Ben Jelloun | Verlassen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Ben Jelloun Verlassen

Roman
8001. Auflage 2008
ISBN: 978-3-8270-7725-7
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7725-7
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Tanger verlassen - das ist die Obsession in den Köpfen einer ganzen Generation. Bei schönem Wetter sieht man hinüber zur spanischen Küste. Auch Azel träumt sich hinüber in die »Festung Europa«. Nach einem Jurastudium hat er keine Aussicht auf einen Job. Er glaubt, einen sicheren Fluchtweg gefunden zu haben, doch die Hölle aus Armut, Korruption und Demütigung, die er in Marokko hinter sich lässt, ist nur das Spiegelbild der anderen Hölle, die ihn erwartet: Einsamkeit, Prostitution und der Verlust seiner Würde in der Emigration. »Der bedeutendste Schriftsteller des Maghreb.« Literaturen

Tahar Ben Jelloun, geboren 1944 in Fès (Marokko), lebt in Paris. Er gilt als bedeutendster Vertreter der französischsprachigen Literatur des Maghreb. 1987 wurde er mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, 2004 mit dem renommierten  International IMPAC Dublin Literary Award. Im Jahr 2011 wurde ihm der Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis verliehen. Seine Sachbücher »Papa, was ist ein Fremder?« (2000), »Papa, was ist der Islam?« (2001, Neuauflage 2013) und »Arabischer Frühling« (2011) waren Bestseller. Mit Cabu und Wolinski, die bei dem Attentat auf Charlie Hebdo ermordet wurden, verlor Ben Jelloun zwei Freunde.
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3
Azel und Al Afia

Zwischen Azel und Al Afia herrschte schon seit langem offener Krieg. Bereits lange vor Noureddines Tod hatte Azel sich entschieden, eines Nachts die Reise anzutreten, und er hatte den Schlepper bereits bezahlt. Doch in letzter Minute war die Überfahrt annulliert worden. Azel hatte sein Geld nie zurückbekommen. Er wusste, alleine konnte er gegen dieses Ungeheuer nichts ausrichten. Vor dem Mann hatten alle Angst. Und alle diejenigen, die von seiner Großherzigkeit profitierten, liebten oder vielmehr schützten ihn. Von Zeit zu Zeit, besonders nach dem Genuss einiger Glas Bier, ließ Azel sich gehen, beschimpfte und verhöhnte ihn. Al Afia tat so, als höre er nicht, bis zu dieser Nacht. Als Azel ihn bei seinem richtigen Namen nannte und ihn als Zamel bezeichnete, als passiven Homosexuellen. Das war die größte Schande! Als würde dieser mächtige, gutherzige Mann sich auf den Bauch legen und von hinten besteigen lassen! Das war zu viel, der Wicht hatte eine Grenze überschritten. Dafür musste er bestraft werden:

»Du Pseudogelehrter, hier, steck ein. Du hast Glück, dass wir es hier nicht mit den Kerlen haben, sonst hätten wir dich schon längst in den Arsch gefickt! Du besudelst dein Land, redest schlecht über Marokko. Warte nur, die Polizei wird dich in Säure auflösen.«

Azel hatte Jura studiert. Er hatte vom Staat ein Stipendium bekommen, weil er sein Abitur mit einer hervorragenden Note bestanden hatte. Seine Eltern hätten ihm das Studium nicht bezahlen können.

Er zählte auf eine Einstellung bei seinem Onkel, der in Larache eine Anwaltskanzlei betrieb. Doch nach einem komplizierten Fall hatte der Onkel seine Klienten verloren und die Kanzlei wurde geschlossen. In Wahrheit war es dessen Weigerung, es wie alle zu machen, die dem Onkel einen schlechten Ruf und den Verlust seiner Klienten einbrachte: »Geh nicht zu Maître El Ouali, er ist unbestechlich, mit ihm gibt es keine Arrangements und deshalb verliert er alle Prozesse!« Azel begriff, dass seine Zukunft unsicher war und er ohne spezielle Beziehungen keine Arbeit finden würde. Da war er bei weitem nicht der Einzige. Deshalb beteiligte er sich am Sit-in der arbeitslosen Akademiker vor dem Parlament in Rabat. Nach einem Monat, als sich nichts änderte, nahm er den Bus zurück nach Tanger und entschloss sich, das Land zu verlassen. Er stellte sich sogar einen Busunfall vor, bei dem er umkäme und so dem Schlamassel ein Ende bereiten könnte. Er sah sich als Toten, beweint von Mutter und Schwester, hörte, wie die Freunde ihn vermissten: ein Opfer der Arbeitslosigkeit, des verrotteten Systems, ein so kluger Junge, gut erzogen, feinsinnig, großherzig. Warum ist er auch in den verdammten Bus mit den abgefahrenen Reifen gestiegen, der Fahrer ein Diabetiker, der in einer Kurve ohnmächtig wurde … Der arme Azel hat nicht gelebt, er hat alles getan, um weiterzukommen. Wenn er es doch nur geschafft hätte, sich nach Spanien einzuschiffen, er wäre heute ein großer Rechtsanwalt oder Professor an der Universität!

Azel rieb sich die Augen, stand auf und fragte den Fahrer, ob er Diabetiker sei.

»Gott behüte! Allah sei Dank, ich bin kerngesund und mein Leben liegt in Gottes Hand. Warum fragst du?«

»Nur so. Ich habe in der Zeitung gelesen, einer von sieben Marokkanern sei Diabetiker …«

»Beruhige dich. Man soll nicht alles glauben, was die Zeitungen schreiben.«

Das Land verlassen. Es wurde zu einer Obsession, einer Art Wahn, der ihn Tag und Nacht beschäftigte. Wie sollte er es schaffen, wie der Demütigung entkommen? Weggehen, diese Erde verlassen, die ihre Kinder verstößt, diesem schönen Land den Rücken zukehren und eines Tages stolz und vielleicht reich zurückkommen, wegziehen, um seine Haut zu retten, selbst wenn man sie dabei zu Markte trug … Er dachte daran und verstand nicht, wie es so weit hatte kommen können. Die Obsession wurde bald zum Fluch. Er fühlte sich verfolgt, verdammt und zum Überleben verurteilt: Er ließ einen Tunnel hinter sich und landete in einer Sackgasse. Seine Energie, seine physische Kraft, sein gut proportionierter Körper bauten jeden Tag mehr ab. Manche seiner Leidensgenossen behandelten ihre Verzweiflung, indem sie sich der Religion hingaben und bald zu Pfeilern der Moschee wurden. Doch das hatte ihn nie gereizt. Dafür liebte er die Frauen und den Alkohol zu sehr. Man hatte ihn angesprochen und ihm sogar Arbeit und Reisen angeboten. Der Kontaktmann trug keinen Bart, sprach mit ihm in brüchigem Französisch über die Zukunft Marokkos, genau genommen eines Marokkos »im Schoße des Islam, eines Marokkos der Ehrsamkeit, Unbestechlichkeit und Gerechtigkeit«.

Der Mann hatte einen Tick, er zwinkerte nervös mit den Augen und biss sich dabei auf die Unterlippe. Azel unterdrückte ein Lachen und tat so, als höre er ihm zu. Er stellte ihn sich nackt durch eine Wüste laufend vor. Dieses Bild beherrschte ihn. Der Mann war lächerlich. Azel achtete nicht mehr auf seine Worte. Er hatte mit dieser Moral nichts am Hut, auch weil er sein Vergnügen zumeist in von der Religion Verbotenem suchte. Er lehnte das Angebot deutlich und entschieden ab, wohl in dem Wissen, dass sein Gesprächspartner ein Anwerber und Rattenfänger für zweifelhafte Machenschaften war. Er hätte nachgeben und ein wenig Geld verdienen können, doch Angst, eine Art Vorahnung, überfiel ihn. Ihm fiel die Geschichte eines Nachbarn ein, der zu einer militanten religiösen Gruppe gegangen und verschwunden war, ohne jemals wieder ein Lebenszeichen von sich zu geben. Das war zu der Zeit, als man nach Libyen und dann nach Afghanistan ging, um gegen den Atheismus der russischen Kommunisten zu kämpfen.

Sechs Monate später meldete sich der Anwerber wieder. Er lud ihn zum Essen ein, »um miteinander zu reden«. Azel konnte diesen Mann einfach nicht ernst nehmen. Doch trotz dessen Nervosität schien es ihm zu gelingen, »verirrte Schafe« zur Religion zu treiben. Azel war jedoch interessiert an der Methode des Mannes, an der Logik seines Geredes. Er versuchte auch herauszubekommen, wer hinter jener Bewegung steckte. Doch der Anwerber fiel nicht darauf herein. Er sah die Fragen kommen und beantwortete sie nicht ohne List. Er vertraute sich Azel an, als sei dieser ein alter Freund:

»Ich habe Literaturwissenschaften studiert, habe sogar eine Doktorarbeit an der Sorbonne vorgelegt. Nach meiner Rückkehr nach Marokko habe ich französische Literatur unterrichtet und wurde dann Inspektor. Ich fuhr durch das ganze Land und sah, was Leute wie du nicht sehen. Ich habe das eigentliche, das tiefe Marokko kennengelernt. Niemand hat mich einer Gehirnwäsche unterzogen, ich bin kein Verirrter, nein, ich weiß, was ich tue und was ich will. Die politischen Parteien haben jämmerlich versagt, sie haben nicht auf das gehört, was ihnen das Volk sagte. Sie liegen voll daneben. Besonders sauer bin ich auf die Sozialisten, die haben an die Wende geglaubt, sich auf das Spiel mit der Macht eingelassen und nichts getan, um die Dinge wirklich zu verändern. Der König hat sie benutzt und sie haben es zugelassen.«

Er hielt inne, sah Azel in die Augen, legte ihm die Hand auf die Schulter, biss sich auf die Unterlippe, diesmal ohne zu zwinkern, und fuhr fort:

»Keiner der führenden Politiker respektiert die Botschaft des Islam. Sie nutzen sie, aber wenden sie nicht an. Unser Projekt will nun etwas anderes bewirken. Wir wissen, was die Bevölkerung wünscht: in Würde zu leben.«

Er verstummte, schnäuzte sich laut, als wolle er seine Ticks verbergen. Da blickte Azel ihn an und sah ihn wieder splitternackt in einer Scheune, verfolgt von einem schwarzen Riesen. Er rannte und schrie um Hilfe. Der Riese holte ihn ein, verpasste ihm ein paar Ohrfeigen und lachte schallend.

Der Anwerber führte weiter seine abgedroschenen Thesen aus, während sich Azel in Gedanken flüchtete. Jetzt sah er sich auf der Terrasse eines großen Cafés auf der Plaza Mayor in Madrid sitzen. Die Sonne schien, die Leute lächelten, eine junge deutsche Touristin fragte ihn nach dem Weg, er lud sie auf ein Getränk ein … Plötzlich wurde die Stimme des Anwerbers lauter, drängender und holte ihn nach Tanger zurück:

»Es ist unzumutbar, dass ein Kranker von den staatlichen Krankenhäusern abgewiesen wird, weil sie keine Mittel haben. Deshalb arbeiten wir genau dort, wo der Staat seine Pflicht nicht tut. Unsere Solidarität gilt allen. Dieses Land muss gerettet werden: zu viele Kompromisse, zu viel Korruption, zu viel Unrecht und Ungleichheit. Ich behaupte nicht, alle Probleme lösen zu können, aber wir legen nicht die Hände in den Schoß und warten darauf, dass sich die Regierung endlich in den Dienst der Bürger stellt. Ich bin geprägt von der französischen Kultur, der Kultur von Recht und Gesetz, der Kultur von Gerechtigkeit und Respekt des anderen. Im Islam, in den Heiligen Schriften und auch in den Schriften der arabischen Hochkultur der Blütezeit finde ich Erleuchtetes, das in die gleiche Richtung weist. Ich möchte, dass du die Augen öffnest und deinem Leben einen Sinn gibst.«

Er wiederholte diesen letzten Satz mehrmals, er merkte wohl, dass Azel seiner Rede kaum folgte.

»Ich weiß, wie viele deiner Kameraden bist du besessen von dem Gedanken, wegzugehen, das Land zu verlassen. Es ist der scheinbar leichteste Weg und doch das Riskanteste überhaupt. Europa will uns nicht. Der Islam jagt ihnen Angst ein. Der Rassismus durchdringt alles. Als Auswanderer glaubst du dein Problem gelöst zu haben, doch falls du dort überhaupt je ankommen solltest, werden dir dein Land, seine Kultur und seine Religion fehlen. Wir sind gegen die Auswanderung, ob legal oder illegal, denn wir müssen hier und heute Lösungen für unsere...


Kayser, Christiane
Christiane Kayser, geboren 1954 in Esch/Alzette (Luxemburg) übersetzt aus dem Französischen, unter anderem Tahar Ben Jelloun, Pascal Bruckner, Tonino Benacquista Fouad Laroui und Boulem Sansal. Seit 1984 arbeitet sie regelmäßig für verschiedene NGOs in Zentral- und Westafrika.



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