie stand da, die Nase knapp vor der schlierigen Scheibe, und spähte zwischen den eisernen Streben nach draußen. Das Gebäude, in dem sie sich befand, lag in Brooklyn; es war groß und wuchtig, das größte, das sie je betreten hatte. Die Stadt, die sich vor ihr ausbreitete, wirkte ganz nah – und dank der gewaltigen Mauer, die sie von ihr trennte, zugleich unerreichbar fern. In dem schwachen Licht bildeten die Häuser, Dächer und Kirchtürme ein bizarr verschwommenes Muster. Längst war der Name Rabennest zu einem geflügelten Wort geworden, mit dem man Kindern einschärfte, brav und folgsam zu sein, um nicht an diesem Ort zu landen. Man vergaß beinahe, dass er nicht nur als strenge Ermahnung diente, sondern tatsächlich existierte. Cynthia Crane jedenfalls hatte das vergessen – und jetzt fand sie sich verlassen von der Welt in dem berüchtigten Gefängnis wieder. Nach wie vor konnte sie nicht fassen, was heute geschehen war. Dieser Tag hätte doch einen ganz anderen Verlauf nehmen, hätte der aufregendste ihres Lebens werden sollen. In gewissem Sinne war er das ja auch geworden. Allerdings nicht wie gedacht. Ein Albtraum, alles war zu einem einzigen großen Albtraum geworden. Sie fühlte eine Gänsehaut unter dem harten Stoff, aus dem der graue sackartige Überwurf bestand, den sie trug. Alles war ihr abgenommen worden, sogar ihre Unterwäsche, und nie zuvor hatte sie sich so geschämt, sich so entwürdigt gefühlt wie in jenem Moment, als man einen Kübel kühles, seifiges Wassers über ihrem nackten Körper ausschüttete und ihr anschließend das kratzige Stück Stoff in die Hände drückte. Wie lange würde es dauern, bis sich dieses unglaubliche Missverständnis aufgeklärt hatte, bis sie endlich dieses schreckenerregende Gebäude würde verlassen können? Schrilles Gekicher ertönte, seitlich von ihr. Cynthia versuchte vergeblich, es zu überhören. Der Spott darin machte ihr bewusst, dass eine ganze Nacht im Rabennest vor ihr lag. Eine Nacht, die sich bereits unerträglich schwer auf ihre schmalen Schultern legte. Das Kichern wurde lauter, bösartiger. Auf drei der vier Pritschen, von denen jeweils zwei übereinander an den beiden seitlichen Wänden angebracht waren, lagen Frauen – die vierte war für Cynthia vorgesehen. Während sie sich auf ihre Schlafstelle zubewegte, fühlte sie weiterhin die spähenden fremden Augen, die gewiss besser an die bedrückende Finsternis gewöhnt waren als ihre. »Was für hübsches Haar«, schnatterte eine Stimme. »So lang und schwarz.« »Ja«, antwortete eine zweite und fügte betont hinzu: »Noch.« Lautes Gelächter setzte ein. »Und was für eine elegante, aufrechte Haltung.« »Ja. Noch.« Cynthia schob sich auf eine der beiden oberen Pritschen und rollte sich zusammen, die Beine an den Körper gepresst. Alles wirkte so erdrückend, der Gestank der Matratze, ihre Angst, ihre Ungewissheit. Von einem Moment auf den anderen hatte sich ein Abgrund vor ihr aufgetan, und jetzt blieb ihr nichts übrig, als in sein schwarzes Nichts hinabzustarren. Sie fühlte, wie Tränen in ihr aufstiegen, doch sie kämpfte gegen sie an. Sie versuchte sich ein wenig zu beruhigen und lauschte den Schreien der stets gegenwärtigen pechschwarzen Raben, denen das düstere Bauwerk seinen Spitznamen verdankte. Alles war so schnell gegangen. Eine Verkettung schrecklicher Ereignisse, die über sie hinweggepeitscht waren wie ein Wirbelsturm. Sie sah sich selbst, sah die Aufregung, die in ihrem Gesicht aufgeflammt war, als sie morgens mit dem Bewusstsein aufgestanden war, dass große Veränderungen auf sie warteten. Die Kammer, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, nahm im fahlen Sonnenlicht Konturen an. Es war ein enges Zimmer, im obersten Stockwerk, im hinteren Teil eines eleganten Bauwerks in der Columbus Avenue. Ein Bett, ein Schrank und eine Faltwand, deren abgewetzter Stoff Kommode, Spiegel und Waschschüssel verbarg. Es gab nur ein winziges Fenster, das zur Rückseite auf den weitläufigen, stets bestens gepflegten Garten wies. Seit Cynthia ein junges Mädchen gewesen war, arbeitete sie für die van Burens. Victor van Buren war ein allseits respektierter Mann, der bei etlichen geschäftlichen Unternehmungen mitmischte. Sogar während der Jahre nach dem Bürgerkrieg, der das Land blutend und ausgebrannt zurückgelassen hatte, war es ihm gelungen, sein beträchtliches Vermögen zu vergrößern. An jenem Morgen hatte sich Cynthia beim Waschen lange im Spiegel betrachtet, in ihrem Gesicht geforscht, ob darin irgendetwas verändert wäre. Doch bis auf die unübersehbare Anspannung war sie genau die Cynthia Crane, die sie kannte. Eine junge Frau, schlank und recht groß, mit gleichmäßigen Zügen und dunklen Augen. Das volle schwarze Haar ließ sich mit der weißen Diensthaube kaum bändigen. In ihrem einzigen Kleid und darüber einem Cape drehte sie eine zögerliche Pirouette vor dem Spiegel. Ihr Blick lag zweifelnd auf ihrer Gestalt, auf den abgetragenen Schuhen. Konnte sie es wagen, ausgerechnet diesen jungen Mann zu begleiten? Sich neben ihm sehen zu lassen, so zu tun, als gehörte sie zu ihm, als wäre sie kein einfaches Dienstmädchen? Ja, dieser junge Mann. David. Cynthia hatte versucht, ihre Bedenken beiseitezuschieben, indem sie den Stoff ihres Kleides glatt strich und sorgsam mit einer Bürste letzte Staubkörnchen von ihren Schuhen entfernte. Abermals der Blick in den Spiegel. Zweifel. Immer noch. Anschließend hatte sie einmal mehr die Reisetasche mit ihren wenigen Habseligkeiten überprüft, die sie am Vorabend zum ersten Mal in ihrem Leben gepackt hatte. Der heimliche Plan würde ihr Leben auf den Kopf stellen. Aber es war so schwer, vernünftig zu sein, wenn man verliebt war. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, da hatte sie schon immerzu nach David Ausschau gehalten, Victor van Burens Sohn. Die Gegensätze hätten nicht größer sein können. Der blonde, beliebte Sprössling einer der reichsten Familien der Stadt und die brave, unauffällige Hausangestellte. Als Kinder nahmen sie all diese Unterschiede nicht wahr. Heimlich trafen sie sich im Garten. Sie versteckten sich hinter Rosenhecken und Oleanderbüschen, entfernten sich lachend von der Rückseite des großen Hauses, um am anderen Ende des Gartens an dem schmalen Bachlauf zu sitzen, abgeschirmt von einigen Birken. Für gewöhnlich wurden die beiden dann doch von Tante Molly entdeckt. Cynthia nannte sie Tante, obwohl sie nicht miteinander verwandt waren. Molly war schon seit Ewigkeiten als Bedienstete für die van Burens tätig. Sie sah es nicht gern, wenn Cynthia sich in Davids Nähe aufhielt. Allein schon deshalb, weil es auch Davids Eltern alles andere als gern sahen. Doch trotz ihrer Ergebenheit den van Burens gegenüber brachte Molly es oft nicht übers Herz, die beiden zu trennen. Das Bild der spielenden Kinder blieb ein kleines Geheimnis, das die Gänge und Räume des Hauses durchwehte, behütet von den Angestellten, allen voran Tante Molly. Später, als Cynthia schon nicht mehr zur Schule ging, war David froh, wenn sie ihm bei seinen College-Arbeiten half. Er mochte ihre rasche Auffassungsgabe. Das, was sie verband, war nur ihnen beiden bewusst. Für alle Übrigen lebten sie zwar unter ein und demselben Dach, aber dennoch in zwei verschiedenen Welten. Aus dem Hintergrund und doch aus nächster Nähe erlebte Cynthia mit, wie David für seinen Platz in der Gesellschaft vorbereitet wurde, auf seine Rolle als Erbe Victor van Burens. Aus dem Kind wurde ein hübscher Knabe und schließlich ein gutaussehender junger Mann, dessen helle Locken inzwischen nicht mehr die Freundinnen seiner Mutter entzückten, sondern die heiratsfähigen Damen der wohlhabenden New Yorker Familien. Mit ansehen zu müssen, wie David sich für einen Ball oder einen Theaterbesuch fertigmachte, war schwer für Cynthia. »Sei nicht so töricht«, erklärte ihr Tante Molly unmissverständlich, »dich in den jungen Herrn zu verlieben. Vergeude dein Herz nicht an ihn, eines Tages wirst du es für einen anderen Mann brauchen. Für einen, der deinem Stand entspricht.« Klar und deutlich hörte Cynthia auch jetzt Tante Molly, während die Nacht vor dem Fenstergitter noch dunkler wurde. Von einer der anderen Pritschen drangen Schnarchlaute zu ihr, draußen krächzten noch immer die Raben. Die Einsamkeit schien Cynthia zu ersticken. Sie dachte doch wieder an David, an die Zeit, als seine Theaterbesuche häufiger und die Bewerberinnen um einen der begehrtesten Junggesellen der Stadt zahlreicher wurden. Sie umschwirrten ihn, erschienen zum Nachmittagstee. Sie plauderten, lachten, spazierten mit David von einem Gesellschaftszimmer hinaus in den Garten und wieder zurück, umhüllt von Parfümwolken, die noch Stunden später in der Luft des Hauses hingen. Zu dieser Zeit bat David Cynthia nicht mehr um Unterstützung bei...