E-Book, Deutsch, 344 Seiten
Bennett Bloody Weekend. Neun Jugendliche. Drei Tage. Ein Opfer
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-401-80763-8
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 344 Seiten
ISBN: 978-3-401-80763-8
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
Kapitel 1 Ich glaube, ich bin eine Mörderin. Aber da ich nicht vorhatte zu töten, war es wohl eher Totschlag, genau genommen wäre ich dann also eine »Totschlägerin«, auch wenn es das Wort wahrscheinlich gar nicht gibt. Als ich mein Stipendium für die STAGS bekam, sagte meine alte Schulleiterin zu mir: »Du wirst die klügste Schülerin an dieser Schule sein, Greer MacDonald.« Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Immerhin bin ich so klug, dass ich weiß, dass Totschlägerin kein Wort ist. Bevor ich hier alle Sympathien einbüße, sollte ich klarstellen, dass ich nicht mit meinen eigenen Händen getötet habe. Wir waren mehrere. Ich habe dazu beigetragen, einen Tod zu verursachen, aber nicht allein. Ich bin eine Mörderin in dem Sinne, wie Fuchsjäger Mörder sind – sie alle sind verantwortlich für den Tod des Fuchses, auch wenn sie im Rudel jagen. Niemand wird je erfahren, welcher Hund letztendlich den Fuchs gerissen hat, aber alle Hunde und all die Reiter in ihren schicken roten Jacken tragen dazu bei. Jetzt habe ich mich verraten. Habt ihr es bemerkt? Diese Jacken – die, die piekfeinen Leute zur Fuchsjagd tragen – sind nicht einfach rot, sie sind scharlachrot oder »hunting pink«, wie der Fachausdruck heißt. Und die Hunde sind nicht einfach nur Hunde, sondern Jagdhunde. Jedes Mal wenn ich den Mund aufmache, verrate ich mich; Greer MacDonald, das Mädchen, das nicht dazugehört. Das liegt an meinem nordenglischen Akzent, wisst ihr? Ich wurde in Manchester geboren und bin dort aufgewachsen. Bis zu diesem Sommer habe ich die Bewley-Park-Gesamtschule besucht. An beiden Orten habe ich dazugehört. Als ich mein Stipendium für die STAGS bekam, gehörte ich nicht mehr dazu. Ich sollte euch ein wenig über STAGS erzählen, weil mir erst jetzt klar ist, wie viel die Schule mit dem Mord zu tun hat. »STAGS« steht für St. Aidan the Great School, benannt nach St. Aidan dem Großen, und ist buchstäblich die älteste Schule in England. Kein einziges Gebäude an der Bewley Park wurde vor 1980 gebaut. Der älteste Teil der STAGS, die Kapelle, wurde schon 683 errichtet und ist voll mit Fresken. Fresken. Bewley Park war voll mit Graffiti. STAGS wurde im siebten Jahrhundert von ebendiesem Herrn höchstpersönlich gegründet: St. Aidan dem Großen. Bevor die Kirche entschied, dass er groß war, war er nur ein einfacher alter Mönch, der im Norden Englands umherwanderte und jedem, der es hören wollte, vom Christentum erzählte. Wahrscheinlich wollte er dann irgendwann aufhören mit dem Wandern und gründete deshalb eine Schule, in der er stattdessen den Schülern alles über das Christentum erzählte. Man sollte annehmen, dass sie einen Heiligen aus ihm gemacht haben, weil er den Leuten dauernd vom Christentum erzählte, aber so läuft das offenbar nicht. Wer ein Heiliger werden will, muss ein Wunder vollbringen. Aidans Wunder bestand darin, dass er einen Hirsch bei einer Jagd vor dem tödlichen Schuss bewahrte, indem er ihn unsichtbar machte. Deshalb wurde der Hirsch zu Aidans Wappentier und das der Schule gleich mit. Und weil es so gut passte, wurde »STAGS« sogar zum Schulnamen, denn »stag« bedeutet Hirsch. Als ich den Brief bekam, in dem ich zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurde, war das Hirschgeweih oben auf dem Briefkopf das Erste, was mir auffiel: Es sah aus wie zwei gezackte schwarze Tränen auf Papier. Bei meinem Vorstellungsgespräch sah ich die St. Aidan zum ersten Mal. Es war an einem dieser sonnigen Tage mitten im Winter, an denen der Frost auf den Feldern glitzert und alles tiefe, lange Schatten wirft. Dad fuhr mich in seinem zehn Jahre alten Mini Cooper durch das Tor und die lange Auffahrt hinauf, die durch sattgrünes Gelände führte. Am Ende der Auffahrt stiegen wir aus und glotzten und glotzten einfach nur. Wir hatten auf unserer langen Fahrt von Yorkshire nach Northumberland eine ziemlich tolle Landschaft nach der anderen gesehen, aber das hier war das Beste von allem. Es war ein riesiges, schönes, mittelalterliches Herrenhaus mit einer Art Burggraben drum herum und einer kleinen Brücke, die zum Eingang führte. Es sah ganz und gar nicht aus wie das Hauptquartier eines verstörenden Kultes – was es tatsächlich aber ist. Der einzige Hinweis war vielleicht das Geweih über der großen Tür – wenn ich nach irgendwelchen Hinweisen gesucht hätte. »Another Country«, sagte ich mit zittriger Stimme. Dad nickte nicht und murmelte auch nicht: »Das kann man wohl sagen.« Er sagte: »If …« Mein Dad ist Tierfilmer und liebt Filme aller Art, nicht nur die Naturdokumentationen, die er hauptsächlich macht. Wir schauen uns jede Menge zusammen an, von unbekannten Filmen mit Untertiteln bis hin zu den bescheuertsten, brandneuen Blockbustern. Ich selbst bin sogar nach Greer Garson benannt, einem Filmstar aus den Tagen des Schwarz-Weiß-Films. Wenn Dad unterwegs ist oder Nachtaufnahmen macht, schaue ich mir allein Filme an, um die dreißig Jahre Vorsprung, die er hat, aufzuholen. Wir spielen immer dieses Spiel: Wenn wir etwas sehen, das uns an einen Film erinnert, sagen wir den Titel, und der andere muss einen anderen Film zum selben Thema nennen. Jetzt ging es um Filme, in denen Privatschulen vorkamen. »Und«, ergänzte er, »Betragen ungenügend.« »Oh là là«, meinte ich, »ein französischer Film. Jetzt wird mit harten Bandagen gekämpft.« Ich dachte scharf nach. »Harry Potter, die Filme eins bis acht«, sagte ich immer noch ein wenig zittrig. »Das macht acht Punkte.« Dad hörte offenbar meiner Stimme an, dass ich nervös war. Er kannte so viele Filme, dass er mich locker hätte schlagen können, aber er musste wohl beschlossen haben, dass dies nicht der richtige Tag dafür war. »Na schön«, sagte er und bedachte mich mit seinem schiefen Grinsen. »Du hast gewonnen.« Er blickte zu dem großen Eingang und dem Geweih über der Tür. »Lass es uns hinter uns bringen.« Und das taten wir. Ich ging zum Vorstellungsgespräch, ich machte den Test, ich wurde genommen. Und acht Monate später, zu Anfang des Herbstsemesters, ging ich als Schülerin der Oberstufe unter dem Geweih hindurch durch das Schultor. Schon bald sollte ich lernen, dass Geweihe an der STAGS eine große Sache waren – wie sollte es auch anders sein. An jeder Wand ragen Geweihe hervor. Wie gesagt, auch auf dem Schulwappen ist ein Hirsch abgebildet, darunter sind die Worte »Festina Lente« eingestickt (nein, ich wusste es auch nicht; es ist Lateinisch und bedeutet »Eile mit Weile«). Die Fresken in der Kapelle, die ich bereits erwähnt habe, zeigen Szenen der »wundersamen« Hirschjagd, als St. Aidan den Hirsch unsichtbar machte. Dann gibt es da noch ein sehr altes Buntglasfenster in der Kapelle, auf dem St. Aidan einem nervös aussehenden Hirsch den Finger vor das Gesicht hält, als würde er versuchen, ihn zum Schweigen zu bringen. Ich habe oft auf diese Fresken und das Fenster gestarrt, weil wir jeden Morgen in die Kapelle gehen müssen, was ziemlich langweilig ist. Abgesehen davon, dass es langweilig ist, ist es in der Kapelle auch noch eiskalt. Es ist die einzige Zeit, in der ich froh bin, die STAGS-Uniform zu tragen. Die Uniform besteht aus einem knielangen schwarzen Tudorgewand aus dickem Filz, das vorne mit goldfarbenen Knöpfen geschlossen wird. Um den Hals tragen wir ein weißes Beffchen, so eine »Klerikerkrawatte«, wie Pfarrer sie tragen, und um die Taille einen schmalen Hirschledergürtel, der auf bestimmte Weise gebunden wird. Unter dem Mantel tragen wir hellrote Strümpfe – in der Farbe von arteriellem Blut. Es ist ein eher dämliches Outfit, aber wenigstens hält es einen warm in Northumberland. Wie ihr euch vielleicht vorstellen könnt, geht es auf der STAGS ziemlich religiös zu. Mein Dad und ich sind überhaupt nicht religiös, aber das haben wir auf dem Bewerbungsformular irgendwie nicht erwähnt. Womöglich haben wir sogar ganz eindeutig den Eindruck vermittelt, dass wir Kirchgänger wären. Das war damals, als ich tatsächlich noch auf die Schule gehen wollte. Dad plante, in den kommenden zwei Jahren hauptsächlich im Ausland zu sein, um eine Naturdokumentation für die BBC zu drehen, und wenn ich nicht an die STAGS gekommen wäre, hätte ich bei meiner Tante Karen leben müssen, und glaubt mir, das wollte ich nicht. Meine Schulleiterin in Bewley dachte, ich hätte das Zeug dazu, um ein Stipendium für die STAGS zu bekommen, und wie es sich herausstellte, hatte sie recht. Außerdem habe ich zufälligerweise ein fotografisches Gedächtnis, was auch nicht schaden konnte. Ich kann euch gar nicht sagen, wie nützlich das für diese Aufnahmeprüfung gewesen war. Aber wenn ich gewusst hätte, was in diesem Herbsttrimester passieren würde, hätte ich nicht so einen auf Streber gemacht. Ich wäre ohne Widerworte zu meiner Tante Karen gegangen. Abgesehen von diesem ewigen Rumsitzen in der Kapelle gibt es noch jede Menge anderer Unterschiede zwischen der STAGS und einer normalen Schule. Zum einen nennen sie das Herbsttrimester »Michaeli«, das Frühlingstrimester »Hilarius« und das Sommertrimester »Dreifaltigkeit«. Zum anderen werden die Lehrer mit »Pater« angesprochen, nicht mit »Miss« oder »Sir«. Demnach war unser Klassenlehrer, Mr Whiteread, Pater Whiteread; und, was noch seltsamer war – die für unser Haus zuständige Lehrerin (Miss Petrie) wurde Pater Petrie genannt. Der Schulleiter, ein echt freundlicher Kerl, der aussah wie der Weihnachtsmann, wird Abt genannt, ich habe ihn beim Vorstellungsgespräch kennengelernt. Als wäre das noch nicht seltsam genug, tragen die Pater über ihren Anzügen ein merkwürdiges Gewand, das aussieht wie eine Mönchskutte, dazu ein verknotetes Seil um die Taille. Viele der Pater sind ehemalige Schüler und reden dauernd von der Zeit, in der sie...