Emilio Gonzales hatte Todesangst. Der kleine Kellner aus Mexiko rannte um sein Leben. So schnell ihn seine kurzen Beine tragen konnten, jagte er die Delancey Street entlang. Sie waren hinter ihm her. Gonzales hatte besonders clever sein wollen. Und damit sein Todesurteil selbst unterschrieben. Er hätte wissen müssen, daß er ihnen nicht entkommen konnte.
Aber nun war es zu spät.
Der Mexikaner mit dem US-amerikanischen Paß rang nach Atem. Verzweifelt suchten seine Augen die Delancey Street und die Essex Street ab. Wo war hier in New York La Policia, wenn man sie mal brauchte? Gonzales hatte gehört, daß Bürgermeister Rudolph Giuliani dem Verbrechen den Krieg erklärt hatte. Doch seine Verfolger traten trotzdem so offen auf, als wären sie die Kings im Big Apple. Und vielleicht waren sie das auch…
Gonzales hatte Gerüchte über sie gehört. Böse Gerüchte. Aber er hatte ja geglaubt, sie austricksen zu können.
Er schlug einen Haken. Sprang nach rechts in die Ludlow Street. Wäre beinahe über einen zusammengebrochenen Junkie gestolpert. Die Lower Eastside war nicht die beste Gegend von New York. Aber hier wohnte er nun mal.
Plötzlich wurden vor ihm Scheinwerfer aufgeblendet. Ein großer Wagen überwand die Bordsteinkante. Schnitt Gonzales den Weg ab.
»Ay, caramba!« Der kleine Kellner wollte auf die Fahrbahn springen, um doch noch zu entkommen. Doch es war zu spät.
Ein großkalibriges Geschoß hämmerte in seinen Oberschenkel. Zerschlug den Knochen.
Vor Schmerzen schreiend ging Emilio Gonzales zu Boden. Seine Stirn knallte auf den Gehweg. Aber das war nichts im Vergleich zu der tobenden Qual in seinem Bein. Stöhnend hielt er sich mit beiden Händen seinen Oberschenkel.
An ein Entkommen war nun nicht mehr zu denken.
Wie durch einen Schleier sah er drei Männer auf sich zukommen. Autotüren klappten. Nun kesselten sie ihn von zwei Seiten aus ein.
Ihr Anführer war ein hochgewachsener Mann mit weißblonden kurzen Haaren. Er hielt eine Waffe in der Hand. Wenn sich Emilio Gonzales mit Revolvern ausgekannt hätte, dann hätte er in der großkalibrigen Bleispritze eine .357er Magnum erkannt.
Aber der kleine Kellner verstand nichts von Waffen. Und er würde auch nicht mehr lange genug leben, um etwas darüber zu lernen…
Gonzales traten vor Schmerz die Tränen in die Augen. Der Revolvermann mußte Rock Corey sein. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte man sich Horrorgeschichten über ihn zu. Er war für seine Brutalität gefürchtet. Jetzt verstand Gonzales, daß dies nicht nur leere Gerüchte waren.
Rock Corey grinste zynisch. Er steckte seine Waffe nicht weg, ließ aber den rechten Arm lässig hinunterhängen, so daß die Mündung auf den Boden zeigte.
»Aus dir wird nie ein richtiger Amerikaner, Gonzales.«
»Ich… ich werde zahlen, Señor Corey !« jammerte der kleine Kellner. »Ich habe gespart! Ich gebe Ihnen alles… bitte…«
Es war, als ob der Weißblonde nicht gehört hätte. »Richtige Amerikaner zahlen ihre Schulden. Und du? Du bist vor uns davongelaufen. Hast deine Raten nicht beglichen. Und dabei bist du doch auch ein richtiger Amerikaner. Jedenfalls fast.« Seine Stimme triefte vor Spott und Hohn. Seine Augen musterten den Schwerverletzten gnadenlos.
»Bitte, Señor Corey! Ich habe nicht viel verdient! Ich… ich bekomme nur den Mindestlohn. Ich wußte nicht, wie ich die Raten…«
»Das hättest du dir früher überlegen müssen«, knurrte der Revolverschütze. Er trug einen teuren Anzug, sah darin aus wie ein seriöser Geschäftsmann. »Du hättest ja in deinem Bohnenfresser-Drecksnest bleiben können.«
Ja, wäre ich nur daheim geblieben, dachte Emilio Gonzales.
Es war der letzte Gedanke seines Lebens.
Dann traf ihn die Kugel aus Coreys Waffe direkt zwischen die Augen. Sein Gehirn schien zu explodieren.
***
Sie hatten Chen in eine Ecke gedrängt. Die Angreifer waren zu dritt. Und sie schienen sich darauf zu freuen, den jungen Chinesen in Stücke zu hauen.
Bevor ihm die Männer auf die Pelle rückten, startete der drahtige Asiate noch einmal seinen Ausbruchsversuch.
Mit einer blitzschnellen Bewegung rammte er dem ersten Gegner seinen Fuß in die Magengrube. Gleichzeitig riß er beide Arme hoch, die Hände zu Fäusten geballt. Wie zwei Schmiedehämmer schossen sie vor und krachten gleichzeitig gegen das Kinn des zweiten Angreifers. Mit einer Drehung aus der Hüfte hatte sich Chen ihm zugewandt.
Doch der Dritte war auch noch da. Er fiel von hinten über den Chinesen her. Nahm ihn in einen Würgegriff.
Der Asiate befreite sich mit einem Doppeltritt gegen die Knie des Würgers. Der Mann hinter ihm fiel einfach um. Er war völlig überrascht worden. Die beiden anderen griffen mit Schlägen und Tritten erneut an.
Chen wandte die Kung-Fu-Technik der »Kranich-Form« an. Seine Finger fügten sich zusammen wie ein Vogelschnabel, als er sie gestreckt gegen besonders empfindliche Körperteile der Männer stieß.
Den ersten schickte er damit zu Boden. Doch der zweite ließ sich noch etwas Besonderes einfallen…
Ein Händeklatschen beendete den wilden Kampf.
Milo und ich hatten alles beobachtet. Im Normalfall sehen wir G-men nicht tatenlos zu, wenn jemand von drei kräftigen Kerlen verprügelt werden soll. Doch hier war alles anders. Denn der Fight zwischen dem jungen Chen und den anderen Männern war eine reguläre Trainingsrunde gewesen.
Wir befanden uns in der Kung-Fu-Schule »Seven Stars«. Im Herzen von Chinatown in New York City. Und der Mann, der den Kampf durch sein Händeklatschen abgebrochen hatte, war der Meister und Leiter dieser Schule.
Ein uralter, weiser Chinese. Er mußte weit über siebzig Jahre alt sein.
Chen und die anderen drei Kung-Fu-Kämpfer verbeugten sich vor ihm. Dabei preßten sie ihre rechte geballte Faust gegen die linke Handfläche.
Der Greis erwiderte diesen Gruß.
Im Hintergrund des weitläufigen Trainingsraums sahen wir andere Frauen und Männer bei ihrem Sport schwitzen. Einige bearbeiteten Sandsäcken, andere machten zu zweit Partnerübungen oder droschen auf seltsame drehbare Holzpuppen ein.
Der würdige Meister forderte uns mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen. Er führte uns in ein kleines Hinterzimmer. Eine Art Büro.
Eine blutjunge Chinesin servierte unaufgefordert Tee.
Mein Freund und Partner Milo Tucker und ich nahmen auf zwei wackligen Stühlen Platz, nachdem uns der Alte dazu aufgefordert hatte.
An der Wand hing ein Gemälde, das wohl Konfuzius darstellen sollte. Nach diesem wohl bekanntesten chinesischen Weisen ist in New York sogar ein Platz benannt. In Chinatown natürlich.
»Sie kommen wegen Annie, G-men«, sagte der Kung-Fu-Meister.
Ich nickte. Der Kampfsport-Lehrer war unsere letzte Hoffnung. Seine Schule war sozusagen die »zweite Heimat« von Annie Franceso gewesen.
Unsere junge FBI-Kollegin war seit einigen Tagen spurlos verschwunden. Niemand wußte, wo sie steckte. Weder ihre Eltern oder jüngeren Geschwister noch ihre Freunde und Kollegen.
Bei unserem letzten Fall waren die Nerven mit ihr durchgegangen. Wir hatten gegen die Yakuza gekämpft, die japanische Mafia. Und zumindest einen Teilsieg errungen. Den wir aber teuer hatten bezahlen müssen. Eine Woche war es nun her, daß wir den NYPD-Cop Louis Fernando zu Grabe getragen hatten. Er war Annie Francesos große Liebe gewesen. Vor ihren Augen war Fernando von dem verräterischen Police Of ficer Bob Duffy erschossen worden.[1]
»Annie ist verschwunden, Meister«, erklärte Milo. »Ihre Familie und ihre Freunde machen sich große Sorgen um sie. Wo kann sie sein?«
Der alte Chinese wiegte den Kopf. Es war, als würde er auf das Echo von Milos Worten lauschen. Nach einigen Minuten fragte er zurück: »Was genau ist geschehen?«
Und wir erzählten. Berichteten von dem Mord an Louis Fernando. Aber auch davon, wie Annie Franceso das flüchtende Yakuza-Girl Jane Chapman auf gehalten und dann halbtot geprügelt hatte.
Daraufhin hatte unser Chef Mr. McKee sie vom Dienst suspendieren müssen. Eine FBI-interne Untersuchung war angeordnet worden. Es sollte geklärt werden, ob die Agentin überzogen gehandelt hatte oder nicht.
Aber noch war die Kommission aus dem Hauptquartier in Washington nicht zusammengetreten.
Das war auch ganz gut so. Denn wenn Annie Franceso nicht vor dem Untersuchungsausschuß erschien, würde das nicht gerade ein gutes Licht auf sie werfen. Es könnte ihre Karriere beenden, um es ganz klar zu sagen.
Deshalb hatten Milo und ich uns vorgenommen, sie so schnell wie möglich zu finden.
Der alte Chinese schien tief in Gedanken versunken, nachdem er alles gehört hatte. Schließlich sah er mir direkt ins Gesicht.
»Ich würde Ihnen gerne helfen, Agent Trevellian. Aber ich...