E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Benecken / Reinhardt Inside Strafverteidigung
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7109-5133-6
Verlag: Benevento
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Advokaten des Bösen
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-7109-5133-6
Verlag: Benevento
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
VORWORT
»Darf ich den Herren etwas anbieten, einen Aperitif vielleicht. Oder ein Häppchen?« Wir hatten gerade einen Fuß ins Rathaus von Marl gesetzt, wo die Aftershowparty der Grimme-Preisverleihung lief, da hielt uns ein emsiger Kellner schon zwei Tabletts entgegen. »Holunderblüten-Quarkmousse mit Limetten-Crumble?«, sagte er etwas allzu mechanisch, »oder lieber Kalbsrückenröllchen mit Purple-Curry-Schmelze?« Es sollten die angenehmeren Fragen bleiben, die uns an diesem Abend gestellt wurden. Wir wählten zwei Drinks, griffen einmal auf dem süßen Tablett zu, einmal auf dem herzhaften und gesellten uns dann zu den Gästen, die in Grüppchen beieinanderstanden. Das Marler Rathaus liegt nur wenige Hundert Meter von unserer Kanzlei Benecken & Reinhardt entfernt, die Party sollte den gemütlichen Abschluss eines anstrengenden Tages bilden. Die Empfangshalle war etwas schummrig erleuchtet, im Hintergrund lief seichte Barmusik. Modische Akzente setzten nur die weiblichen Gäste, bei den Herren überwogen klassische Anzüge und Jacketts in Anthrazit und Schwarz. Man gab sich seriös. Wir, in unseren Tagesanzügen, schlenderten mitten hinein ins Geschehen und landeten schließlich bei einem kleinen Grüppchen, wo eine Dame in rotem Kostüm und Rüschenbluse das große Wort führte. »Was machen Sie denn so beruflich?«, erkundigte sie sich gerade und sah uns reihum prüfend an. Der Herr neben uns antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Ich bin gelernter Volljurist und arbeite als Senior Manager in der freien Wirtschaft.« Er wirkte stolz, als hätte er darauf gewartet, nach seinem Beruf gefragt zu werden. »Mein Hauptbereich ist Compliance«, fügte er mit bedeutungsvollem Nicken hinzu. Die Dame im Kostüm wirkte beeindruckt. Dann blickte sie fragend auf das mittelalte Paar gegenüber von uns. »Wir leiten eine orthopädisch-ärztliche Gemeinschaftspraxis«, sagte der Mann und strich sich zufrieden durch den akkurat gestutzten Vollbart. »Wir sind direkt an ein Rehazentrum angeschlossen.« Die Fragestellerin nickte wieder. »Ah«, machte sie. Endlich wandte sie sich an uns. »Und Sie, meine Herren?« Wir sahen einander kurz an. »Wir sind beide Strafverteidiger. Advokaten des Bösen, sozusagen.« Wir grinsten über unseren eigenen Scherz. Die anderen starrten uns bloß an. Als das Schweigen unangenehm wurde, setzte die Dame im roten Kostüm ein gequältes Lächeln auf, murmelte etwas wie »Ähm, ach so …«, drehte sich dann einfach um und verschwand in der Menge. Der Compliance-Jurist sah ihr wehmütig nach, erinnerte sich dann doch seiner Kinderstube und wandte sich an uns: »Tja, meine Herren Kollegen, so sagt man doch unter uns Juristen, nicht wahr? Also für mich wäre das überhaupt nichts. Diese ungepflegte, schäbige Klientel, die Sie da überwiegend haben.« Er rümpfte die Nase, als hielte ihm jemand einen stinkenden Lappen vors Gesicht. »Fürchterlich. Allein beim Gedanken an dieses Verbrecherpack bekomme ich Pickel.« Das Mediziner-Pärchen stand verloren daneben. »Also wir haben auch viele Patienten, wo der persönliche Kontakt nicht gerade angenehm ist«, sagte die Dame. »Die Nase leidet auch bei uns öfter mal.« Sie lachte künstlich. »Sicherlich hören Sie dafür viele spannende Geschichten und Hintergründe, aber …« Sie sah ihren Mann Hilfe suchend an, der für sie weitersprach. »Wir könnten das, was Sie da machen, mit unserem Gewissen nicht vereinbaren«, erklärte er mit strenger Miene. »Sie müssen ja Leute rauspauken, von denen Sie wissen, dass sie Dreck am Stecken haben.« Seine Augen wurden ganz klein, und mit seinem Mittelfinger stach er in unsere Richtung. »Dann finden Sie listig einen kleinen Formfehler, und ruckzuck ist der Schwerverbrecher draußen.« Wir öffneten beide gleichzeitig den Mund, um etwas zu entgegnen, doch der Herr redete weiter: »Fühlen Sie sich da nicht mitschuldig, wenn der Täter wieder zuschlägt?« Solche Fragen sind nichts Neues. Auch nicht die negative Haltung, die uns bisweilen entgegenschlägt. Wir kennen solche Reaktionen – aus Gesprächen, aus den Medien, von Kollegen aus anderen Bereichen des Rechts. Den Rest des Abends verbrachten wir zu zweit bei einem Glas Wein abseits vom Trubel damit, Erfahrungen auszutauschen – und daraus entstand schließlich die Idee für dieses Buch. Das Image des Strafverteidigers scheint überall ähnlich: Als listig und trickreich gilt er, als etwas verschmitzt – und stets auf der Seite des Schlechten. Ein abwechslungsreicher Beruf, aber mit einem Makel behaftet, den man als Otto Normal-Bürger am besten meidet. Mit unserem Buch möchten wir die Tätigkeiten des Strafverteidigers von mehreren Seiten beleuchten und Vorurteile gegen unseren Berufsstand aufbrechen. Wir decken Hintergründe auf, teilen Insiderwissen und setzen dabei auf Transparenz. In den Kapiteln flankieren echte, authentisch geschilderte Fälle aus unserer jahrelangen Praxis das eigentliche Thema. Spannend, faszinierend und lehrreich – so erleben wir selbst unseren Beruf, und das wollen wir auch vermitteln. In unsere Kanzlei kommen jährlich rund fünftausend neue Mandanten, in der Mehrheit sind sie Beschuldigte in einer Strafsache. Diese Menschen sind aber nicht so, wie sie sich etwa der Juristenkollege auf der Grimme-Preis-Party vorstellt. Verbrecher werden gerne als Monster gezeichnet, als besonders minderwertige oder respektlose Sorte Mensch. Aber Verbrecher sind keine eigene Spezies. Sie sehen nicht anders aus oder verhalten sich anders als »normale« und »rechtschaffene« Bürger. Es sind Menschen wie du und ich, die auf den ersten Blick nicht als Straftäter zu erkennen sind. Sie wirken genauso sympathisch oder unsympathisch wie irgendjemand, der uns im Alltag begegnet, auf der Straße, beim Einkaufen, wo auch immer. Natürlich gibt es gewisse Klischees, die bedient werden, wenn Mitglieder von arabischen Großfamilien, Hooligans, Zuhälter, Rocker oder andere Personen, die man per se einem bestimmten Milieu zuordnet, bei uns in der Kanzlei aufschlagen: Mal ist es die muskelbepackte Erscheinung mit grimmiger Miene, mal eine markante Tätowierung, mal eine mit einschlägigen Patches versehenen Kutte. Aber wer in unsere Kanzlei kommt, entstammt nicht prinzipiell der »Unterschicht«, um einmal diesen oft gebrauchten, entwertenden Begriff zu zitieren, es sind keinesfalls nur Leute mit Migrationshintergrund oder schweren Sozialisierungsbedingungen. Oft genug sind es Menschen, die mitten im Leben stehen, in Lohn und Brot, Menschen mit Partnern, Familie, Freunden. Und wie für jeden anderen auch gilt für unsere Mandanten zunächst die Unschuldsvermutung. Diese Unschuldsvermutung ist kein hohler Spruch, sie gehört zu den Grundsteinen des Rechtsstaats. Und in einem Strafverfahren ist dann zu klären, ob Beschuldigte tatsächlich schuldig sind oder nicht. Wir möchten mit diesem Buch nicht nur ein authentisches Bild des Strafverteidigers zeichnen. Wir wollen darüber hinaus darlegen, wie wichtig juristische Grundprinzipien wie die Unschuldsvermutung und die Herstellung von »Waffengleichheit« zwischen Anklage- und Verteidigungsseite in einem Strafverfahren sind. Wir sind schließlich der Überzeugung, dass Strafverteidigung kein gewissenloses Rauspauken von Verbrechern um jeden Preis ist, sondern eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren darstellt. Wir wollen zeigen, welche Bedeutung es für den Rechtsstaat hat, dass jemand für die Rechte eines Beschuldigten in den Ring zieht. Schließlich braucht die Person, um deren mögliche Strafe es geht und die in der Regel juristisch nicht bewandert ist, einen fairen Beistand. Maßnahmen und Tricks der Staatsanwaltschaft mit ihrem dahinterstehenden Polizeiapparat und einer gut gefüllten Staatskasse müssen von der Gegenseite überprüf- und anfechtbar sein. Außerdem gibt es auch immer wieder Richter, die lieber verurteilen als freisprechen und die eher be- als entlastende Aussagen glauben. Dieses Buch verschafft dem Leser einen Insiderblick in die Welt der Strafverteidigung, es dringt vor bis zum Kern dieser juristischen Arbeit. Wir verraten, wie wir mit unseren Mandanten agieren, wie wir Strategien entwickeln, um das bestmögliche Ergebnis zu erstreiten – und wie wir es mit unserem Gewissen vereinbaren, auch in schrecklichen Fällen die Schuldigen zu verteidigen. Auch wird es darum gehen, ob die Medien einen besonderen Einfluss auf die Strafjustiz oder gar auf das Ergebnis eines Strafverfahrens haben können. Die in diesem Buch vertretenen Auffassungen spiegeln unsere gemeinsame Linie in der Strafverteidigung wider. Ohne Frage mag es in einzelnen Fällen auch andere Meinungen geben. Das muss auch so sein: In unserem Feld gibt es keine per se richtige oder falsche Haltung. Vielmehr ist diese eine Frage der persönlichen Einstellung, der Empathie, der jeweiligen Abwägung im Einzelfall. Strafverteidiger zu sein ist möglicherweise der kreativste Beruf der Welt, für uns beide...