Behrendt | Das Ideal einer inklusiven Arbeitswelt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 363 Seiten

Behrendt Das Ideal einer inklusiven Arbeitswelt

Teilhabegerechtigkeit im Zeitalter der Digitalisierung

E-Book, Deutsch, 363 Seiten

ISBN: 978-3-593-43972-3
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die gesellschaftliche Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger stellt eine zentrale Forderung sozialer Gerechtigkeit dar. Eine wichtige Dimension ist dabei, dass jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, seinen Lebensunterhalt eigenverantwortlich zu bestreiten. Doch das ist in Deutschland noch immer nicht verwirklicht. Im Gegenteil: Das Gefühl einer Spaltung unserer Gesellschaft ist einschlägig, wenn man auf die Ausgrenzung am Arbeitsmarkt blickt. Hauke Behrendt widmet sich in diesem Buch dem bisher vernachlässigten Gesichtspunkt der Digitalisierung hinsichtlich ihres Potenzials, Menschen mit Behinderungen eine gerechte und würdevolle Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen.
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Inhalt
Inhalt 5
Vorwort 7
1 Zielsetzung 12
Zur Methode 12
Thema, Problem und Fragestellung 16
Zwei ethische Analyseebenen 25
Aufbau und Argumentationsgang 39
2 Dem Argument auf der Spur 44
Was sind und was leisten Assistenzsysteme? 44
Assistenzsysteme für wen eigentlich? 50
Was ist gut an Assistenztechnologie? 53
3 Der Begriff der sozialen Inklusion 73
Ein dreidimensionaler Inklusionsbegriff 73
Die allgemeine Struktur des Inklusionsbegriffs 83
4 Inklusionskonzeptionen in der Kritik 97
Die systemtheoretische Inklusionskonzeption 97
Die handlungstheoretische Inklusionskonzeption 109
5 Auf dem Weg zu einem praxistheoretischen Inklusionsverständnis 128
Die grundlegende Beschaffenheit sozialer Praxis 128
Die normative Verfasstheit sozialer Praxis 147
6 Eine praxistheoretische Analyse sozialer Teilhabe 162
Das materielle Inklusionsverständnis der Praxistheorie 163
Die drei Dimensionen von Inklusion in der Praxistheorie 182
7 Ein Argument für den Einsatz von Assistenzsystemen am Arbeitsplatz 268
Der Stand des Arguments 268
Die sozialwissenschaftliche Prämisse: Exklusion von Menschen mit Behinderungen in der Arbeitswelt 271
Die sozialethische Prämisse: Vier Begründungsansätze für strukturerhaltende Inklusion in die Arbeitswelt 284
Die sozialpolitische Prämisse: Assistenzsysteme als "strukturerhaltende Inkludierer" 327
8 Schlussbetrachtung 333
Zusammenfassung und Ergebnis 333
Ausblick 338
Abbildungen 340
Literatur 341


Vorwort Wir erleben im Augenblick, wie rasante technologische Innovationen unsere Welt nachhaltig verändern. Vom Arbeitsplatz über den öffentlichen Raum bis ins Wohnzimmer - Künstliche Intelligenz hält in alle Lebensbereiche Einzug. Selbstfahrende Autos waren noch vor wenigen Jahren reine Spekulation. Heute muss sich ein Tech-Startup mit Sitz im Silicon Valley für den ersten tödlichen Unfall mit einem autonomen Fahrzeug verantworten. Vernetzte Endgeräte erfassen, was uns beschäftigt, wofür wir unser Geld ausgeben und womit wir unsere Zeit verbringen. Und smarte Umgebungen in den eigenen vier Wänden kennen unsere Lebensgewohnheiten bisweilen besser als wir selbst und strukturieren für uns den Alltag. Kurzum: Wir stehen an der historischen Schwelle zum digitalen Zeitalter - einer neuen Epoche der Digitalität, in deren Verlauf sich unsere gewohnten Lebensumstände radikal wandeln. Die disruptiven Veränderungen im Zuge der Digitalisierung betreffen dabei besonders die Arbeitswelt. Hier dominieren Befürchtungen, der Einsatz hochgradig vernetzter Maschinen könnte einen Großteil der Arbeitsplätze vernichten. In einer viel beachteten Studie der Oxford Martin School prognostizieren Carl Benedict Frey und Michael A. Osborne, dass sogar rund die Hälfte aller Arbeitsplätze in Gefahr ist, durch Automatisierungsprozesse überflüssig zu werden. Ganz oben auf der Liste der von Automatisierung bedrohten Berufe rangieren Telefonverkäufer und Büroangestellte, aber auch Piloten und Richter. Bereits 1995 warnte Jeremy Rifkin vor den Konsequenzen, die ein Ende der Arbeitsgesellschaft auslösen könnte: 'The end of work could spell a death sentence for civilization as we have come to know it.' Auch aktuelle Sachbuch-Bestseller mit markigen Titeln wie 'Surviving the Machine Age', 'Rise of Robots' oder 'Humans Need Not Apply' dokumentieren, dass hochentwickelte Gesellschaften moderne Technologie vor allem als Bedrohung der herkömmlichen Arbeitswelt wahrnehmen. Die Dystopie menschenleerer Fabrikhallen und Bürotürme, in der längst nicht nur Beschäftigte mit geringer Qualifikation um ihre Jobs fürchten müssen, bildet so den Fluchtpunkt zeitgenössischer Zukunftsvisionen in dieser Frühphase der Digitalisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Bei aller berechtigten Sorge um völlig neue Arbeits- und Produktionsmodelle übersehen wir allerdings vielfach, dass gerade der technologische Fortschritt im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion das Potenzial birgt, bisher nicht oder nur prekär Beschäftigte zu fördern und in Arbeit zu bringen. Waren die Maschinen des Industriezeitalters vor allem dafür da, menschliches Handeln zu vereinfachen und am besten sogar vollständig zu ersetzen, zielen digitale Technologien der neusten Generation immer stärker auf eine arbeitsteilige Interaktion zwischen Mensch und Maschine. So können technische Assistenzsysteme am Arbeitsplatz dabei helfen, dass Menschen, die andernfalls von beruflicher Exklusion betroffen wären, ihren Platz im Arbeitsleben finden. Assistenztechnologie ermöglicht damit eine Teilhabe an der Arbeitswelt, die ohne entsprechende Unterstützung verwehrt bliebe. Sprich: Moderne Technologie muss den menschlichen Faktor nicht zwangsläufig überflüssig machen. Sie kann umgekehrt auch dazu beitragen, das Ideal einer inklusiven Arbeitswelt, in der jeder Mensch ein gerechtes Auskommen findet, besser zu verwirklichen, als dies heute der Fall ist. Das vorliegende Buch widmet sich diesem bisher vernachlässigten Gesichtspunkt der Digitalisierung hinsichtlich ihres Potentials, Menschen mit Behinderungen eine gerechte und würdevolle Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Im Hintergrund steht dabei das Ziel, Schritte in Richtung einer inklusiveren Arbeitswelt anzustoßen, so dass jeder Mensch eigenverantwortlich ein gutes und gelungenes Leben führen kann. Dafür müssen sich alle Angehörigen der Gesellschaft als frei und gleich begreifen können, nicht als ausgegrenzt oder überflüssig. Es kommt somit entschieden darauf an, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, gesellschaftliche Teilhabesituationen so zu gestalten, dass sie sich als Beitrag zum individuellen Wohlergehen verstehen lassen. Die sozialen Lebensumstände müssen jedem Einzelnen ein würdevolles Leben ermöglichen. Der hier vollzogene Perspektivwechsel auf die Digitalisierung und eine mögliche Zukunft der Arbeit ist dringend erforderlich, weil die umfassende gesellschaftliche Teilhabe aller Bürger*innen eine zentrale Forderung sozialer Gerechtigkeit darstellt. Andere grundlos aus gesellschaftlichen Verhältnissen auszuschließen oder ihnen den Zugang zu sozialen Gütern vorzuenthalten, stellt moralisches Unrecht dar. Und so ist es überfällig, den zentralen Wert gesellschaftlicher Teilhabe gleichberechtigt neben den drei demokratischen Grundprinzipien der Freiheit, Gleichheit und Solidarität zu nennen. Eine inklusive Gesellschaft darf einzelne Personen oder Gruppen nicht marginalisieren, sondern muss jeden Menschen gleichwertig behandeln. In diesem Sinn steht Inklusion für das Ideal einer offenen, pluralistischen und moralisch integren Gesellschaft, in der jedem Mitglied die nötige Freiheit zur Verfügung steht, seinen individuellen Begabungen und Interessen entsprechend als Gleiche*r teilzuhaben. Dieses Projekt kann nur gelingen, wenn wir als Gesellschaft bereit sind, unsere Werte und Normen zu überdenken und die sozialen Rahmenbedingungen unseres Zusammenlebens gemeinsam so zu verändern, dass es auch den schwächsten Mitgliedern gelingt, sich selbstbestimmt in gesellschaftliche Prozesse einzubringen. Für Gerd Weimer setzt gelungene Inklusion so auch ein großangelegtes 'Umdenken voraus [...]. Dazu müssen in allererster Linie die Barrieren in den Köpfen der Menschen verschwinden.' Vertreter*innen aus Politik, Wissenschaft, Ökonomie und Zivilgesellschaft sind dazu aufgerufen, gemeinsam an diesem Prozess mitzuwirken. In einem solchen Dialog der Disziplinen und gesellschaftlichen Interessengruppen nimmt die Philosophie eine Schlüsselrolle ein. Zwar entwickeln Philosoph*innen weder Assistenztechnologien noch schaffen sie politische Rahmenbedingungen oder könnten den Diskurs über die Ziele des digitalen Wandels im Alleingang bestreiten; aber philosophisches Denken hat das Potenzial, die einzelnen Perspektiven auf produktive Weise zu integrieren und zu einem prototypischen Ganzen zusammenzusetzen. Ihre Reflexion hilft, wechselseitige Abhängigkeiten besser zu erkennen. Ganzheitliche Konzepte können auf dieser Grundlage öffentlich diskutiert und weiterentwickelt werden. Philosophie bildet damit so etwas wie die reflexive Schnittstelle der unterschiedlichen Fachrichtungen und gesellschaftlichen Gruppen. Frei nach Paul Klee könnte man auch sagen: Philosophie gibt nicht das Sichtbare wider, sondern Philosophie macht sichtbar. Dabei geht es nicht (zumindest nicht in erster Linie) darum, zwingend etwas besser zu wissen als andere. Vielmehr besteht der Wert philosophischer Reflexion häufig darin, es genauer zu wissen. In diesem Sinne werde ich im Folgenden systematisch erörtern, inwiefern Assistenzsysteme am Arbeitsplatz dazu beitragen, den zentralen Wert beruflicher Teilhabe zu verwirklichen und warum dies erstrebenswert ist. Meine Kernthese lautet, dass Teilhabe an der Arbeitswelt wichtig ist, um ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Und so stellt es ein gesellschaftliches Ideal dar, dass niemand dauerhaft vom Erwerbsleben ausgeschlossen bleibt. Die moralische Forderung, dass jeder gleichermaßen an der Arbeitswelt teilzuhaben soll, die sich aus diesem Ideal ergibt, verpflichtet den Staat auf eine konsequente Inklusionspolitik. Im Rahmen einer solchen Politik können technische Assistenzsysteme eine wichtige Rolle spielen. Ihr Einsatz kann dazu beitragen, berufliche Exklusion von Menschen mit Behinderungen zu überwinden und so das Ideal einer inklusiven Arbeitswelt zu verwirklichen. Mit dem vorliegenden Buch liefere ich somit eine präzise Erklärung für den ethisch begründeten Gebrauchswert von Assistenzsystemen am Arbeitsplatz und entwickele darüber hinaus eine sozialphilosophisch fundierte Theorie gesellschaftlicher Inklusion, die für eine breiter angelegte Sozialtheorie einen wichtigen Grundbegriff systematisch erschließt. Es bleibt zu hoffen, dass damit nicht nur eine theoretische Debatte befruchtet, sondern ebenfalls ein praktischer Fortschritt in Richtung einer inklusiveren Arbeitswelt angestoßen werden kann. Noch stehen wir am Anfang des neuen Mensch-Maschine-Zeitalters und so können wir dezidiert Einfluss darauf nehmen, wie sich der digitale Wandel vollzieht und wofür wir ihn einsetzen. Doch die Zukunftsvision einer digitalisierten Welt kommt allmählich in der Gegenwart an. Wir haben es in der Hand, welchen Weg die Digitalisierung einschlägt und ob es uns gelingt, mit den Herausforderungen der Zeit sinnvoll umzugehen. Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im Sommer 2017 an der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Stuttgart verteidigt habe. Mein Dank gebührt allen Personen, die mich während meiner Arbeit an diesem Projekt in irgendeiner Form unterstützt haben. Ganz besonders danken möchte ich meiner Doktormutter Catrin Misselhorn, ohne deren umfassende Hilfe und unablässige Unterstützung ich dieses Buch nicht hätte anfertigen können. Auch Tim Henning, der immer ein offenes Ohr für mich hatte, bin ich für seine Betreuung zu besonderem Dank verpflichtet. Meinen Kollegen und Projektpartnern aus dem Forschungsprojekt 'motionEAP', in dessen Rahmen meine Dissertation entstanden ist, danke ich für die gute Zusammenarbeit. Mein besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang auch dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), welches das Projekt von 2013 bis 2016 gefördert hat. Matthias Warkus hat mit seiner gründlichen Korrektur viele sprachliche und orthografische Schnitzer angezeigt, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Auch Isabell Trommer und Julia Flechtner vom Campus Verlag danke ich für ihre Hilfe bei der Fertigstellung des Buchmanuskripts für die Veröffentlichung. Daneben haben zahlreiche Freunde und Kollegen meine Arbeit über weite Strecken konstruktiv begleitet. Angelo D'Abundo, Markus Dressel, Franziska Felder, Markus Funk, Philipp Hübl, Wulf Loh, Sebastian Matysek, Christoph Michel, Tom Poljan?ek, Mog Stapelton, Jakob Steinbrenner, Tobias Störzinger sowie den Teilnehmer*innen des Forschungskolloquiums am Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie der Universität Stuttgart, des gap-Doktorandenworkshops an der Universität Bielefeld, des Workshops und der gleichnamigen Ringvorlesung 'Arbeit, Gerechtigkeit und Inklusion' an der Universität Stuttgart - allen sei an dieser Stelle für die vielen kritischen Stellungnahmen und Verbesserungsvorschläge zu dem vorgestellten Material herzlich gedankt. Meinen größten Dank möchte ich schließlich meiner Familie aussprechen, die mir in jeder Lebenslage den Rücken gestärkt hat - ohne Eure aufopferungsvolle Unterstützung wäre dieser Weg nicht gangbar gewesen. Widmen möchte ich dieses Buch dem Gedenken an meine unvergessenen Großeltern Adelheid und Paul, die Drauke leider nicht mehr erleben durften. Hauke Behrendt Berlin, im Juni 2018 1 Zielsetzung 'Flieg immer auf der mittleren Straße, Ikarus', riet er, 'damit nicht, wenn du zu tief gerätst, die Fittiche das Meerwasser streifen und, feucht und schwer, dich in die Wogen hinabziehen. Ebenso gefährlich aber ist es, wenn du zu hoch in die Luft steigst und dein Gefieder den Sonnenstrahlen zu nahe kommt. Es könnte Feuer fangen. Zwischen Wasser und Sonne halte dich, immer meinem Pfade folgend!' Dädalus und Ikarus Zur Methode Im Zentrum der hier entwickelten Überlegungen steht die Vergegenwärtigung des Ideals einer inklusiven Arbeitswelt, die ich auf dem Weg einer systematischen Erörterung der ethischen Implikationen von Assistenzsystemen am Arbeitsplatz durchführe. Der mit technischer Assistenz erhobene Anspruch, etwas zur Verwirklichung dieses Ideals beizutragen, wird im Rahmen der vorliegenden Studie dezidiert zum Thema gemacht und strukturiert auf seine Überzeugungskraft hin befragt. Meine Reflexion beginnt mit der Frage nach einem angemessenen Vorgehen für dieses Vorhaben. Sie steht daher nicht nur in systematischer Hinsicht am Anfang dieser Untersuchung. Denn bekanntlich lässt sich auf unterschiedlichsten Abstraktionseben philosophieren. So kann philosophische Kontemplation hochgradig abstrakt sein und kaum noch erkennbaren Bezug zu empirischen Phänomenen aufweisen - ein Blindflug über geschlossener Wolkendecke, wie es Niklas Luhmann einmal sinngemäß formulierte. Oder sie kann direkt an der Erfahrung ansetzen und sich - gewissermaßen im gedanklichen Tiefflug - unmittelbar am empirischen Material abarbeiten. Der vielleicht gewichtigste Einwand gegen das erste Extrem lautet, Philosophie dürfe nicht, um für andere relevant und anschlussfähig zu sein, aus dem bequemen Lehnstuhl heraus in der besinnlichen Abgeschiedenheit des sprichwörtlichen Elfenbeinturms praktiziert werden. Gegen den umgekehrten Fall empirisch informierten und experimentell arbeitenden Philosophierens spricht wiederum die Beobachtung, dass es sich dadurch kaum noch sinnvoll von einzelnen Erfahrungswissenschaften unterscheiden lässt, auf deren Fachgebiet (mit-)geforscht wird. Legt man dieses hier zur Veranschaulichung bewusst etwas überzeichnete (Zerr-)Bild zugrunde, muss das den Eindruck erwecken, philosophische Forschung sei nach heutigen Maßstäben wissenschaftlich wertlos, wenn sie entweder zu spekulativ, zu abgehoben, oder umgekehrt zu mimetisch, zu unselbstständig verfahre. Gutes Philosophieren gleiche im Gegensatz dazu - so lässt sich die Allegorie vom theoretisierenden Gedankenflug auf die Spitze treiben - Ikarus, der auf seiner Reise weder zu hoch zur Sonne aufsteigen noch zu tief zum Wasser herabsinken darf, um sein Ziel nicht auf tragische Weise zu verfehlen. Sprich: Worauf es heute philosophisch anzukommen scheint, ist eine Theoriearchitektur 'mittlerer Reichweite'. Diese Charakterisierung ist, wenn man sie so pauschal anlegt, unzutreffend. Im Gegenteil: Der Sache nach kann es angemessen sein, das eine philosophische Problem so und das andere so zu bearbeiten - mal dichter an der erfahrbaren Realität, mal distanzierter. In Anbetracht der überwältigenden Vielfalt philosophischer Fragestellungen kann es methodisch einen einzigen allgemeingültigen Königsweg zu ihrer Erforschung ebenso wenig geben wie eine klare Rangordnung der unterschiedlichen Forschungsansätze. Die methodologische Ermahnung der Ikarus-Analogie hat jedoch einen wahren Kern: Eine philosophische Untersuchung kann nämlich durchaus, wenn man sie auf ein konkretes Problem bezieht und an diesem misst, die Sache verfehlen, wenn es ihr nicht gelingt, eine adäquate Positionierung zu ihrem Objektbereich einzunehmen. Soviel stimmt also: Weder die grundsätzliche Verachtung alles Sinnlichen noch das direkte Gegenteil sind vielversprechende philosophische Haltungen. Jedoch greift auch die vermeintliche Alternative einer mittleren Ebene zu kurz. Es kommt vielmehr ganz auf den jeweiligen Forschungsgegenstand an. Man sollte der Ikarus-Analogie folglich eine etwas andere Pointe geben: Nicht, wie Ikarus, konstant auf der 'mittleren Straße' zwischen Sonne und Wasser zu bleiben, sondern, die landschaftlichen Voraussetzungen im Blick, einmal höher und einmal tiefer zu fliegen, macht die Kunst sachgerechten Philosophierens aus. Oder, weniger metaphorisch ausgedrückt: Eine philosophische Untersuchung sollte die eigene Perspektive auf ihren Gegenstand mit Bedacht wählen, und zwar so, dass die Herangehensweise der Sache dient und nicht umgekehrt. So verstanden ist die Ikarus-Analogie durchaus geeignet, eine selbstkritische Grundhaltung zur eigenen Theoriebildung wachzuhalten. Sie erinnert die Philosophin daran, dass die Plausibilität möglicher Lösungsvorschläge für ein philosophisches Problem zu großen Teilen von der richtigen theoretischen Einstellung ihm gengenüber abhängt. Dies alles ist an dieser Stelle deshalb erwähnenswert, weil eine angemessene Perspektive auf das hier verhandelte Thema zu finden bereits die erste Herausforderung der vorliegenden Studie markiert. Eine Erörterung der ethischen Implikationen von Assistenzsystemen am Arbeitsplatz, wie ich sie im Folgenden anstellen möchte, lässt sich nämlich nicht ohne Weiteres eindeutig einer bestimmten philosophischen Tradition oder der speziellen Arbeitsweise einer konkreten philosophischen Disziplin zurechnen. Auch eine einschlägige Fachdebatte, die einen argumentativen Rahmen vorzeichnen könnte, fehlt bislang. Diese Ausgangssituation erlaubt mir (und zwingt mich zugleich), eine größere Eigenständigkeit in der theoretischen Anlage der Arbeit an den Tag zu legen, als dies vermutlich möglich wäre, wenn ich mich auf thematisch ausgetreteneren Pfaden bewegte. Dabei bieten sich gleichwohl genügend Berührungspunkte zu hell ausgeleuchteten Positionen und bereits gut abgesicherten Theorien, deren Erkenntnisse für den Gang der hier verfolgten Argumentation hilfreiches Material beisteuern können. Zur Illustration einer ähnlichen Beobachtung hat Stefan Gosepath die Arbeit eines Philosophen beim Bau des eigenen Gedankengebäudes einmal mit der einer Architektin verglichen: 'Die Steine hat man sich aus den Werken der großen Philosophen besorgt, sie behauen und geschliffen. Die Statik und Grundregeln des Baus sind von alters her bekannt und gut studiert. Mit diesen Mitteln kann man unterschiedlich originelle und unterschiedlich gute [...] Häuser bauen. So ist jedes wirklich selbst geplante Haus auch kaum wie ein anderes.' Was dies betrifft, werde ich mich im Folgenden vornehmlich aus drei Schubladen des 'philosophischen Werkzeugkastens' bedienen, um meine Thesen systematisch zu erarbeiten und zu begründen. Ohne sich einer philosophischen Schule ausdrücklich zu verschreiben, fällt mein Projekt so in einen Themen- und Forschungsbereich, der sich wohl am besten an der Schnittstelle zwischen angewandter Technikphilosophie, analytischer Sozialphilosophie und Politischer Theorie sowie der normativen Ethik verorten lässt. Charakterisiert man den Unterschied zwischen systematischem und historischem Philosophieren so, dass sich letztgenanntes primär um die möglichst genaue Rekonstruktion von Positionen einzelner Autoren oder Strömungen der Philosophiegeschichte bemüht, wohingegen Erstgenanntes mit den Mitteln argumentativer Rede versucht, aufschlussreiche Antworten auf philosophische Sachfragen zu entwickeln, kann die vorliegende Untersuchung außerdem als ein Beitrag zur systematischen Philosophie betrachtet werden. Die Beschäftigung mit den Positionen anderer Autoren wird im Rahmen dieser Untersuchung nicht um ihrer selbst willen betrieben, sondern spielt nur insofern eine Rolle, als es der Schärfung des hier entwickelten Gedankengangs zuträglich ist. Indem mittels einer auf Klarheit und Genauigkeit zielenden Argumentation verschiedene Begründungen für und gegen einschlägige Sichtweisen geprüft und gegeneinander abgewogen werden, soll eine wohlerwogene Antwort auf die Frage gegeben werden, wie Assistenzsysteme am Arbeitsplatz aus ethischer Sicht richtig einzuschätzen sind. Das Ergebnis meiner Erörterung ist, dass ihr Einsatz unter bestimmten Bedingungen nicht nur moralisch erlaubt ist, sondern dass sich dieser darüber hinaus sogar ethisch befürworten lässt, weil dies dabei hilft, das Ideal einer Inklusiven Arbeitswelt zu verwirklichen. Meine Kernthese lautet also, dass der ethisch ausschlaggebender Wert von technischen Assistenzsystemen am Arbeitsplatz in dem Beitrag liegt, den sie zur beruflichen Inklusion von Menschen mit geistigen Behinderungen leisten können. In der Absicht, die theoretische Anlage der Untersuchung sachdienlich zu justieren, möchte ich nun zunächst Thema, Problem und Fragestellung der folgenden Ausführungen inhaltlich näher beschreiben und stärker eingrenzen. Aus der so offengelegten Forschungsperspektive lassen sich dann auch Fragen nach der bevorzugten Arbeitsweise und dem genauen Vorgehen aufklären. Thema, Problem und Fragestellung Die Digitalisierung bietet große Potenziale, die sozialen und ökonomischen Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zu erneuern. Wenn wir diese Potenziale richtig nutzen, kann der digitale Wandel eine neue Phase der Aufklärung und gesellschaftlichen Emanzipation einläuten. Doch trotz aller Euphorie über die neuen Möglichkeiten spüren viele im Zusammenhang mit der digitalen Transformation ein Unbehagen, weil die multipolaren Entwicklungen der Gegenwart sich scheinbar völlig unserem Einfluss entziehen. Dieser Eindruck ist allerdings falsch, denn Digitalisierungsschübe stoßen uns nicht einfach zu. Obwohl es schwierig ist, angesichts der komplexen Entwicklungsdynamik den Überblick zu behalten, können wir die Entwicklungsrichtung durch unser Handeln aktiv steuern und so Einfluss darauf nehmen, in welcher Weise sich der digitale Wandel vollzieht und wofür wir ihn einsetzen. Die Entwicklung und der mögliche flächendeckende Einsatz intelligenter Maschinen setzt verständlicherweise eine frühzeitige Untersuchung und gründliche moralische Bewertung der Auswirkungen voraus, die diese technischen Geräte haben können. Im konkreten Fall der vorliegenden Untersuchung besteht die Kernaufgabe darin, die ethischen Implikationen von Assistenzsystemen am Arbeitsplatz zu untersuchen. Der Ausdruck 'ethische Implikationen' bezeichnet dabei in erster Annährung all jene Gesichtspunkte, die für eine moralische Beurteilung relevant sind. Weitgehend unberücksichtigt bleiben also beispielsweise Überlegungen zum betriebswirtschaftlichen Nutzen von Assistenzsystemen, zu ihrem wissenschaftlichen Wert und so weiter. Die ethisch einschlägigen Gesichtspunkte lassen sich in positive und negative Aspekte unterteilen. Negative Aspekte stellen Gründe dar, die gegen einen Einsatz von Assistenzsystemen am Arbeitsplatz sprechen; positive Aspekte entsprechend Gründe für einen solchen. Die ermittelten Gründe gelten pro tanto. Das heißt, sie müssen gegeneinander abgewogen werden, um zu bestimmen, unter welchen Bedingungen ein Einsatz von Assistenzsystemen am Arbeitsplatz aus ethischer Sicht alles in allem befürwortet werden kann. Im Fall von Konflikten muss erwogen werden, wie die ethisch positiven Aspekte unter Vermeidung möglicher negativer Konsequenzen realisierbar sind. Und wo dies nicht möglich ist, gilt es, das Für und Wider vernünftig zu gewichten. Die übergeordnete erkenntnisleitende Fragestellung der folgenden Überlegungen lautet demnach: Welche ethisch relevanten Gründe sprechen für oder gegen einen Einsatz von Assistenzsystemen am Arbeitsplatz? Die Grundidee dahinter lässt sich auch so wiedergeben, dass geklärt werden soll, ob Assistenzsysteme am Arbeitsplatz aus ethischer Sicht gut sind. Auf eine griffige Formel gebracht geht es bei der vorliegenden Erörterung ethischer Implikationen von Assistenzsystemen am Arbeitsplatz also darum herauszuarbeiten, welchen spezifischen Wert diese Technologie besitzt und worin dieser Wert im Einzelnen fundiert ist. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht dabei die noch zu entfaltende Hauptthese dieser Untersuchung, wonach der Schlüssel für eine sinnvolle ethische Bewertung dieser Technologie in ihrer Beziehung zum Ideal einer inklusiven Arbeitswelt liegt. Ich werde dafür argumentieren, dass Assistenzsysteme am Arbeitsplatz dabei helfen können, dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ihren Platz im Arbeitsleben finden. Technische Assistenz eröffnet ihnen einen Zugang zur Arbeitswelt, die ihnen ansonsten verschlossen bliebe oder von der sie zumindest eklatant von Ausschluss bedroht wären. Folgt man meiner Argumentation, so sind Assistenzsysteme am Arbeitsplatz also deshalb ethisch gut, weil sie dazu beitragen, das Ideal einer inklusiven Arbeitswelt zu verwirklichen. Motiviert wird dieses Projekt durch das mittlerweile hohe technologische Niveau moderner Industriegesellschaften, das es erlaubt, Menschen, die aufgrund von kognitiven Beeinträchtigungen nicht (mehr) in der Lage sind, bestimmte Arbeitsschritte selbstständig durchzuführen, mithilfe von speziell dafür entwickelten technischen Assistenzsystemen direkt an ihrem Arbeitsplatz zu unterstützen. Indem der Fertigungsprozess sensorisch erfasst und die Arbeiterin während der einzelnen Montageschritte durch personalisiertes Feedback gezielt unterstützt wird, lässt sich die individuelle Leistungsfähigkeit erheblich verbessern - mit dem Ziel, so die Erwerbsfähigkeit der Betroffenen zu sichern. Aufgrund eines sich gegenwärtig ereignenden Strukturwandels innerhalb der industriellen Produktionslandschaft - der sogenannten 'vierten industriellen Revolution' oder 'Industrie 4.0' - sehen sich neben Menschen, die schon längere Zeit als 'voll erwerbsgemindert' eingestuft werden und daher vom allgemeinen (ersten) Arbeitsmarkt faktisch ausgeschlossen sind, auch immer größere Kreise bisher normal Beschäftigter von beruflichem Ausschluss bedroht. Die manuellen Arbeitsabläufe neuester Produktionsprozesse ändern sich ständig und verschärfen dabei die betrieblichen Ansprüche an die Anpassungsbereitschaft, Ausdauer und Konzentration ihrer Mitarbeiter erheblich. Aber nicht nur Erwartungen an die individuellen Fähigkeiten der Arbeitnehmer nehmen zu. Aufgrund der Vielfalt der in immer kleinerer Stückzahl herzustellenden Produkte werden den Beschäftigten auch immer anspruchsvollere Montagefertigkeiten abverlangt. Allerdings bringen nicht alle Menschen geeignete Voraussetzungen für dieses kompetitive Umfeld mit, um eigenständig auf die sich verändernden Bedingungen auf dem internen wie externen Arbeitsmarkt angemessen reagieren zu können. Ihnen droht daher der systematische Ausschluss aus der Arbeitswelt. Das Skandalöse dieser Situation wird greifbar, wenn man sich unter den Betroffenen umhört, wie es Andrea Stratmann im Rahmen ihrer Tätigkeit als Geschäftsführerin der Gemeinnützigen Werkstätten und Wohnstätten Sindelfingen regelmäßig tut. Die offenen Worte ihrer Klienten führen uns einige der Gründe vor Augen, warum Menschen mit Behinderungen keine Sonderrolle einnehmen, sondern wie alle anderen Menschen auch Arbeit wertschätzen, etwa um 'Geld zu verdienen, um sich etwas leisten zu können' oder 'dem Staat nicht auf der Tasche zu liegen'. Ihnen ist dabei durchaus bewusst, dass 'alle arbeiten gehen müssen' und sie sind stolz darauf, zu arbeiten, 'um etwas zu leisten' sowie 'um gebraucht zu werden von der Firma und den Kollegen'. Doch ist die gegenwärtige Entwicklung prekärer Beschäftigung auch aus umgekehrter Perspektive für Betriebe problematisch. Wie die 'Engpassanalyse 2013' des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie eindrücklich beschreibt, droht in den industriellen Berufsfeldern ein Mangel an Nachwuchs- und Fachpersonal, der dazu führt, dass Unternehmen ihren Bedarf in den jeweiligen Tätigkeitsfeldern nicht mehr adäquat decken können. Und so sind es nicht nur moralische, sondern auch wirtschaftliche Gesichtspunkte, die für eine bessere berufliche Qualifizierung von Menschen mit Behinderungen sprechen. Aus diesem Grund ist es für Betriebe wie für Betroffene attraktiv, die nötigen Bedingungen für (Weiter-)Beschäftigung im industriellen Umfeld mithilfe eigens dafür vorgesehener Assistenztechnologie (wieder )herzustellen und zu erhalten. Mehr noch: Teilhabegerechtigkeit für alle gesellschaftlichen Gruppen zu gewährleisten, stellt ein anerkanntes sozialpolitisches Ziel jedes demokratischen Gemeinwesens dar. Eine wichtige Dimension ist dabei die 'gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben', wie sie das deutsche Sozialgesetz in § 1 SGB IX ausdrücklich als zentrale sozialpolitische Forderung verankert hat. Dahinter steht die Überzeugung, dass in unserer heutigen Gesellschaft 'soziale Zugehörigkeit und Anerkennung [...] wesentlich über die Teilhabe am Arbeitsleben in der Leistungsrolle des Erwerbstätigen vermittelt werden'. Alle Bürgerinnen und Bürger sollten daher ungehinderten Zugang zu dieser zentralen Sphäre des Sozialen haben. Seit Inkrafttreten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) im Jahr 2009 besteht in Deutschland (sowie in 167 weiteren Vertragsstaaten) ein sogar rechtlich einklagbarer Anspruch auf 'inklusive Arbeitswelten'.


Hauke Behrendt ist Akademischer Rat am Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie an der Universität Stuttgart.


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